Alexander Wiernik untersucht in seiner qualitativ-rekonstruktiven Studie das implizite Unterrichts- und Professionsverständnis von Ausbildenden in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung. Die Arbeit wurde im Frühjahr 2020 im Rahmen der Promotion des Autors an der Otto-Friedrich-Universität Bamberg angenommen und erschien im selben Jahr im Julius Klinkhardt Verlag als Monografie.
Wiernik interessiert in seiner Arbeit das implizite Verständnis, das Seminarleitende in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung von gutem Unterricht haben, sowie das Verständnis ihrer eigenen Rolle im Professionalisierungsprozess angehender Lehrer:innen. Er geht davon aus, dass dieses für die Ausbildung angehender Lehrkräfte relevantes handlungsleitendes Wissen ist. Nach einer konzisen Darstellung des aktuellen Forschungsstands sowie der Forschungslücke und -frage (Kapitel 1), stellt Wiernik das methodische Setting und dessen methodologische Grundlagen dar, die sich im Bereich qualitativ-rekonstruktiver Forschungslogik verorten lassen (Kapitel 2). Die Darstellung und Diskussion der Ergebnisse (Kapitel 3 und 4) stellen – auch quantitativ – den Hauptteil der Arbeit dar, während ein Ausblick hilfreiche Anregungen für die Lehrer:innenbildung gibt (Kapitel 5).
In Kapitel 1 begründet Wiernik die grundsätzliche Relevanz seiner Arbeit in Bezug auf eine Forschungslücke, die er mit Literatur zu belegen versucht, die mehr als zehn Jahre alt ist (vgl. 12-13), was in diesem dynamisch wachsenden Gebiet durchaus überraschend erscheint. Dennoch fügt sich die Studie gut in die zunehmende Beforschung des Lehr:innenberufs ein, die von Cramer und Kolleg:innen [1] als „florierendes“ Gebiet bezeichnet wurde, und insbesondere auch in die Beforschung der zweiten Phase der Lehramtsausbildung, die bisher im Unterschied zu den anderen Phasen wenig beforscht wurde [2]. Dies zeigt sich auch in der Skizze des Forschungsstandes zu den Ausbildenden in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung, wo sich teils auch jüngere Werke (bis 2015) finden. Neben dem Forschungsstand und der Forschungslücke gibt Wiernik im ersten Teil auch einen Überblick über Konzepte pädagogischer Professionalität. Diese werden in aller Kürze und Prägnanz skizziert, auf Kritik an den jeweiligen Ansätzen wird zwar verwiesen, ohne diese aber auch explizit inhaltlich aufzuarbeiten. Es bleibt damit bei einer Aneinanderreihung diverser Ansätze, deren Auswahl kaum begründet wird.
Die qualitativ-rekonstruktive Herangehensweise an das Thema wird in Kapitel 2 beschrieben. Wiernik erhob mittels leitfadengestützter, narrativ fundierter Expert:inneninterviews mit insgesamt zwölf Seminarlehrkräften Daten, die in weiterer Folge mithilfe der dokumentarischen Methode ausgewertet wurden. Dabei geht es Wiernik nicht darum, zu erforschen, was die Seminarleitenden unter gutem Unterricht verstehen, sondern vielmehr darum, „wie sie in ihren Erzählungen guten Unterricht beschreiben“ (36). Der Fokus liegt auf dem impliziten, atheoretischen Wissen, also jenen Wissensbeständen, die den Teilnehmenden der Studie nicht explizit zugänglich sind, von denen aber davon ausgegangen werden kann, dass sie das Denken und Handeln der Seminarleitenden beeinflussen. Sie werden als „habitualisierte, handlungsleitende Orientierungsrahmen der Seminarlehrkräfte“ (43) relevant und stehen im Mittelpunkt der Arbeit.
