EWR 20 (2021), Nr. 3 (Mai/Juni)

Sylvia Wehren
Erziehung – Körper – Entkörperung
Forschungen zur pädagogischen Theorieentwicklung
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2020
(271 S.; ISBN 978-3-7815-2387-6; 49,00 EUR)
Erziehung – Körper – Entkörperung Die als Dissertationsschrift veröffentlichte Studie macht es sich zur Aufgabe, den diskursiven Zusammenhang zwischen Erziehung und Körper zu untersuchen. Damit ordnet sie sich in eine Vielzahl von erziehungswissenschaftlichen Schriften ein, die das Thema Körperlichkeit aufgreifen. Innovativ ist, dies über einen wissenschaftsgeschichtlichen Zugriff und damit in disziplinkritischer Absicht zu unternehmen. So geht es der Autorin insbesondere darum, das Verhältnis von Erziehung und Körper sowohl im Horizont aktueller erziehungstheoretischer Diskussionen als auch mit Fokus auf die Disziplinbildungsprozesse einer aufklärerischen wissenschaftlichen Pädagogik am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts zu untersuchen. Letzteres wird über eine Analyse von pädagogischen und erziehungstheoretischen Abhandlungen unternommen. Als Quellenbasis dienen J.H. Campes „Allgemeine Revision“ (1785-1792), A.H. Niemeyers „Grundsätze der Erziehung und des Unterrichts“ (1796-1824/25) und zwei Abhandlungen von F.H.C. Schwarz, die „Erziehungslehre“ (1802-1836) und das „Lehrbuch der Erziehungs- und Unterrichtslehre“ (1805-1835), daneben sind weitere Schriften in die Untersuchung einbezogen. Unter diskursanalytischen Vorgaben werden diese Materialien auf die Verarbeitung des Themas Körper im Rahmen pädagogischen Denkens befragt.

Die Studie ist in vier Teile untergliedert. Zunächst wird in einem ersten Schritt der Problemzusammenhang entwickelt. Es wäre, so die Autorin, auffällig, dass in der aktuellen erziehungstheoretischen Diskussion Erziehung vornehmlich auf die „Behandlung und Ausbildung geistig-moralischer bzw. kognitiv-intellektueller Strukturen abzielen“ (12). Dies ist ein bemerkenswerter, wiewohl gut nachweisbarer Befund, insbesondere vor dem Hintergrund des sogenannten „body turn“, der für eine größere Aufmerksamkeit gegenüber dem Körper innerhalb der Sozial- und Geisteswissenschaften und so auch der Erziehungswissenschaft sorgte. Nach einer Klärung der Entwicklungen auf dem Gebiet der neueren erziehungswissenschaftlichen Körperforschung werden deren Ansprüche auf die theoretische Arbeit am Erziehungsbegriff übertragen. Deutlich wird dadurch, dass die aktuelle Erziehungstheorie die Kritiken, die aus der aktuelleren Diskussion um Körper in der Pädagogik hervorgingen, bislang nicht in ausreichendem Maße berücksichtigt hat. In einem zweiten Schritt und basierend auf diesen Analysen wird die These der Entkörperung entwickelt. Diese bezieht sich analytisch auf eine diskursive Dynamik, die den Denkzusammenhang von Erziehung zumeist ohne eine Berücksichtigung der leiblich-körperlichen Bezüge des Menschen konstituiert. Der wissenschaftlichen Debatte über Erziehung ist demnach eine stete Tendenz inhärent, die auf eine diskursive Ausgrenzung und Marginalisierung von Körper und Körperthemen zielt. Unter Berücksichtigung vorliegender etymologischer Untersuchungen, die diesen diskursanalytischen Befund stützen, soll daher untersucht werden, wie sich dies bildungshistorisch und disziplingeschichtlich erklären lässt.

Die historische Entwicklung des Verhältnisses von Erziehung und Körper im erziehungstheoretischen Denken wird in einem dritten Schritt untersucht. Als zentrale Wissensbezüge zur Analyse des Zusammenhangs von Erziehung und Körper werden die Anthropologie, die religiösen Gehalte der pädagogischen Diskussion sowie die zeitgenössische Wissenschaftstheorie bestimmt und dargestellt. Anschließend werden detailreich die Inhalte der Quellen (Campe, Niemeyer und Schwarz) analysiert, dies zunächst in Bezug auf das Themenspektrum der körperpädagogischen Debatte am Ende des 18. und zu Beginn des 19. Jahrhunderts. Ebenfalls findet sich ein Exkurs zur sogenannten „physischen Erziehung“, die, wie die Autorin herausarbeitet, nur für ca. 100 Jahre, von 1750 bis 1850, als pädagogisches Thema Bearbeitung fand. In einem vierten Schritt werden die Ergebnisse dieser Analysen zusammengeführt. Dabei wird insbesondere herausgestellt, dass die Kategorie Körper zwar als integraler Bestandteil der gelehrten Auffassungen von Erziehung an der Wende zum 19. Jahrhundert gelten kann, sich jedoch gleichwohl bereits in Entkörperungstendenzen bemerkbar machten. Dies zeigt sich z.B. an der vorrangigen Behandlung der geistigen, sittlichen und moralischen gegenüber der körperlichen Erziehung. Auch die Zuschreibung, dass körperliche Erziehung eine Erziehung sei, die praktisch den Frauen überantwortet werden kann, befördert im Rahmen patriarchalen Denkens diese Hierarchie.

