Die Publikation „Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft“ ist Ergebnis eines DFG-Netzwerkes zur Ratgeberforschung. Neben systematischen Grundlagen finden sich exemplarische Analysen und wissenschaftstheoretische sowie historische Perspektiven. Insofern bietet der Band einen guten Überblick über verschiedene Perspektiven, die für eine Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft relevant sind. Die Herausgeber*innen haben die Ergebnisse der Diskussionen in einer übersichtlichen und strukturierten Weise zugänglich gemacht und damit die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit Ratgebern in der Erziehungswissenschaft auf ein neues Niveau gehoben.
Zu den Einzelbeiträgen: In einer kurzen Einleitung systematisieren die Herausgeber*innen das Feld der Ratgeberforschung. Sie referieren vorhandene, aber verstreute Ansätze der Ratgeberforschung und weisen auf Forschungsdesiderate hin. Besonders deutlich wird dabei auf unterschiedliche mediale Formate von Ratgebern (Jakob Kost), das Verhältnis von wissenschaftlichem und Ratgeber-Wissen (Johanna Hopfner, Jürgen Oelkers) sowie die Verwendung dieses Wissens (Steffen Großkopf) Bezug genommen. Aber auch Fragen, ob Ratgeber als Forschungsgegenstand oder Forschungsquelle verwendet werden, sehen die Herausgeber*innen als die zentralen Desiderate an. Darüber hinaus sind ebenso Fragen der Klassifikation (Jakob Kost) sowie Überlegungen zur historischen Entwicklung von Ratgebern (Timo Heimerdinger, Markus Höffer-Mehlmer, Haiko Wandhoff) von Bedeutung für die Forschung. Einen großen, aber weniger als Desiderat explizierten, sondern unter dem mit Blick auf das Desiderat Verwendung von Ratgebern nur angedeuteten Bereich bilden Fragen, der erziehungstheoretischen Analyse von Ratgebern (Michaela Schmid, Ulf Sauerbrey, Wolfgang B. Ruge) bzw. die didaktische Umsetzung des Ratgebens in Ratgebern (Christine Ott/Jana Kiesendahl, Nicole Vidal, Ulf Sauerbrey u.a.).
Während es bei exemplarischen Analysen um das textlinguistische Stilmittel des Rat-Gebens, das didaktische Arrangement und die Umsetzung „ostensiven Zeigens“ in buchförmigen Ratgebern geht, wird in den erziehungstheoretischen Reflexionen eine Fundierung des Ratgebens durch Ratgeber in Buchform in erziehungswissenschaftlichem Kontext gesucht. Die hier an Forschungsdesideraten orientierte Sortierung der Beiträge wird von den Herausgeber*innen nicht präferiert.
Das Buch gliedert sich vielmehr in drei Teile: einen ersten Teil mit Texten zu systematischen Grundlagen, einen zweiten Teil mit exemplarischen Analysen und einen dritten Teil mit wissenschaftstheoretischen und historischen Perspektiven. Aus dieser Systematik fällt der dem letzten und damit dritten Teil des Bandes zugeordnete Beitrag von Steffen Großkopf zur Verwendung von Ratgebern etwas heraus.
Zu einzelnen Themenschwerpunkten: Weiterführende Diskussionen im Kontext der Ratgeberforschung sind besonders in den beiden ersten Teilen des Buches zu finden. Auch der erste Beitrag des dritten Teils lenkt den Blick auf eine neue Forschungsperspektive. Insofern werde ich diese Beiträge im Folgenden konkreter betrachten. Im Beitrag von Jakob Kost wird das Feld pädagogischer Ratgeber systematisiert. Neben der Differenzierung in Themen und Perspektiven sowie deren mediale Formate, ist für ihn besonders die Unterscheidung von Sachbuch und Ratgeber bedeutsam. Während er den Sachbüchern eher eine Darstellungsfunktion und den Ratgebern eher eine Appellfunktion zuordnet, zieht er letztlich das Fazit, dass es sich hierbei einerseits um ein Kontinuum der Textfunktionen handelt, andererseits lediglich die primäre Funktion explizit ausgewiesen werden kann. So folgert er, „dass relativ einfache Typisierungen der Komplexität des Feldes nur unzureichend gerecht werden […], Systematisierungsversuche aber dazu beitragen, die Auswahl eines Datenkorpus in einem Forschungsprojekt zu situieren“ (S. 29). Hier ist ein spannender Überblick über das Feld der Ratgeber sowie deren Klassifizierungen gegeben, die auch in weiteren Forschungsprojekten produktiv aufgegriffen werden kann. Die Beiträge von Michaela Schmid und Ulf Sauerbrey beschäftigen sich mit der Frage, wie der beratende Aspekt von Ratgebern erziehungstheoretisch eingeholt werden kann. Beide beziehen sich hierfür auf die erziehungstheoretischen Ausführungen von Wolfgang Sünkel und Klaus Prange. Während Michaela Schmid nun die erziehungstheoretisch genutzten Begrifflichkeiten auf das Ratgeben der Ratgeber bezieht, fragt Ulf Sauerbrey explizit, ob Ratgeber erziehen und leitet aus seinen systematischen Erörterungen Forschungsfragen ab, die in Ratgeberanalysen zu bearbeiten sind. In beiden Beiträgen sind anregende Überlegungen zu einer weiteren theoretischen wie forschenden Analyse von Ratgebern in Buchformat gegeben. Die Frage, wie konkret die ratgebende erzieherische Tätigkeit dann angenommen wird, wird im Beitrag von Steffen Großkopf intensiv bearbeitet.