In Kapitel 3.2 stellt Wiernik die Ergebnisse der sinngenetischen Typenbildung dar, die er in die Themen „Lernen im Unterricht“ und „Lernen für den Unterricht“ kategorisiert. Im Bereich „Lernen im Unterricht“ unterscheidet Wiernik zwei Typen, nämlich jene Ausbildende, die Lernen vor allem an sichtbaren Formen des Unterrichts (Sichtstrukturen), also der Aktivität von Schüler:innen und dem Einsatz von Methoden festmachen. Für sie ist die methodische und fachdidaktische Kompetenz ebenso wichtig wie die Lehrer:innenpersönlichkeit und ihr Unterhaltungstalent. Auf der anderen Seite stehen jene Ausbildende, denen vor allem die kognitiven Lernzuwächse der Schüler:innen relevant erscheinen. Damit geht die Notwendigkeit einher, dass die Lehrperson fachlich einwandfrei ausgebildet ist, eingesetzte Methoden sind dem Erreichen der Lernziele untergeordnet und das fachliche Thema soll die Mitarbeit der Schüler:innen herausfordern, nicht die Gestaltung des Unterrichts. Im Bereich „Lernen für den Unterricht“ unterscheidet Wiernik ebenfalls zwei Typen: Jene Ausbildende, die eine grundsätzliche Professionalisierung angehender Leher:innen für möglich und notwendig erachten, und jene Ausbildende, die eher dem Typus eines „geborenen Lehrers“ anhängen, wobei die Persönlichkeitsmerkmale und die Fähigkeit der angehenden Lehrer:innen zur Selbstreflexion als tendenziell stabil und unveränderbar wahrgenommen werden.
In Kapitel 3.3 überführt Wiernik die von ihm in der sinngenetischen Typenbildung rekonstruierten Typen in eine Systematik, die Zusammenhänge zwischen den beiden Kategorien zu Tage fördern soll. Daraus ergeben sich für ihn drei Typen von Seminarleitenden: Typ A: Der persönlichkeitsparadigmatische good-teaching-Typ, Typ B: Der eingeschränkt professionalisierende effective-teaching-Typ und Typ C: Der professionalisierende quality-teaching-Typ.
In Kapitel 4 überführt Wiernik seine empirischen Rekonstruktionen in theoretische Überlegungen. Die Seminarsituation müsse als „erwachsenbildnerische teleonome Bildungssituation“ (139) gestaltet werden, die dem herausfordernden Unterfangen gerecht werden muss, Bildung im Rahmen einer Ausbildung zu ermöglichen. Im Hinblick auf die Sichtweise von Typ A, Professionalisierung von angehenden Lehrer:innen sei nicht möglich, konstatiert Wiernik, dass diese mittlerweile als überholt betrachtet würde und problematisch sei. Die Bereitschaft zur Selbstreflexion spiele in diesem Zusammenhang eine wesentliche Rolle. Außerdem bedürfe es eines positiven Umgangs mit Kontingenz abseits eines Dogmatismus, um den komplexen Anforderungen pädagogischen Handelns gerecht werden und mehrere Geltungsansprüche berücksichtigen zu können. Dies ginge jedoch mit einem erhöhten Risiko einher. Des Weiteren müssten Seminarleitende ihre eigenen normativen Ansprüche an Unterricht dahingehend reflektieren, inwieweit sie diese im Sinne einer normativen Passung ihren Auszubildenden aufdrücken und inwiefern diese mit aktuellen Ergebnissen der Unterrichtsforschung korrelieren. Es geht hier um das Spannungsfeld von eigener Erfahrung und Offenheit für Fremdes.
In Kapitel 5 zieht Wiernik Schlussfolgerungen für die Lehrer:innenbildung. So sei hier im Anschluss an Helsper rekonstruktive Fallarbeit zu ermöglichen, um handlungsentlastend Ungewissheiten zu reflektieren und die Antinomie von Rekonstruktion und Subsumtion zu thematisieren. Darüber hinaus ergebe sich die Möglichkeit, die Lehramtsausbildung als Evolution (nach Scheunpflug) zu denken und Lehrkräfte als „Chaospiloten“. Um Scheitern zu ermöglichen, sollten des Weiteren Beratung und Beurteilung strikt getrennt werden. Lehrer:innenbildung sei außerdem als Erwachsenenbildung zu sehen, die nicht erziehen kann, sondern lediglich in Bildungsprozessen unterstützen. Um der Subsumtionsproblematik entgegenzuwirken sowie Probleme in der Wahrnehmung abzuschwächen, sei die Beurteilung auf mehrere Personen aufteilen.
