Als „schulpolitischen Glücksfall“ (35) hatte Uwe Sandfuchs die Gründung der Grundschule in der Weimarer Reichsverfassung 1919 bezeichnet: Nach dem vordemokratisch ständisch organisierten Unterrichtswesen sollte die „für alle gemeinsame Grundschule“ (Art. 146, Abs. 1) die Standesunterschiede auch im Bildungswesen überwinden helfen. Was folgte ist eine wechselvolle, mit Einschränkungen und Auflagen beschwerte, aber auch von Reformwillen bestimmte Entwicklung. 2019 war deshalb nicht nur ein Jubiläumsdatum. Es war vor allem ein Anlass, über diese Entwicklung nachzuforschen und Herausforderungen für die weitere Entwicklung zu gewinnen. Dazu vergaben die Herausgeber achtzehn Themen an Expertinnen und Experten.
Zur Historie spannen die Herausgeber in ihrem Beitrag zu „Grundschule und ihre Geschichte“ einen weiten Bogen von der Untertanenerziehung des 18. Jahrhunderts bis in die Gegenwart. Dabei werden die jeweiligen politischen und gesellschaftlichen Maßgaben herausgearbeitet. Schließlich betonen die Autoren das Selbstverständnis, das sich in der Bundesrepublik mit der Institutionalisierung der Grundschule und in der DDR mit der Unterstufe entwickelte und zu einer je eigenen Grundschulpädagogik führte. Als Perspektive wollen die Herausgeber die Grundschule vor Überforderung bewahren und verkürzen den Bildungsbegriff auf die Kulturtechniken, sie seien die „Fundamentalkompetenzen für selbstständiges Lernen“ (30). Diese mehr als fragwürdige Reduktion prägt dann allerdings nicht die anderen Beiträge.
Margarete Götze ergänzt den Herausgeber-Beitrag mit ihren Ausführungen zur „Entwicklung der Institution Grundschule“. Sie stellt dies vom „Weimarer Schulkompromiss“ (33) bis in die Gegenwart dar und fokussiert die Darstellung an der Frage, ob und inwieweit die Grundschule dem Anspruch einer „für alle gemeinsamen“ Schule entspricht (33). Für die letzten Jahrzehnte thematisiert sie dazu einschneidende Veränderungen wie die Teilautonomisierung, die wachsende Heterogenität, den Ganztag, das Reformprojekt inklusive Schule, etc.. Der Beitrag schließt mit Hinweisen auf derzeit gegenläufige Tendenzen wie die zunehmende Privatisierung des Schulwesens.
Mehrere Beiträge befassen sich mit überfachlichen und fachbezogenen Bildungsaspekten: Heike Deckert-Peaceman und Anja Seifert bearbeiten das Thema „Grundlegende Bildung“. Sie belegen, dass über die Jahrzehnte die Bildungsaufgaben der Grundschule von den weiterführenden Schulen her bestimmt worden seien. Bildungsaufgabe sei demgegenüber, „die Ansprüche der Welt und die Ansprüche der Kinder in ein ethisch verantwortbares Verhältnis zu bringen“ (131). Leider bleibt es bei der Problematisierung. Bestimmungen dessen, was grundlegende Bildung bedeutet, liegen aber vor. Erinnert sei z.B. an den Band „Die Zukunft beginnt in der Grundschule“ von Gabriele Faust-Siehl u.a. (1996), in dem grundlegende Bildung als mehrperspektivischer Bildungsauftrag beschrieben ist, eingeschlossen die sog. Kulturtechniken. Einer möglichen Perspektive auf grundlegende Bildung gehen Katrin Liebers und Eric Kanold im Beitrag „Erziehender Unterricht“ nach. Die der Grundschule zugewiesenen Erziehungsaufgaben in den verschiedenen Epochen werden vorgestellt und diskutiert, der Zusammenhang von Bildung und Erziehung „in einer demokratisch und inklusiv ausgerichteten Grundschule“ (252) verdeutlicht.
Zu drei Fächern gibt es Beiträge zur historischen Entwicklung, zum aktuellen Stand sowie Gedanken zur Weiterentwicklung: Detlef Pech zum Sachunterricht mit dem Vorläufer der vorfachlichen Heimatkunde, Eva-Maria Kirschhock zum Schriftspracherwerb, Stefanie Kunze und Michael Krelle zur Literaturdidaktik und Marianne Grassmann zum Mathematikunterricht. In jedem Beitrag wird fachbezogen deutlich, wie in den letzten Jahrzehnten an die Stelle der Lehrperson-Zentrierung ein aktivierendes Lernverständnis trat.
Mit dem Blick auf die Kinder gerät der „Umgang mit Heterogenität“ ins Zentrum der Betrachtung. Dem geht Susanne Miller in ihrem Beitrag nach. Sie verweist auf das Weimarer Postulat der für alle gemeinsamen Schule, das die „Idee der Chancengleichheit“ konstitutiv mit der Grundschule verbunden habe (106), sowie auf Tendenzen der letzten Jahrzehnte mit Stichwörtern wie Offener Unterricht, Pädagogik der Vielfalt, Inklusion. Am Ende skizziert die Autorin notwendige Entwicklungen: zur Bildungsfinanzierung, zur Auslesefunktion, zum Zusammenhang von Gemeinsamkeit und Individualität.
