Die zentrale Bedeutung von Emotionen für Lernen und Leistung rückte in den vergangenen Jahren immer mehr in den Mittelpunkt der pädagogisch-psychologischen Schul- und Unterrichtsforschung. Besonders die multidimensionale Perspektive emotionaler Prozesse und die sie begleitenden Mehrkomponentenmodelle der kognitiven Bewertungstheorien (bzw. appraisal theories) machen deutlich, dass Emotionen in ihrem Ausdruck und ihrer Wahrnehmung als Voraussetzungen, Einflussfaktoren und Resultate des Lernens verstanden werden müssen.
Dementsprechend ist das Konzept der Lern- und Leistungsemotionen, in dem basierend auf der Kontroll-Werte-Theorie neben der Valenzperspektive besonders die Aktivierungsdimension (bzw. das Arousal) von Emotionen hervorgehoben und die interdependente Wechselwirkung zwischen Leistung und Emotion betont wird, eine unverzichtbare Stellgröße im Nachdenken über die Möglichkeiten und Grenzen von Unterrichtsgestaltung und Schulentwicklung. In diesem Zusammenhang zeigt sich auch immer wieder, dass die Fähigkeit, die Art, Intensität und/oder Dauer von Emotionen gezielt beeinflussen zu können, ausschlaggebend für den Lernerfolg der Schüler/-innen ist. Unabhängig der Regulation des eigenen emotionalen Erlebens entstehen Emotionen aber auch immer in einem sozialen Kontext, wirken auf unterschiedliche Weise auf soziale Interaktionen ein und werden zudem durch bewusste und nicht-bewusste Auseinandersetzungen mit der sozialen Umwelt beeinflusst. Besonders im Grundschulalter, in dem die Beziehungsqualität noch einen weiteraus höheren Stellenwert als im sekundären oder tertiären Bildungsbereich hat, nimmt die Lehrer/-innen-Schüler/-innen-Interaktion einen wesentlichen Einfluss auf die Emotionen und die Emotionsregulation der Schulkinder. In ihrer Dissertation versucht Juliane Schlesier die zentrale Bedeutung dieser drei miteinander wechselseitig verstrickten Komponenten zu entschlüsseln, indem sie sich zum Ziel setzt, erstmals ein ganzheitliches Modell zu entwickeln, das die Lern- und Leistungsemotionen, die Emotionsregulationsstrategien und die Lehrkraft-Schulkind-Interaktion unter besonderer Berücksichtigung des Grundschulalters gleichermaßen abbildet.
Um dem leitenden Erkenntnisinteresse und dem Ziel der integrativen Modellbildung gerecht zu werden, orientiert sich die, in vier Abschnitte (Einleitung, Methodik, Resultate, Diskussion) unterteilte Studie methodisch an der Idee eines Mixed-Methods-Transferdesigns, in dem 31 Interviews mit Lehrer/-innen aus dem Primarschulbereich entlang von vier Auswertungsphasen mit qualitativen und quantitativen Methoden analysiert werden. Im Mittelpunkt steht dabei die Frage, nach welchen Interaktionsmustern Lehrkräfte Unterrichtssituationen beschreiben, in denen Lern- und Leistungsemotionen bei Schulkindern auftreten und welche Bedeutung hierbei die Emotionsregulation einnimmt (54). Des Weiteren versucht die Autorin herauszuarbeiten, welche Vorstellungen Lehrkräfte hinsichtlich der drei Komponenten im Unterricht haben, wie Lehrkräfte mit Schulkindern in konkreten Unterrichtssituationen interagieren und welche quantifizierbaren Muster der Interaktion sich hinsichtlich dieser drei Komponenten beschreiben lassen. In der ersten Phase wird mithilfe der zusammenfassenden Inhaltsanalyse (nach Mayring, siehe hierzu 68) von fünf Interviews ein Kategoriensystem entwickelt, das die subjektiven Theorien der Lehrkräfte hinsichtlich der Lern- und Leistungsemotionen, der Emotionsregulation und der Lehrkraft-Schulkind-Interaktion abbildet. In der zweiten Phase entwirft die Autorin anhand der qualitativen Methode der Take-the-Best-Heuristik (in Anlehnung an Gigerenzer et al., siehe hierzu 73), die sie auf zehn Interviews anwendet, ein erstes Grundkonzept des LEmoR-TSI-Modells (das sogenannten „Learning and Performance Emotions, Emotion Regulation – Teacher-Student-Interaction“-Modell, siehe hierzu 113). In der dritten Auswertungsphase wird mithilfe der inhaltlich-strukturierenden qualitativen Inhaltsanalyse (nach Mayring, siehe hierzu 79) anhand von 21 Interviews das LEmoR-TSI-Modell (siehe hierzu 119) ausdifferenziert und entsprechend den zentralen Kategorien der Analyse adaptiert. In der vierten und letzten Auswertungsphase wird mithilfe deskriptiver und interferenzstatistischer Analysen im Kontext der quantitativen Inhaltsanalyse (nach Rössler, siehe hierzu 92) das ausdifferenzierte Modell entlang aller 31 Interviews überprüft.
