Dass Schule ein Ort ist, der als „emotionaler Raum“ (13) entworfen werden kann, dürfte niemanden überraschen: Schüler/-innen und Lehrpersonen begegnen sich in der (Unterrichts-)Interaktion nicht nur in ihrer institutionellen Rolle, sondern auch vor dem Hintergrund individueller biografischer Dispositionen. Obwohl unbestritten ist, dass Emotionen im Feld schulischer Interaktion für die Akteure/-innen, aber auch für den Vollzug von Unterricht und Lernen bedeutsam sind, wissen wir aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive bislang erstaunlich wenig über Emotionen. Eine aktuelle Herausforderung – hier müssen wir auf soziologische Forschungen zurückgreifen – besteht in der Entwicklung eines Modells, welches Emotionen als gesellschaftlich bedeutsame Kategorie fasst, die dazu beiträgt, soziale Prozesse und Entwicklungen zu verstehen (28).
An dieses Desiderat schließt die 2019 veröffentlichte Dissertationsschrift „Emotionen im Berufseinstieg von Lehrpersonen“ von Julia Sotzek an. Sie fokussiert dabei Emotionen hinsichtlich ihrer „professionalisierungsrelevante[n] Bedeutung“ (17) für Lehrpersonen, indem sie ein praxeologisch-wissenssoziologisch fundiertes Konzept zu Emotionen entwickelt und mit der Dokumentarischen Methode episodische, erzählgenerierende und leitfadengestützte Interviews mit Lehrpersonen im Berufseinstieg auswertet. Ausgehend von drei zentralen professionstheoretischen Ansätzen (strukturtheoretisch, kompetenztheoretisch, berufsbiografisch) macht Sotzek plausibel, dass Emotionen eine Bedeutung für Professionalisierungsprozesse von (angehenden) Lehrpersonen haben. Dass sich die Berufseingangsphase besonders eignet, Fragen nach einer sich vollziehenden Professionalisierung zu stellen, ist durch die Bildungsgangforschung sowie durch den berufsbiografischen Ansatz inzwischen gut begründet. Auf diese Ansätze bezieht sich die Autorin (vgl. 246f.) und macht deutlich, weshalb sie keine emotionalen Kompetenzen als solche rekonstruiert, sondern nach der Art und Weise des Erlebens von Emotionen fragt und darauf fokussiert, wie diese die Entwicklung von Lehrpersonen beeinflussen. Dabei geht es im Kern darum, wie Lehrpersonen ihren Berufseinstieg erleben, welche Rolle Emotionen dabei einnehmen und inwiefern sie zu einer Professionalisierung beitragen. Neben diesen gegenstandsbezogenen Fragen hebt die Autorin ein methodisches Forschungsinteresse an der Konzeptualisierung von Emotionen mittels einer metatheoretischen Rahmung durch die Praxeologische Wissenssoziologie sowie deren methodische Bearbeitung mit der Dokumentarischen Methode hervor.
Die Arbeit ist in den Forschungskontext, der DFG/SNF-geförderten „KomBest“-Studie (Kompetenzen und Beanspruchung von Lehrpersonen im Berufseinstieg [1]) eingebettet. Dies findet u. a. Ausdruck in der Fallauswahl, die die Autorin in einer Sekundäranalyse für ihren eigenen Untersuchungsschwerpunkt fruchtbar macht: Das ihrer Studie zugrunde liegende Sample besteht aus insgesamt neun Fällen, von denen vier zugleich die Eckfälle der „KomBest“-Studie bilden. Im zirkulären Wechselspiel mit ersten empirischen Befunden entwickelt Sotzek zunächst ein theoretisches Emotionskonzept. Sie bezieht sich dabei auf verschiedene theoretische Ansätze: Die Autorin berücksichtigt habitustheoretische (Bourdieu), wissenssoziologische (Mannheim), sozialphänomenologische (Schütz) und dramaturgisch-interaktionistische (Goffman) Perspektiven. Dem schließen sich metatheoretische Überlegungen an, in denen Kategorien der Praxeologischen Wissenssoziologie hinsichtlich der Erforschung von Emotionen verhandelt werden. Begründet wird dies damit, dass durch die Wahl der Dokumentarischen Methode als Auswertungsmethode bereits „gegenstandkonstituierende Annahmen getroffen“ (77) wurden. Es folgt eine methodologische Auseinandersetzung mit den Metakategorien, die ebenfalls die Ausgestaltung des Emotionskonzepts dieser Studie prägen. Plausibel entfaltet Sotzek dabei, wie sie mit dieser Perspektivierung den Habitusbegriff nach den neueren Arbeiten von Ralf Bohnsack verwendet (Orientierungsrahmen im weiteren Sinne) und wie das Spannungsverhältnis von Habitus (Orientierungsrahmen im engeren Sinne) und wahrgenommenen Normen (Orientierungsschemata) (vgl. 83) bestimmt werden kann. Diese komplexen und von großer (meta-)theoretischer und methodologischer Expertise zeugenden Überlegungen münden in der Feststellung, dass Emotionen als „Meta-Reflexionen im Sinne eines Wie des Wie“ (88) zu fassen sind. Konkreter bedeutet dies, dass sie „eine eigenständige Kategorie […] des Wissens und Handelns darstellen“ (ebd.), wobei sie „metatheoretisch als Ausdruck des Bearbeitungsprozesses einer wahrgenommenen Diskrepanzerfahrung begriffen“ (89) werden, indem die Akteure/-innen Erlebtes darstellen und sich zugleich zu dieser Darstellung verhalten. Bei dieser Konzeptualisierung von Emotionen als Reflexionsmodus spielt die Metatheorie der Praxeologischen Wissenssoziologie eine tragende Rolle, geht es bei dieser doch darum, das Wechselspiel zwischen expliziten und impliziten Dimensionen des Wissens und Handelns zu rekonstruieren: Entsprechend lässt sich die Meta-Reflexion als das Verhältnis von impliziter und propositionaler Reflexion verstehen.