Mit differenten Stilmitteln beschäftigen sich die Beiträge von Christine Ott und Jana Kiesendahl einerseits sowie von Ulf Sauerbrey u.a. andererseits. Erstere Autorinnen analysieren aus textlinguistischer Perspektive Fragen des Rat-Gebens. Sie zeichnen formal sehr ausführlich eine textlinguistische Analyseform nach. Insofern ist dieser Beitrag ein gelungener Überblick über eine spezifische textlinguistische Perspektive um Formate des Rat-Gebens zu analysieren, die durch den Beitrag von Ulf Sauerbrey u.a. sehr gut ergänzt wird. In Anschluss an die erziehungstheoretischen Beiträge stellen Ulf Sauerbrey u.a. hier die Frage, wie in buchförmigen Ratgebern das „ostensive Zeigen“ umgesetzt wird. Eine Antwort auf diese Frage ist erziehungstheoretisch insofern relevant, als erst mittels der nachgezeichneten Stilmittel (bspw. des szenischen Beschreibens, des Wiederholens) die Umsetzungsmöglichkeiten pädagogischer Zeigeoperationen konkret ausgelotet werden. Als einzigen Beitrag zur „Verwendungsforschung“, die von den Herausgeber*innen in der Einleitung als zentrales Forschungsdesiderat thematisiert wurde, sind im Band die Analysen von Steffen Großkopf zu finden. Er stellt nicht nur einen Überblick über die bisherige Forschung zur Verwendung von Ratgeberwissen durch Selbstauskünfte der Leser*innen dar, sondern problematisiert diesbezüglich auch die Möglichkeiten der Selbstbestärkung eigener Ansichten durch die Auswahl und die Rezeption von buchförmigen Ratgebern. Diese Gedanken führen ihn zu einer Theorie der Beratungsresistenz, deren empirische Fundierung zwar noch aussteht, für die der Autor aber Hinweise in den bisherigen Studien zur Verwendung von Ratgeberwissen ausmacht.
Abschließende Einschätzung: Insgesamt versammelt der Band viele grundlegende und spannende Forschungsaktivitäten zur Ratgeberforschung in Buchformat. Aber bereits im Beitrag von Jakob Kost wird angedeutet, dass das Feld der Ratgeberforschung auch andere mediale Vermittlungsformate umfasst. Vor diesem Hintergrund sind auch weiterführend Vergleiche der dargestellten Ratgeberforschung in Buchformat mit pädagogischen Angeboten der institutionalisierten, professionellen Beratung in die Forschung mit einzubeziehen. Hierbei ist dann die für den Band grundlegende These von Volker Kraft (S. 9), dass es keine pädagogische Theorie der Beratung gebe, kritisch zu hinterfragen. So ist dann auch zu diskutieren, worin der Mehrwert einer explizit pädagogischen Theorie der Beratung jenseits von bereits vorliegenden, theoretischen Erörterungen von pädagogischer Beratung besteht. Zudem könnten in Anschluss an die vorliegenden Erörterungen von institutioneller bzw. professioneller Erziehungsberatung Fragen des Vergleichs von Stilmitteln aus der umfangreichen Diskussion um Erziehungsberatung (auch mit Blick auf asynchrone bzw. Onlineberatung) und buchförmigen Ratgebern gezogen werden. Alles in allem ist der vorliegende Band zur Ratgeberforschung ein systematisches und grundlegendes Werk für zukünftige Forschungen in diesem Bereich. Nicht nur die Aufbereitung bisheriger Studien mit weiterführenden Akzentuierungen durch zentrale Protagonist*innen der Ratgeberforschung, sondern auch die dargestellten neueren Ansätze, bilden ein Tableau, das als Ausgangspunkt für weitere Forschung und Diskussion dienen kann. Das durchgängig hohe analytische Niveau der Beiträge und die weitgefächerten Thematiken tragen dazu bei, dass eine zukünftige Ratgeberforschung auf längere Sicht nicht an der Rezeption dieses Bandes vorbeikommen wird.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft
Grundlagen und Reflexionen
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019
(278 S.; ISBN 978-3-7815-2327-2; 21,90 EUR)
Georg Cleppien ( Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Georg Cleppien: Rezension von: Schmid, Michaela / Sauerbrey, Ulf / Großkopf, Steffen (Hg.): Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft, Grundlagen und Reflexionen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152327.html
Georg Cleppien: Rezension von: Schmid, Michaela / Sauerbrey, Ulf / Großkopf, Steffen (Hg.): Ratgeberforschung in der Erziehungswissenschaft, Grundlagen und Reflexionen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152327.html