Auch wenn sich die Komplexität des interdependenten Modells nur schwer abbilden lässt, kann zusammenfassend das Prozessgeschehen anhand sieben konstitutiver Teilkomponenten wie folgt beschrieben werden: Am Beginn stehen (1) lern- und leistungsbezogene Auslöser, die vom Schulkind je nach Entwicklungsstand und Vorerfahrungen und abhängig von den Ressourcen zur individuellen Bewältigung, zu einer (2) konkreten (Neu-)Interpretation der Situation führen. Diese Interpretation löst in weiterer Folge (3) spezifische Lern- und Leistungsemotionen aus.
Diese Emotionen werden wiederum entsprechend (3.1) der jeweiligen Intention adaptiv oder maladaptiv reguliert und führen (4) zu einem konkreten Emotionsregulationsverhalten des Schulkindes. Das Regulationsverhalten wiederum wird von der Lehrkraft wahrgenommen und führt (5) zu einer Interpretation der Lehrkraft, indem dem Schulkind ein konkretes Bedürfnis zugeschrieben wird. Darauf wiederum reagiert die Lehrkraft selbst, abhängig von Vorerfahrungen und der eigenen emotionalen Involviertheit, mit (6) einem spezifischen Emotionsregulationsverhalten, wobei die Ebenen der Wertschätzung, Lenkung oder Sanktion unterschieden werden und das Verhalten (6.1) einer lehrkraft- oder schulkindbezogenen Intention zugeschrieben werden kann. Entweder werden dann über Rückkopplungsschleifen die Emotion und/oder die Emotionsregulation des Schulkindes angepasst, sodass der Prozess wieder bei der Interpretation (Schritt 2) beginnt oder aber das Lehrkraftverhalten und/oder dessen Intention wird angepasst (Schritt 6). Jedenfalls endet die Interaktion nach einer oder mehreren Schleifen mit (7) einer kurzfristigen und/oder langfristigen Konsequenz (für eine Übersicht des Modells: 113).
In der Analyse der Interviews wird deutlich, dass insbesondere den negative Lern- und Leistungsemotionen sowie der externalen Emotionsregulation der Schulkinder eine wesentliche Rolle im Grundschulunterricht zugeschrieben werden kann. Ärger ist dabei die am häufigsten empfundene Lern- und Leistungsemotion, gefolgt von Angst und Trauer; zudem sind zwei Drittel der schulkindlichen Emotionsregulationsstrategien den Ergebnissen zufolge maladaptiv, wobei die Lehrkrafthandlungen häufig kontrollierend auf den Prozess einwirken (170f.). In der Studie von Juliane Schlesier wird jedenfalls deutlich, dass das Emotionsregulationsverhalten des Schulkindes einen zentralen Einfluss auf die Valenz der folgenden Lern- und Leistungsemotion hat und daher die Wahrscheinlichkeit für eine positive Lern- und Leistungsemotion im Interaktionsprozess weitaus höher ist, wenn die vorherige Lern- und Leistungsemotion adaptiv (bzw. funktional) reguliert wurde: „So scheint das initiale Emotionsregulationsverhalten der Schulkinder darüber zu entschieden, ob sie anschließend eine positive oder eine negative Lern- und Leistungsemotion erleben.“ (172) In diesem Sinne fordert die Autorin abschließend im Besonderen das Wissen um die Fähigkeit von Schüler/-innen, ihre Lern- und Leistungsemotionen angemessen regulieren zu können, zukünftig in der Ausbildung von Lehrkräften stärker zu berücksichtigen sowie diesen Kompetenzbereich in die Bildungsstandards des Grundschulunterrichts verpflichtend zu integrieren.