Neben der überzeugend herausgearbeiteten Entkörperung der aktuellen erziehungstheoretischen bzw. erziehungswissenschaftlichen Diskurse über Erziehung kann in der vorliegenden Studie stringent und quellengesättigt gezeigt werden, dass Körper und Körperlichkeit zu Beginn des Disziplinbildungsprozesses selbstverständliche Bestandteile der gelehrten pädagogischen Diskussion waren. Dies gilt gleichfalls für die theoretischen Fassungen von Erziehung, die sich als prägend für die sich formierende Erziehungswissenschaft erwiesen. Interessant ist zudem das Ergebnis, dass sich im Zuge der Disziplinbildungsprozesse bereits Tendenzen einer Entkörperung des Diskurses über Erziehung festmachen lassen. Zwar ist der tatsächlich praktizierte pädagogische Umgang mit dem Körper nicht Gegenstand der Untersuchung, dennoch wird die historische Praxis der Körperpädagogik am Rande der vorgelegten historischen Untersuchung immer wieder Gegenstand der Behandlung – z.B. in Bezug auf die pädagogische Arbeit in den Philanthropinen. Dies liegt begründet in dem Umstand, dass die an der Disziplinbildung beteiligten Akteure neben ihren universitären Studien insbesondere auch pädagogische Praktiker waren, führt gleichwohl zu einer gewissen Inkonsistenz.

Im Ergebnis der Analysen entsteht jedoch eine inhaltsreiche Historisierung des Erziehungsbegriffs im Hinblick auf die Inklusion und Exklusion der körperlichen Aspekte von Erziehung. Dies beruht vor allem auf einem äußerst breit angelegten und standardsetzenden Überblick zum Forschungsstand der erziehungswissenschaftlichen Beschäftigung mit dem Körper, der die historische Analyse umfassend stützt. Damit ergänzt die vorgelegte Arbeit die historische Körperforschung um eine disziplingeschichtliche Perspektivierung und bringt diskursanalytische, begriffsgeschichtliche sowie begriffssystematische Perspektiven in eine produktive Verbindung. In dieser Hinsicht lässt sich jedoch auch eine Kritik an der Arbeit formulieren. Aus bildungshistorischer Sicht sind in der Studie insbesondere sozial- und zum Teil auch kulturhistorische Perspektiven nur marginal entwickelt. Dabei wären gerade diese Zugänge sicherlich nutzbar und gewinnbringend gewesen, um tiefer und weitreichender zu begründen, warum und wie die Ausschließung des Körperlichen im pädagogischen Diskurs vonstatten ging und in welchen zeithistorischen gesellschaftlichen Kontexten dies stattgefunden hat. Eine Verwerfung dieser Herangehensweisen ist jedoch mit der theoretisch-methodischen Rahmung der Arbeit, die sich diskursgeschichtlich versteht, bereits angelegt.

Die Bedeutung der Studie für die Erziehungswissenschaft liegt im Kern in ihrem systematischen Ansatz bzw. in der gelungenen Verschränkung historisch-systematischer Perspektiven mit Bezug auf den pädagogisch höchst relevanten Zusammenhang von Körper und Erziehung. Hier zeigt die Arbeit das Potential einer historischen Analyse von Begriffsbildungsprozessen, nicht nur für die historische Bildungsforschung, sondern auch für die Allgemeine Erziehungswissenschaft. Dies gerade in Anbetracht der in den letzten Jahren zahlreich erschienenen körperbezogenen Publikationen. So könnte die Studie z.B. zu einer neuen Theoretisierung von Erziehung beitragen.
Johanna Lauff (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Lauff: Rezension von: Wehren, Sylvia: Erziehung – Körper – Entkörperung, Forschungen zur pädagogischen Theorieentwicklung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt Verlag 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 3 (Veröffentlicht am 07.07.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152387.html