Thorsten Merl beforscht in seiner Dissertationsstudie mittels eines ethnographischen Forschungszugangs formal inklusiven Unterricht der Sekundarstufe I in NRW, das vor allem im Hinblick auf Fragen der Differenzierung und Differenzsetzung. Ein zentraler Fokus der Analyse ist, wie Schüler/innen entlang von Fähigkeitszuschreibung ‚reguliert werden‘ und wie damit Abweichungen als legitim gerahmt werden. Mit dieser Legitimierung, so der Autor, wird eine dauerhafte Mitgliedschaft aller Schüler/innen und damit das Erfüllen der schulrechtlichen Vorgabe der Inklusion ermöglicht.
Die Studie ist, nach eigener Selbstverortung, im Bereich der rekonstruktiven Unterrichtsforschung, der erziehungswissenschaftlichen Differenz- und Ungleichheitsforschung, einer empirisch reflexiven Inklusionsforschung und durch den weiteren Fokus auf Klassenführung in der struktur- und anerkennungstheoretischen Professionsforschung angesiedelt. Das mutet sehr vielversprechend an und weist auf ein sehr komplexes sowie vielschichtiges Vorhaben hin. Letzteres wird insbesondere dann zum Prüfstein, wenn die Analyse, wie in Aussicht gestellt, durch Perspektiven der Disability Studies und Diskurse um Fähigkeit sowie Behinderung kontextualisiert wird. Während die aufgeworfenen Referenzbezüge vor allem auf eine Verortung in der Schulpädagogik bzw. erziehungswissenschaftlichen Ethnografie verweisen, wird eine Auseinandersetzung mit den Erkenntnissen aus der Inklusions-, Behinderten- und/oder Integrationspädagogik weitgehend ignoriert. In diesem Zusammenhang mag es eventuell dem Umstand der zeitlichen Nähe der Veröffentlichung geschuldet sein, dass für den Forschungsgegenstand durchaus relevante Studien im Bereich der Disability Studies in Education, Auseinandersetzungen zum Thema der Dekategorisierung als auch zu Differenzkonstruktionen zwischen Können und Nicht-Können im Unterricht nicht rezipiert werden.
Im Kapitel 1 erfolgt eine sehr gut lesbare Einführung in die Differenzforschung. Inspirierend und empfehlenswert sind hier vor allem die Darlegungen zur sozialkonstruktivistischen und poststrukturalistischen Perspektive. Zuweilen etwas verkürzt erscheint die Abhandlung zum Thema der Ungleichheit, der Behinderung und der Dekategorisierung. Hier wird der bestehende Diskurs nicht annähernd so differenziert reflektiert wie es für Differenz und Praxeologie vollzogen wird.
Das Kapitel 2 widmet sich der Gegenstandsbestimmung von „Interaktionsregulation im Unterricht inklusiver Klassen“, was hier Klassenführung in formal inklusiven Unterricht meint. Ähnlich wie im Kapitel 1 liegt ein sehr gut lesbarer Text vor, der vor allem Aufschluss über eine praxistheoretische Bestimmung von Unterricht gibt. Fokussiert werden hier vor allem Studien zu Differenzkonstruktionen im Unterricht, das vor allem in Bezug auf Leistungskonstruktionen.
Im Kapitel 3 wird die methodische und methodologische Verortung einer „praxeographischen Differenzforschung“ vorgenommen. Begründet werden u.a. die Begriffe der „anwesenden Beobachtung“ und „Praxeographie“, die dann aber im weiteren Text nicht durchgängig angewendet werden.
Dem folgen im Kapitel 4 Auseinandersetzungen mit Analyseperspektiven in Bezug auf ‚Differenzkonstruktionen als relationale Subjektpositionen einer Ordnung‘ (Kap. 4.2) und als Herstellungsprozess von Ungleichheit (Kap. 4.3). Dargelegt wird ein Forschungsprozess, der sich an der Methodologie der Grounded Theory orientiert. „Differenz-ierungen“, wie es der Autor als Verweis auf den praktischen Vollzug von Differenzsetzungen als auch den Vollzug der Differenzherstellung in diesen benutzt, werden vor allem im Anschluss an Entwürfe von Idel et al. (2017) sowie Reh/Ricken (2012) vorgenommen. Die Rekonstruktion der Praktiken der Interaktionsregulation wird ausschließlich als lehrerseitiges Geschehen der Differenzsetzung verstanden. Der Re-Adressierung von Schüler/innen kommt hier eine nachgeordnete Bedeutung zu (S. 72). Zu fragen ist allerdings, warum Interaktionsregulationen mittels einer rekonstruktiven Analyseeinstellung nicht als empirische Frage des interaktionalen Vollzuges verstanden werden. Das macht insbesondere dann Sinn, wenn schülerseitige Aktionen z.B. als Scheitern bzw. als ‚Eingeständnisse‘ eines Defizits in den Blick geraten und damit implizit eine Re-Adressierung von Schüler/innen verfolgt wird. Das würde selbst der Begriff der Interaktionsregulation nahe legen und verschärft sich insbesondere dann, wenn in den Analysen Formen der Verhaltensregulation (wie z.B. Maßnahmen des Trainingsraums) bzw. auch die Fähigkeitserwartung der schülerseitigen Selbstregulation betrachtet wird.