Besonders positiv in ihrer Arbeit hervorzuheben ist mit Blick auf den aktuellen Stand der Forschung Schlesiers Versuch, ein integratives Modell zu entwickeln, das auch den sozialen Kontext und somit das Interaktionsgeschehen von Unterricht berücksichtigt und auch auf den Bereich der Primarstufe anwendbar ist. Somit ist das LEmoR-TSI-Modell eine gewinnbringende Ergänzung hinsichtlich gängiger Alternativen, wie bspw. das integrative Modell der Emotionsregulation in Leistungssituationen (ERAS) oder das Modell zur Leistungszielorientierung und Emotionsregulation (PARE), da es nicht nur die Interaktion im Grundschulalter berücksichtigt, sondern auch kontextunabhängig angelegt ist und die Emotionsregulation erst nach dem Erleben der Emotion ansetzt. Die zentrale Stärke des Modells ist allerdings, dass die Rückkopplungsschleifen den typischen Interaktionsprozess von Unterrichts deutlich machen und es somit erstmals möglich ist, Lern- und Leistungsemotionen, Emotionsregulationsverhalten und die Lehrer/-innen-Schüler/-innen-Interaktion gleichzeitig theoretisch abzubilden. Überdies muss der ausführliche Definitionsversuch von Lern- und Leistungsemotionen durch die Autorin sowie ihr Bestreben, die Erkenntnisse ihrer Untersuchung in den Bildungsstandards des Grundschulunterrichts in Deutschland integrieren zu wollen, positiv hervorgehoben werden.
Mit Blick auf das methodische Design der Studie bleibt hingegen unklar, inwiefern die Erhebungsmethoden tatsächlich in der Lage sind, die Dynamik von Emotion, Regulation und Interaktion abzubilden, da durch die Fokussierung auf die (Rekonstruktion der) Lehrer/-innenwahrnehmung von Unterrichtssituationen die Schüler/-innenperspektive keinerlei Berücksichtigung findet. Ebenso unklar bleibt die Auswahl und Zuordnung der Interviews im Kontext der vier Auswertungsmethoden. Zwar scheint die grundsätzliche Samplingstrategie durchaus nachvollziehbar und mit Blick auf die Heterogenität der Interviewpartner/-innen adäquat zu sein, die Begründung der weiteren Zuordnung in den qualitativ inhaltsanalytischen Auswertungen bleibt die Autorin hingegen schuldig. Besonders problematisch ist allerdings die Ausdifferenzierung des (zuerst induktiv und später deduktiv bestimmten) Kategoriensystems und die damit einhergehende Ableitung und Begründung der Teilkomponenten im Modell. Zum einen ist das mehrdimensionale Kategoriensystem selbst nicht nachvollziehbar, da es scheinbar mehrere Ebenen von Haupt- und Subkategorien gibt und weder der zusammenfassende noch der strukturierende Aspekt des inhaltsanalytischen Vorgehens abgebildet wird (was sich zum Teil auch in der enormen Anzahl der Sub-Sub-Kategorien wiederspiegelt). Zum anderen ist die inhaltliche Trennschärfe zwischen den Subkategorien über weite Strecken schlichtweg nicht gegeben, was berechtigterweise den von der Autorin postulierten hohen Interkoderreliabilitätswert in Frage stellt. Diese methodische Kritik macht aber auch deutlich, dass Schlesiers Modell insgesamt auf einem sehr hohen Abstraktionsniveau angesiedelt ist und somit zwangsläufig mit einer Verkürzung der Komplexität pädagogischer Interaktionen und ihrer Analyse einhergehen muss. Unabhängig davon sind die Studie von Schlesier und ihr Versuch der integrativen Modellbildung eine anregende Lektüre für all jene, die sich mit der Bedeutung von Emotionsregulationsprozessen im Lehr-Lern-Kontext beschäftigen.
EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)
Lern- und Leistungsemotionen, Emotionsregulation und Lehrkraft-Schulkind-Interaktion
Ein integratives Modell
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020
(185 S.; ISBN 978-3-7815-2396-8; 39,90 EUR)
Matthias Huber (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Matthias Huber: Rezension von: Schlesier, Julia: Lern- und Leistungsemotionen, Emotionsregulation und Lehrkraft-Schulkind-Interaktion, Ein integratives Modell. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152396.html
Matthias Huber: Rezension von: Schlesier, Julia: Lern- und Leistungsemotionen, Emotionsregulation und Lehrkraft-Schulkind-Interaktion, Ein integratives Modell. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152396.html