
Angesichts der breiten Forschungslandschaft scheinen die Motive von Lehramtsstudierenden auf den ersten Blick ausreichend und differenziert untersucht. Bei genauerer Betrachtung lassen sich allerdings einige Forschungsdesiderate erkennen: Zum einen ist über die Einflussfaktoren, die die Studien- und Berufswahlmotive bedingen und modifizieren, wenig bekannt. Zum anderen fehlt es an Erkenntnissen zum Einfluss von strukturellen Rahmenbedingungen auf die Motivlage der Studierenden, insbesondere aus Sicht der Studierenden selbst. Auch gibt es kaum Studien, die auf den wiederholten Einsatz von Erhebungsinstrumente setzen oder diese in mehreren Untersuchungsländern einsetzen, was eine große Vielfalt an methodischen Zugängen zur Folge hat.
Diesen Forschungsdesideraten begegnet Jonas Scharfenberg mit seiner 2020 veröffentlichen Dissertation „Warum Lehrerin, warum Lehrer werden?“, indem er das bestehende, quantitativ ausgerichtete Forschungsprojekt Student Teachers‘ Motives (STeaM) um einen qualitativen Ansatz erweitert. Die Studie fragt nach relevanten Motiven bei der Studien- und Berufswahl von Lehramtsstudierenden und dem Zusammenhang zwischen diesen Motiven und den Aspekten des Selbstkonzeptes der Studierenden. Welche Unterschiede gibt es in den Motivausprägungen deutscher, schwedischer, rumänischer und US-amerikanischer Lehramtsstudierender und inwiefern sind unterschiedliche Motivausprägungen zwischen den vier Untersuchungsländern auf länderspezifische Unterschiede zurückzuführen?
Die der Arbeit zugrunde gelegte Annahme sogenannter Person-Environment-Fit-Modelle findet sich in der systematischen Aufarbeitung des Forschungsstandes (Kapitel 2 und 3) wieder: Auf allgemeine Theorien zur Studien- und Berufswahl folgen spezifische, professionstheoretische Erkenntnisse zu den Motiven zukünftiger Lehrkräfte (Person). Positiv hervorzuheben ist an dieser Stelle, dass neben drei deutschsprachigen Einzelstudien auch zwei internationale Forschungsprojekte herangezogen werden (FIT-Choice Modell von Watts und Richardsons und das STeaM-Projekt). Ziel ist es, die „fragmentierte und national weitgehend isolierte Forschung zu den Studien- und Berufswahlmotiven aufzubrechen“ (41). In Kapitel 3 rücken die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen von Lehrkräften (Environment) in den Blick. Anschließend werden Forschungsgegenstand und -ziele (Kapitel 4) sowie Forschungsdesign und Methodik (Kapitel 5) vorgestellt. Die empirischen Ergebnisse werden adaptiv zur vorgenommenen Operationalisierung der Forschungsziele in quantitative und qualitative Forschungsfragen präsentiert (Kapitel 6 und 7) und anschließend diskutiert bzw. limitiert (Kapitel 8).
Das vom Autor konstruierte Messmodell besteht aus neun intrinsischen, vier extrinsischen und drei pragmatischen Motiven und erweist sich als valide und reliabel bei der Messung länderübergreifender Studien- und Berufswahlmotive. Die aufgrund bisheriger Forschung zu erwartenden geschlechts- und schulartenspezifischen Unterschiede in den Berufswahlmotiven der Lehramtsstudierenden lassen sich auch in dieser Studie nachweisen. Ein Aspekt, der bisher weniger im Fokus bestehender Untersuchungen liegt, ist die Beziehung zwischen der Motivlage und anderen personalen Merkmalen wie „Selbstwirksamkeit, Ungewissheitstoleranz oder dysfunktionale Kognitionen“. Durch die Betrachtung der Studien- und Berufswahlmotive innerhalb des Kontextes personaler Motive aus der Belastungsforschung setzt sich der Autor dieser häufig isolierten Motivbetrachtung entgegen.