Die ausführlichen Falldarstellungen münden in einer mehrdimensionalen Typologie zur Funktionalität erlebter Emotionen. Als Basistypik nutzt Sotzek das bereits in der „KomBest“-Studie ausgearbeitete Spannungsverhältnis von berufsbezogenem Habitus und wahrgenommenen Normen und relationiert die Typiken beider Studien. Für ihre Studie haben sich zwei konjunktiven Erfahrungsräume als zentral erwiesen: Unterrichtsinteraktion und kollegiale Interaktion. Innerhalb dieser wurden jeweils drei Themen als Tertia Comparationis identifiziert, die sich auf den Umgang mit und das Erleben von Emotionen beziehen. In den Typiken werden entsprechende empirische Rekonstruktionen bezüglich des Unterrichts- und des kollegialen Milieus verdichtet, hier spielt bspw. auch der Umgang mit „Emotionsexpressionen der Schüler*innen“ (232) eine Rolle. Die Befunde lassen sich dahingehend zuspitzen, dass der Berufseinstieg strukturidentisch als eine Phase neuer Anforderungen wahrgenommen wird und die ausgelösten Emotionen als Ausdruck einer Verunsicherung des Habitus gedeutet werden können (vgl. 244).
Einer Professionalisierung im Berufseinstieg nähert sich Sotzek für ihre Diskussion der Befunde aus berufsbiografischer Perspektive und erweitert das Modell zur Prozessstruktur von Professionalisierung [2] um die Auseinandersetzung mit Emotionen (263). In Bezug auf die Frage nach der Bedeutung von Emotionen für die Professionalisierung von Lehrpersonen kommt Sotzek zu dem Schluss, dass Emotionen einerseits „Gegenstand von Professionalisierung“ seien, sich andererseits „Professionalisierung in Emotionen“ (273) vollzöge und entlässt die Leser/-innen in einen Ausblick mit der berechtigten Frage: „Wie kann und sollte die Auseinandersetzung mit Emotionen zum Gegenstand von Lehrer*innenbildung werden?“ (278).
Trotz aller sprachlichen und konzeptionellen Komplexität werden die Rezipierenden durch kleinschrittig und nachvollziehbar gewählte Überschriften und Teilkapitel klar strukturiert durch die Studie begleitet. Leser/-innen, die mit der Dokumentarischen Methode bzw. der Praxeologischen Wissenssoziologie vertraut sind, finden sicherlich einen leichteren Zugang zum Text. Hilfreich sind die beigefügten Abbildungen, die immer wieder Ergebnisse zusammenfassend darstellen und dazu beitragen, die argumentativ dichten Ausführungen besser nachvollziehen zu können Insbesondere bei der Entwicklung der Typiken sind die grafischen Darstellungen hilfreich (232f.).
Zusammenfassend lässt sich festhalten, dass die Studie innovative Impulse für die Emotionsforschung (durch die theoretische Entwicklung eines Modells) als auch die Professionsforschung (durch die Verdeutlichung, welche Bedeutungen Emotionen insbesondere für Professionalisierungsprozesse bei Berufseinsteigern haben) bereithält. Überdies kann sie gewinnbringend als Beispiel für eine methodisch/methodologisch sehr fundiert ausgearbeitete, rekonstruktive Studie, welche mit der Dokumentarischen Methode arbeitet, gelesen werden.
[1] Sotzek, J.; Wittek, D.; Rauschenberg, A.; Hericks, U.; Keller-Schneider, M. (2017): Spannungsverhältnisse im Berufseinstieg von Lehrpersonen. Empirische Befunde einer rekonstruktiven Studie zu Habitus und Normen aus Perspektive der Dokumentarischen Methode. In: Zeitschrift für Qualitative Forschung 18 (2), 315-333 sowie Hericks, U.; Sotzek, J.; Rauschenberg, A.; Wittek, D.; Keller-Schneider, M. (2018): Habitus und Normen im Berufseinstieg. Eine mehrdimensionale Typenbildung aus der Perspektive der Dokumentarischen Methode. In: Zeitschrift für interpretative Schul- und Unterrichtsforschung, 7 Jg., 65-80.
[2] Keller-Schneider, M. (2010): Entwicklungsaufgaben im Berufseinstieg von Lehrpersonen. Beanspruchung durch berufliche Herausforderungen im Zusammenhang mit Kontext- und Persönlichkeitsmerkmalen. Münster, New York: Waxmann.
EWR 20 (2021), Nr. 1 (Januar/Februar)
Emotionen im Berufseinstieg von Lehrpersonen
Eine praxeologisch-wissenssoziologische Untersuchung ihrer Bedeutung fĂĽr die Professionalisierung
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019
(294 S.; ISBN 978-3-7815-2344-9; 46,00 EUR)
Cornelia Jacob (Halle)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cornelia Jacob: Rezension von: Sotzek, Julia: Emotionen im Berufseinstieg von Lehrpersonen, Eine praxeologisch-wissenssoziologische Untersuchung ihrer Bedeutung fĂĽr die Professionalisierung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152344.html
Cornelia Jacob: Rezension von: Sotzek, Julia: Emotionen im Berufseinstieg von Lehrpersonen, Eine praxeologisch-wissenssoziologische Untersuchung ihrer Bedeutung fĂĽr die Professionalisierung. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 20 (2021), Nr. 1 (Veröffentlicht am 23.02.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152344.html