EWR 20 (2021), Nr. 5 (September/Oktober)

Alexander Loh
Unterricht als Form der Kommunikation
Systemtheoretische Analysen der empirischen Operationalisierung unterrichtlicher Strukturdifferenzen
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020
(229 S.; ISBN 978-3-7815-2422-4; 39,90 EUR)
Unterricht als Form der Kommunikation Alexander Loh legt mit seiner 229 Seiten umfassenden, von Wolfgang Meseth und Matthias Proske betreuten Dissertation eine konzise systemtheoretische, qualitativ-rekonstruktiv empirisch konsolidierte ‚redescription‘ schulischen Unterrichts vor. Der selbst gesetzte Anspruch besteht darin, „die mikrosoziologischen Idiosynkrasien des Unterrichts zu erfassen [
]“ (5), d.h. ihn in seinen wesentlichen Eigenschaften als spezifische Form der SozialitĂ€t und PĂ€dagogizitĂ€t in actu zu beschreiben (9-10). Statt im strukturalistischen Gestus eines ‚prima-facie‘-Bescheidwissens wird mit den dekonstruktivistisch-kommunikationstheoretischen Instrumenten Niklas Luhmanns Systemtheorie das Unterrichtsgeschehen „kontingent gesetzt“ (5) und in Referenz auf Jochen Kade als „pĂ€dagogische Kommunikation“ (5) gerahmt. Wie in schulischen Praktiken ,Unterricht‘ immer wieder aufs Neue als soziales System (re)produziert wird, bleibt somit eine offene Frage und muss entsprechend radikal praxeologisiert, d.h. unter analytischer Ausklammerung planungs- und handlungstheoretischer PrĂ€missen perspektiviert werden. Denn „wie pĂ€dagogische Kommunikation die multimodalen Anforderungen des Unterrichtsgeschehens faktisch bewĂ€ltigt und damit zur Hervorbringung und Stabilisierung des Unterrichts beitrĂ€gt“ (5), ist nur mit den Mitteln einer theoretisch angeleiteten und theoriebildenden qualitativen Empirie zu beantworten. Dass keine in der Empirie wurzelnde Grundlagentheorie des Unterrichts vorliegt, markiert den Einsatz Lohs Arbeit (9-11), die sich einer „systemtheoretische[n] Empirisierung unterrichtstheoretischer Theoriebildung“ (12; s.a. 191) verpflichtet und hierdurch Unterricht als Kommunikationsform zu modellieren vermag. Der Anspruch einer „Ausdifferenzierung der Grundlagentheorie empirischer Unterrichtsforschung [
]“ (5) wurde – so viel sei vorgenommen – nicht nur in beeindruckender analytischer VollstĂ€ndigkeit, Trenn- und TiefenschĂ€rfe im Auflöse- und Rekombinationsvermögen eingelöst, sondern auch in der Darstellungsform ĂŒberzeugend anhand von 33 Unterrichtstranskripten entwickelt. Hierbei handelt es sich um Transkripte verschiedener Forscher*innen aus dem Archiv fĂŒr pĂ€dagogische Kasuistik (ApaeK) der Goethe-UniversitĂ€t Frankfurt am Main (zur BegrĂŒndung seines sekundĂ€ranalytischen Vorgehens s.a. 64). Die Leser*innen gewinnen so an am illustrativen Gehalt erhellend ausgewĂ€hlten Ankerbeispielen konkrete Anschauungen, welche persistierenden pĂ€dagogischen Bezugsprobleme jeweils hinter den theoretisch abstrakten Strukturdifferenzen verbĂŒrgt sind.

Die Arbeit gliedert sich in drei Teile (A, B und C). In Teil A „PrĂ€liminarien“ werden in fĂŒnf Einzelschritten einerseits der sozialtheoretische Forschungsstand zur soziologischen (Luhmann’schen) Systemtheorie und andererseits der gegenstandstheoretische Forschungsstand zur erziehungswissenschaftlichen Unterrichtsforschung vorgestellt und synthetisiert, indem die „Kommunikationsform ,Unterricht‘“ und der „Kommunikationstypus ,PĂ€dagogische Kommunikation‘“ theoretisiert werden. Teil B „Unterricht als Form der Kommunikation“ besteht aus der Erarbeitung von insgesamt zehn Leitunterscheidungen der Operationalisierung unterrichtlicher Strukturdifferenzen, welche das gravitative Zentrum in Lohs argumentativen Kosmos bilden. Im finalen Teil C „Schlussfolgerungen“ wird in zwei Schritten noch einerseits die Frage der „PĂ€dagogizitiĂ€t der Kommunikationsform ,Unterricht‘“ problematisiert und andererseits anstelle eines Fazits eine „Einordnung der erzielten Befunde“ vorgenommen.