Abseits normativer und empirisch messbarer Maßstäbe guten Unterrichts, wie sie in der Literatur häufig auftreten, vermag es die Forschungsarbeit Wierniks, das implizite und handlungsleitende Wissen über guten Unterricht von Seminarleitenden der zweiten Phase der Lehramtsausbildung methodisch nachvollziehbar und schlüssig sowie differenziert darzustellen und daraus Typen an Ausbildenden zu rekonstruieren. Die Stärke der Arbeit liegt in der schlüssigen und nachvollziehbaren Darstellung der Rekonstruktionen durch den Bezug zu zahlreichen Originalzitaten aus den Interviews und deren Erläuterung. Darüber hinaus schließt Wiernik seine Ergebnisse sinnvoll an professionstheoretische Überlegungen sowie Konzepte zum Lernen an und ermöglicht dadurch einen geeigneten Theorie-Empirie-Transfer. Die Auswahl der theoretischen Konzepte wird dabei nicht immer explizit begründet und muss aus der inhaltlichen Anschlussfähigkeit erschlossen werden. Das Interesse der Forschung am Unterrichtsverständnis der Ausbildner:innen leitet Wiernik schlüssig aus dem von ihm dargelegten Forschungsstand ab. Tatsächlich kommt er damit einem Desiderat nach, dem die schulpädagogische Forschung bis dato kaum ausreichend Genüge zu leisten im Stande war. Wiernik nimmt mit der Arbeit eine Gruppe an Akteur:innen in den Blick, die nicht nur von der bisherigen Forschung wenig beleuchtet wurde, sondern auch eine wichtige Bedeutung in der Professionalisierung werdender Lehrer:innen spielt: Den Ausbildenden in der zweiten Phase kommt nämlich nicht nur der Unterricht, die Betreuung und Beratung der Auszubildenden zu, sondern auch deren Beurteilung. Insofern liegt es nahe, das Verständnis dieser Personengruppe von gutem Unterricht und Professionalisierung weiter zu beforschen.
[1] Cramer, C., König, J., Rothland, M. & Blömeke, S. (2020). Einführung in das Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung. In. Dies. (Hrsg.), Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung (S. 12). Verlag Julius Klinkhardt.
[2] Anderson-Park, E. & Abs, H. J. (2020). Lehrerinnen- und Lehrerbildung im Vorbereitungsdienst. In. C. Cramer, J. König, M. Rothland & S. Blömeke (Hrsg.), Handbuch Lehrerinnen- und Lehrerbildung (S. 335). Verlag Julius Klinkhardt.
EWR 21 (2022), Nr. 2 (April)
Guter Unterricht in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung
Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum impliziten Unterrichts- und Professionsverständnis von Seminarleitenden
Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt 2020
(167 S.; ISBN 978-3-7815-2400-2; 39,90 EUR)
Alexander Hoffelner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Alexander Hoffelner: Rezension von: Wiernik, Alexander: Guter Unterricht in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum impliziten Unterrichts- und Professionsverständnis von Seminarleitenden. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt . In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152400.html
Alexander Hoffelner: Rezension von: Wiernik, Alexander: Guter Unterricht in der zweiten Phase der Lehramtsausbildung, Eine qualitativ-rekonstruktive Studie zum impliziten Unterrichts- und Professionsverständnis von Seminarleitenden. Bad Heilbrunn: Verlag Julius Klinkhardt . In: EWR 21 (2022), Nr. 2 (Veröffentlicht am 03.05.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152400.html