Kapitel 5 gibt Einblicke in die empirische Analyse von Praktiken der Interaktionsregulation. Diese werden zuvorderst anhand unterrichtlicher „Auszeiten“ und entlang der Differenz von ‚(noch) genügen oder nicht (mehr) genügen können‘ (S. 81) entfaltet. Dieser Abschnitt lädt zu interessanten Einblicken in pädagogische Differenzierungspraktiken ein. Sehr gewinnbringend ist hier die Aufmerksamkeit für subjektexterne Faktoren der Zuschreibungen und damit einhergehend auch die Rahmung individualistischer Fähigkeitsaskriptionen als eine möglicherweise notwendige legitimierende Funktion für Lehrer/innen (S. 123).
In dem Folgekapitel 6 geht es vor allem um die Metapher der „Krankschreibung“, die als Aussage aus einem ethnografischen Interview als Leitkategorie der Analyse bzw. als Beschreibung des Modus der Interaktionsregulation genutzt wird und im Weiteren argumentativ mit der Zuschreibung des sonderpädagogischen Förderbedarfs und der Kategorie Behinderung zusammengebracht wird. Das Ansinnen der Herleitung ist nachvollziehbar, allerdings entfaltet sich der empirische Gehalt nicht unbedingt aus den vorgestellten Rekonstruktionen. Zu diskutieren wäre, ob der Sinngehalt des Begriffes der „Krankschreibung“ nicht stärker empirisch oder auch ganz anders reflektiert hätte werden können (das insbesondere im Hinblick auf die Dauer der „Krankschreibung“ und einer somit attestierten partiellen Freistellung von unterrichtlichen Anforderungen). Dieser Diskussionsbedarf stellt sich ebenso bei der Verknüpfung zur Dimension der (Lern-)Behinderung und daran anschließend zur sozialen Ungleichheit, was zweifelsohne eine hoch relevante Analyseeinstellung darstellt. Inwieweit das rekonstruktiv aus den empirischen Daten zu schlussfolgern ist (ähnlich für die Rekonstruktion von „behinderten“ vs. „gesunden“ Schüler/innen), den Diskurs als auch das Diskursphänomen der Behinderung adäquat rahmt, steht m.E. zur Diskussion. Empirisch sehr gut nachvollziehbar ist dagegen die Rekonstruktion der Fähigkeitserwartung im Hinblick auf spezifische Dimensionen des Könnens und Nicht-Könnens (wie z.B. in Bezug auf die fokussierte Selbstregulationsfähigkeit).
Im Kapitel 7 wird die Differenzierung von Interaktionsregulationen zur Aufrechterhaltung von Ordnungen (entlang des un/genügend „fähig“ Seins) in Bezug auf die Klassenführung in inklusiven Klassen diskutiert. Die Reflexionen sind hier sowohl für den Gegenstand der „effizienten Klassenführung“ als auch den Fall des inklusiven Unterrichts sehr gewinnbringend. Das wird insbesondere an dem aufgezeigten Spannungsverhältnis zwischen „einer effizienten Steuerung des Unterrichts und der Ermöglichung von individueller Teilhabe am Unterricht“ (S. 181) deutlich. Ähnlich aufschlussreich sind die Ausführungen zur Spezifik des inklusiven Unterrichts. Diese werden argumentativ u.a. entlang der Begründung einer spezifischen Ordnung des inklusiven Unterrichts, in der Abweichungen dauerhaft legitimiert sind, entfaltet.
Im abschließenden Kapitel werden die ‚Reichweite und Grenzen der Ergebnisse‘ der Studie sowie Anschlussmöglichkeiten für eine Differenzforschung im Kontext der Inklusion entfaltet. Aufgegriffen wird hier die bereits monierte Auslassung der Schüler/innen in ihrer Eingebundenheit in die Praktiken, allerdings weiterhin in dem Sinne, dass der Handlungsspielraum für z.B. schülerseitige Widerständigkeiten im Unterricht so abgewehrt würde, dass es sich hier vor allem lohne, den außerschulischen Raum zu erforschen. An dieser Stelle sei auf relevante Studien verwiesen, die im Kontext der Disability Studies in Education ebendiese Subjektivierungsprozesse und Selbsttechniken behinderter Schüler/innen im biographischen Kontext inklusiver Schulen analysieren [1].
Thorsten Merl hat hier eine sehr fokussierte, erkenntnisreiche und anregende Forschungsarbeit vorgelegt, die deutlich und überzeugend auf Leistungslogiken des Unterrichts und Unterrichtens, das insbesondere im Kontext des formal inklusiven Unterrichts aufmerksam macht.
[1] Buchner, Tobias (2018): Die Subjekte der Integration. Schule, Biographie und Behinderung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt.
EWR 19 (2020), Nr. 3 (Juli / August)
un/genügend fähig
Zur Herstellung von Differenz im Unterricht inklusiver Schulklassen
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019
(210 S.; ISBN 978-3-7815-2286-2; 42,00 EUR)
Anja Hackbarth (Mainz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anja Hackbarth: Rezension von: Merl, Thorsten: un/genügend fähig, Zur Herstellung von Differenz im Unterricht inklusiver Schulklassen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152286.html
Anja Hackbarth: Rezension von: Merl, Thorsten: un/genügend fähig, Zur Herstellung von Differenz im Unterricht inklusiver Schulklassen. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2019. In: EWR 19 (2020), Nr. 3 (Veröffentlicht am 02.09.2020), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152286.html