Das HerzstĂŒck der Arbeit – jene Analytik der modi operandi der kommunikativen Verarbeitung fortwĂ€hrend wiederkehrender unterrichtlicher Bezugsprobleme, d.h. der „Strukturdifferenzen“ (5) – wird mittels der systemtheoretisch zentralen Figuren „Re-Entry“ und „Fremdreferenz“ fĂŒr eine anspruchsvolle Theorie und Empirie (allgemein-)erziehungswissenschaftlicher Unterrichtsforschung bearbeitet. Gleichwohl – Loh antizipiert diese Bedenken (siehe Kap. 8.1) – die Systemtheorie mit ihrem „kryptisch“ (211) anmutenden antihumanistischen Jargon sich der leichten VerstĂ€ndlichkeit versperrt und die Selbstbeschreibung pĂ€dagogischer Unterrichtssemantik herausfordert (207), dĂŒrfte sich auch und gerade deswegen fĂŒr professionelle Praktiker*innen ein Blick ins Buch lohnen. Insbesondere die erarbeitete und elaborierte dekalogische Typologie der Operationalisierung unterrichtlicher Strukturdifferenzen (Kap. 6) kann m.E. sehr wohl mit großem Gewinn didaktisch gelesen werden.

Die Relevanz der vorgelegten Arbeit fĂŒr die Unterrichtsforschung eingedenk einer als Allgemeine Didaktik verstandenen Allgemeinen PĂ€dagogik [1] kann kaum ĂŒberschĂ€tzt werden: eine reduktive Definition von Unterricht in Form einzeln notwendiger und zusammen hinreichender Bedingungen stellt ein nicht nur fĂŒr eine empirisch gehaltvolle Grundlagen- und Unterrichtstheorie (10-11) großes, bislang „im Kern unbeantwortet[es]“ (10) Desiderat dar. Auch fĂŒr die pĂ€dagogische Profession ist eine regulative Idee dessen, was denn bitte in seiner operativen Struktur Unterricht im Wesen „als solchen“ (10) ausmache, unverzichtbar. Nur so, nĂ€mlich begrĂŒndet aus „seiner Eigenart“ (11), lassen sich schließlich auch ex negativo Fehlformen respektive Idealformen von Unterricht in der Praxis auch als solche erkennen und vermeiden bzw. anstreben. Ob und in welcher eigenwilligen Weise die pĂ€dagogische Profession von einer wissenschaftlichen Fremdbeschreibung wie Lohs irritiert wird, bleibt freilich eine empirische offene Frage (211). Aber: Loh hat eine empirisch gehaltvolle Heuristik fĂŒr die Beobachtung alltĂ€glichen Unterrichts herausgearbeitet, die prĂ€zise eine differenzierte, komplexitĂ€tsangemessene Beschreibung dieses vielschichtigen PhĂ€nomens ermöglicht.