Die Frage nach dem Einfluss struktureller Unterschiede auf die Studien- und Berufswahlmotive von Studierenden unterschiedlicher Länder nimmt einen bedeutenden Anteil innerhalb des qualitativen Bereichs der Studie ein. Mittels problemzentrierter Interviews mit Studierenden sowie Dozierenden können relevanten Aspekte der beruflichen Umgebung von Lehrkräften identifiziert, mit den Motiven der Studien- und Berufswahl verknüpft und im Hinblick auf die strukturellen Rahmenbedingungen diskutiert werden. Ergebnis ist ein neues Modell, welches Motive mit konkreten Environment-Variablen und konkreten Einflussfaktoren auf diese Variablen in Beziehung setzt. Der Arbeit gelingt es somit, einen Teil der Erkenntnislücke bezüglich struktureller Rahmenbedingungen und den Einfluss dieser auf die Studien- und Berufswahlmotive zu schließen.
Die Ergänzung der quantitativen Untersuchung um eine qualitative Komponente bietet verschiedene Vorteile. Neben der Validität der quantitativen Analysen dient die qualitative Untersuchung vor allem zur Identifikation fehlender Motive und Hinweise auf die Ursachen der länderspezifischen Unterschiede und damit der Schaffung eines ganzheitlichen Bildes.
Scharfenberg warnt dabei zu Recht vor der Gefahr der isolierten Betrachtung von Motivstrukturen. Durch die Hinzunahme der qualitativen Interviews gelänge es, den Gefahren bezüglich einer transnationalen Übertragbarkeit (cultural bias), die das im deutschsprachigen Raum etablierte Messinstrument (STeaM-Fragebogen) zwangsläufig mit sich bringt, größtenteils zu begegnen.
Häufig beschränken sich Untersuchungen innerhalb der Berufswahlmotive angehender Lehrkräfte auf die Unterscheidung zwischen Schultyp und Geschlecht. Bezüglich der methodischen Herangehensweise gibt es dahingehend wenige Monographien, die eine so umfassende international vergleichende empirische Forschung aufweisen. Allerdings lässt sich mit Blick auf das Sample – drei von vier Untersuchungsländern sind OECD-Länder – eine Überrepräsentation von Ländern des globalen Nordens feststellen. Die in der Diskussion angedeuteten Ergebnisse lassen eine Sampleerweiterung auf asiatische, afrikanische bzw. südamerikanische Länder schlüssig und notwendig erscheinen.
Für die Lehramtsausbildung stellen die gewonnenen Erkenntnisse eine besondere Relevanz dar. Sie dienen dazu, Reflexionsangebote zu entwickeln und präventive Angebote für potentiell gefährdete Studierende zu anzubieten. Diese Implikationen fallen jedoch verhältnismäßig knapp aus. Angesichts der aktuellen Herausforderungen wie der „Internationalisierung der Forschung, der Integration des Arbeitsmarktes für Lehrkräfte und der Flexibilisierung vieler Studiengänge“ (306) wäre eine tiefere Elaboration an dieser Stelle wünschenswert gewesen.
Innerhalb der Reihe Studien zur Professionsforschung und Lehrerbildung handelt es sich bei der Dissertation insgesamt um eine thematisch einschlägige Monographie, welche durch einen Mixed-Methods-Ansatz einen stabilen Kern an Studien- und Berufswahlmotiven identifiziert und nachweist. Die Studie bringt diese Motive mit länderspezifischen Einflussfaktoren in Zusammenhang und hebt sich durch ihre tiefgreifende Untersuchung des Einflusses struktureller Bedingungen auf die Studien- und Berufswahlmotive deutlich von bestehenden Untersuchungen ab. Scharfenberg erkennt die Notwendigkeit der vergleichenden Forschung und begegnet mit seiner Studie der heterogenen Befundlage zu den Studien- und Berufswahlmotiven sowie der Methodenvielfalt auf eine gelungene Art und Weise.
Lesedidaktisch ist insbesondere die Gliederung in intrinsische, extrinsische und pragmatische Motive, die ein einheitliches und somit lesefreundliches Gesamtbild schafft, positiv hervorzuheben. Diese transparente und klare Darstellung zieht sich durch die gesamte Arbeit bis hin zum Anhang, der abschließend einen strukturierten Überblick über das Motivinventar bisheriger Forschung darlegt. Die Dissertation eignet sich durch ihren umfassenden theoretischen Einblick in die Studien- und Berufswahlmotive und ihrer methodischen Breite sowohl als Einstiegswerk in die Thematik als auch für diejenigen, die sich bereits intensiv mit Motiven und Selbstkonzepten von Lehramtsstudierenden auseinandergesetzt haben.