Zum Thema „Unterrichtsmethoden“ trägt Eiko Jürgens bei. Abgesehen von Reformschulen herrschten über die Jahrzehnte Lehrpersonen-zentrierte Methoden. Die Reformbewegung seit den 1970er Jahren haben in Theorie und Praxis zu einem Zusammenspiel von Methoden instruktiven und eigenaktiven Lernens geführt. Hier liege auch ein anspruchsvolles weiteres Forschungs- und Erprobungsfeld.
Heidemarie Kemnitz und Barbara Zschiesche gehen mit ihrem Beitrag „Vom Klassenraum zur Lernumgebung“ der Frage nach, wie die pädagogischen Entwicklungen notwendigerweise auch auf die Gestaltung von Räumen und Gebäuden einwirken. Bernd Dühlmeier und Janine Brade verweisen mit „Von der Lehrwanderung zum außerschulischen Lernen“ auf das Verständnis der Lernorte außerhalb der Schule, deren Funktion sich nach gesellschaftlicher Zweckbindung bzw. pädagogischer Grundorientierung bestimmte.
Digitalisierung ist im heutigen Verständnis ein übergreifendes Thema: Digitale Kompetenz gehört zur grundlegenden Bildung, Lernen mit digitalen Medien zu den Methoden und zur Lernumgebung. Henriette Dausend skizziert und diskutiert dieses komplexe Feld in seiner didaktischen Entwicklung, in den politischen Vorgaben sowie den derzeitigen Möglichkeiten der Realisierung. Sie verweist darauf, dass auch bei digitalem Lernen „lerntheoretische und grundschulspezifische Prinzipien erhalten bleiben“ (71) müssen. Am Ende formuliert sie sechs Prinzipien, damit „eine selbstverständliche Etablierung der Digitalität gelingen kann“ (72).
Mehrere Beiträge widmen sich den Übergängen: Sanna Pohlmann-Rother und Johannes Jung gehen im Beitrag „Vom Kindergarten in die Grundschule“ den Bemühungen nach, die beiden Institutionen mit ihren Unterschieden in Rechtsstatus und Traditionen zu vernetzen. Ilona Weißenfels und Janine Brade konzentrieren sich auf den Schuleintritt und skizzieren den Paradigmenwechsel von Schulreife- zu Schulfähigkeitskonzepten. Kindbezogen entwickeln sie schulstrukturelle Aspekte, die den Übergang positiv erfahren lassen. Katja Koch nimmt sich des „Übergangs in die weiterführenden Schulen“ an. Sie beschreibt den Widerspruch zwischen Bildungsaufgabe und Auslesezumutung, die für Kinder lebensbiografische Weichenstellung ohne gesicherte Grundlagen hat, und belegt die historische Kontinuität dieses Dilemmas über das Jahrhundert. Leider geht die Autorin auf aktuelle Entwicklungen integrierter Systeme nicht ein.
Der Band schließt mit einem Beitrag von Michaela Vogt zur „Professionalisierung von Grundschullehrkräften“. Die Autorin begrenzt das Thema allerdings auf die Institutsgeschichte von Lehrerseminaren des 19. Jahrhunderts bis zu den gegenwärtigen länderspezifischen Realisierungen. Ausgeklammert bleiben Bereiche, an denen Professionalitätsentwicklung auch inhaltlich fassbar werden könnte: die Studieninhalte, die zweite und dritte Phase, praxisbezogene Forschungsschwerpunkte, Publikationen auch von Lehrkräften, die Entwicklung der Fachverbände, etc..
Insgesamt versammelt der Band kenntnisreiche, kritisch reflektierende Beiträge zu einzelnen Aspekten der Grundschulentwicklung, einige Einschränkungen wurden bereits deutlich gemacht. Alle Beiträge folgen dem vorgegebenen Dreischritt: historischer Abriss, aktuelle Entwicklungen und Perspektiven. Das führt zwar zu Wiederholungen, die aber wegen der zumeist selektiven Nutzung sinnvoll sind. Ein entscheidender Mangel ist das Fehlen von Themen, die das Bild der Grundschule in Geschichte und Gegenwart zentral mitbestimmen: fachbezogen z.B. der ästhetische Lernbereich, sprachliches Lernen (Bildungssprache, Fremdsprache) sowie übergreifende Themen wie Leistungskonzept oder Demokratie-Lernen.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
100 Jahre Grundschule
Geschichte – aktuelle Entwicklungen – Perspektiven
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019
(288 S.; ISBN 978-3-7815-2348-7; 21,90 EUR)
Horst Bartnitzky (Duisburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Horst Bartnitzky: Rezension von: DĂĽhlmeier, Bernd / Sandfuchs, Uwe (Hg.): 100 Jahre Grundschule, Geschichte – aktuelle Entwicklungen – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152348.html
Horst Bartnitzky: Rezension von: DĂĽhlmeier, Bernd / Sandfuchs, Uwe (Hg.): 100 Jahre Grundschule, Geschichte – aktuelle Entwicklungen – Perspektiven. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152348.html