Lohs Werk konsolidiert aber nicht nur wesentliche Einsichten in die Form der SozialitĂ€t und PĂ€dagogizitĂ€t schulischen Unterrichts, sondern lĂ€dt darĂŒber hinaus auch zum eigenen kritischen Weiterdenken ein. Wie schon erwĂ€hnt, erarbeitet Loh im Zentrum seiner Dissertation zehn unterrichtliche Strukturdifferenzen, um deren Operationalisierung sich seine Analysen zentrieren. In der Sachdimension: (1) Bekanntheit, (2) Sachliche Bedeutsamkeit, (3) PrĂŒfungsrelevanz; in der Sozialdimension: (4) Rollenförmigkeit, (5) Disziplin, (6) Peer-Prestige, (7) Zuwendung; und in der Zeitdimension: (8) Anwesenheit, (9) Ergebnissicherung und (10) Pensum. Diese zehn „skizzierten Strukturdifferenzen [sind] einzeln jeweils notwendig, aber nur gemeinsam hinreichend [
], um Unterricht als Kommunikationsform zu bestimmen“ (193). Eine solche Definition fordert die Leser*innen unweigerlich auf, selbst in phĂ€nomenologischer Manier [2] zu wagen, die einzelnen Bedingungen daraufhin zu prĂŒfen, ob jede fĂŒr sich notwendig und diese zusammen hinreichend sind. Diese intellektuelle Übung verlangt nicht nur, sich selbst ĂŒber das eigene nun zu explizierende pĂ€dagogische VerstĂ€ndnis von Unterricht zu vergewissern, sondern ermöglicht auch ein formtheoretisch-differenzielles Experimentieren: Wenn Loh bspw. die Bedingung der PrĂŒfungsrelevanz als wesentlich markiert, so ließe sich rĂŒckfragen, ob er hier auch auf ein transhistorisches Proprium des PĂ€dagogischen abstellt, oder ob die Definition rein als kontextgebundene Beschreibung des soziokulturell heutigen deutschen Schulunterrichts zu verstehen ist. Mit anderen Worten: WĂ€re Unterricht denkbar, der zwar Lernerfolg rĂŒckmeldet, aber eben nicht prĂŒft im Sinne der AusĂŒbung einer gesellschaftlichen Selektionsfunktion und Allokation von Lebenschancen? [3] Nicht nur in schulkritischer, sondern auch allgemeinpĂ€dagogischer Interessiertheit scheint mir dies eine besonders spannende Frage zu sein, also „ob tatsĂ€chlich durchweg nach ,besser/schlechter‘ selegiert wird, sodass hier eine Allokationsfunktion angenommen werden könnte“ (199), welche Funktionen Noten ĂŒberhaupt erfĂŒllen (können) und inwiefern dem Wesen von Unterricht nach „die PrĂŒfungsrelevanz [
] zumindest zweitweise außer Kraft gesetzt werden [kann]“ (105).

Kann Unterricht also in seiner Eigenart auch grundlegend entkoppelt werden vom scharfen Schwert prĂŒfender exkludierender Selektion? – Angesichts obiger AusfĂŒhrungen „erscheint es vielmehr denkbar, dass das PĂ€dagogische des Unterrichts insbesondere darin an Gestalt gewinnt, dass es diese Selektionsforderung zurĂŒckstellt und vielmehr mit einem stark fachlichen Fokus schlichtweg nach richtig/falsch selegiert, ohne dass hiermit zugleich Benotungen und erziehungssystemexterne Kategorisierungen appliziert wĂŒrden. [
] Inwiefern sich diese hier nur andeutenden Überlegungen bestĂ€tigen lassen, wĂ€re im Rahmen weitergehender Untersuchungen zu prĂŒfen“ (199-200). Sollte sich der Verdacht theoretisch wie empirisch erhĂ€rten lassen, sind die daraus sich ergebenden Implikationen fĂŒr Unterrichts- und Schulkritik in ihrer fachlichen wie bildungspolitischen Relevanz wohl kaum zu ĂŒberschĂ€tzen.

[1] Prange, K.: Didaktik und Methodik. In: Kade, J. / Helsper, W. / LĂŒders, C. / Egloff, B. / Radtke F.-O. / Thole, W. (Hg.): PĂ€dagogisches Wissen. Erziehungswissenschaft in Grundbegriffen. Stuttgart: Kohlhammer 2011, 183-188.
[2] Prange, K.: Zeigen – Lernen – Erziehen. In: Kenklies, K. (Hg.): Klaus Prange. Zeigen - Lernen - Erziehen. Jena: Verl. IKS Garamond 2011, 29.
[3] Prange, K. & Strobel-Eisele, G.: Die Formen des pĂ€dagogischen Handelns. Eine EinfĂŒhrung. 2. Aufl. Stuttgart: Kohlhammer 2015 [2006], 85-104.
Florian Dobmeier (TĂŒbingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Florian Dobmeier: Rezension von: Loh, Alexander: Unterricht als Form der Kommunikation, Systemtheoretische Analysen der empirischen Operationalisierung unterrichtlicher Strukturdifferenzen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 5 (Veröffentlicht am 25.10.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152422.html