Seit einiger Zeit wollen die Jubiläumsfeiern deutscher Universitäten kaum enden: von beispielsweise Freiburg im Jahr 2007 (550 Jahre), zu Leipzig zwei Jahre später (600. Geburtstag), ein Jahr darauf die Humboldt-Universität zu Berlin (200 Jahre); letztes Jahr wurde in Bonn (ebenfalls 200 Jahre), in Rostock und nochmal in Berlin (Freie Universität, 70 Jahre) angestoßen, dieses Jahr in Hamburg (100 Jahre). Es wird sich der historisch gewachsenen, identitätsbildenden Tradition erinnert und etwa auf die Bedeutung der Theologie (Leipzig) oder der Geistes- und Sozialwissenschaften (Freiburg) für die jeweilige Universität verwiesen.
Mit dem Selbstverständnis deutscher Universitäten im Kaiserreich beschäftigt sich die vorliegende, an der Bergischen Universität Wuppertal angenommene und in vier große Abschnitte (Krise bürgerlicher Bildung, Einheit der Universität, Nationalisierung der Universität, Universität als Ort allgemeiner Bildung) unterteilte Dissertation. Dies wird anhand von 180 Rektoratsantrittsreden an den Universitäten Berlin, Freiburg, Leipzig und München analysiert. Den Ausgangspunkt der Arbeit bildet der Widerspruch von Bildung zwischen einem als universalistisch gedachten Konzept menschlicher (Persönlichkeits-)Entwicklung und den „sozialen Vertragsinteressen“ (9) bzw. der „soziale[n] Selektivität“ (45). Bildung als humanistisch-idealistisches Konzept entwickelte sich in den deutschen Ländern seit der Spätaufklärung als bürgerlicher „Leit- und Zentralbegriff“ (20), der auch „zentraler Ausweis“ des Bildungs- und Wirtschaftsbürgertums war (34). Der Erwerb war dem höheren Bildungswesen vorbehalten, also gymnasialen Anstalten und Universitäten.
Zugrunde liegt dem Bildungsbegriff eine „synthetisch-harmonisierende Denkweise“ (19), die auf Seiten des Bürgertums durch die Industrialisierung und auf Seiten der Universitäten durch den Bedeutungszugewinn der Naturwissenschaften beginnt, brüchig zu werden. Selma Haupt rekonstruiert die Reaktionen deutscher Universitätsrektoren auf diesen Wandel, die auch eine Positionierung des universitären Selbstverständnisses mit Blick auf die Herrschaftssicherung des neuen Staates ab 1871 bedeutete, zumal die deutschen Universitäten „eine zentrale Größe im rasanten Aufstieg des Deutschen Reichs“ eingenommen hatten (45). Haupt versteht den „Bildungsbegriff“ als „Indikator und Faktor“ eines Prozesses der Selbstvergewisserung über Funktion und Identität der Universitäten (73).
Angesichts der Herausforderung, vor der die Universitäten ab der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts stehen – steigende Studierendenzahlen, Ausdifferenzierung der Disziplinen, mangelnde Ausstattung, Gründungen außeruniversitärer Forschungseinrichtungen (60) – rekurrieren die Rektoren auf das Selbstverständnis der Universität als Ort der „Einheit“ und Pflege der Wissenschaft (83, auch 98). Damit grenzen sie die Universität zu den Fachschulen und Technischen Hochschulen ab, sprich: sie setzen sich selbst in Abgrenzung zum „praktischen“ Leben. Haupt sieht hier eine bürgerliche „synthetisch-harmonisierende Denkweise“ führend, mit der versucht wird, an der „idealistisch bestimmte[n] Einheit der Wissenschaft“ (25) festzuhalten und der „Mehrdimensionalität“ (43) der aufziehenden Moderne die Stirn zu bieten oder sie vergessen zu machen. Die Gemeinschaft des akademischen Personals, die Einheit von Forschung und Lehre als auch die Freiheit gegenüber staatlichen (Verwertungs-)Interessen akademischer Bildung ist für die Rektoren bedeutend (25, 115). Denn diese Eigenschaften werden als „ausschlaggebender Erfolgsfaktor des deutschen Modells“ der Universität gesehen (29), mit denen auch eine Abgrenzung zu Modellen anderer Länder betrieben und – in Ergänzung zu Haupt – der Mythos der „deutschen Universität“ gepflegt wird. [1]
Bedeutend dabei ist die Auseinandersetzung der Rektoren mit den Naturwissenschaften, mit deren Erfolg sowie deren Welt- und Forschungsverständnis – „‚was man messen kann, das existiert auch‘“ (Max Planck, zit. n. 112) –, was eine „Verteidigungshaltung“ in geisteswissenschaftlich geprägten Rektoratsreden erzeugt (103). Dieser Streit adressiert jedoch ein kontingentes Problem, denn auch die Naturwissenschaften bleiben „dem bürgerlichen Denken […] verhaftet“, indem sie dem Wunsch nach einem „eindeutigen Weltbild“ anhängen (112). So ist das „Ganze“ (116) nach wie vor die treibende Kraft im wissenschaftlichen Betrieb, nur besteht keine Einigkeit mehr über den Inhalt bzw. die Einsicht fehlt, dass dies „überhaupt nicht mehr möglich sein könnte“ (118), so Haupt.
Das Argument der „Einheit“ bestimmt auch den Blick der Universitätsrektoren auf die junge Nation. Die Rektoren verstehen in bürgerlicher Manier die Nation als „Kulturnation, die durch Sprache und Kultur die Deutschen verbindet“ (120). Die Universität trägt zur Einheit dieser Kulturnation in besonderer Weise bei, so wird in den Reden argumentiert: insbesondere durch die deutsche Lehrsprache – deren Bedeutung auch im niedrigen Schulwesen ab dem 19. Jahrhundert diskutiert wurde [2] – und der internationalen Singularität des deutschen Universitätsmodells (141). Damit behaupten die Universitätsrektoren den eigenständigen Platz der Universität innerhalb eines Bildungssystems, das durch den „Verstaatlichungsprozeß“ im 19. Jahrhundert von „Verweltlichung“ und „Verfachlichung“ geprägt ist. [3] Die Demokratisierung des Zugangs zu universitärer Bildung sowie das Schreckgespenst der „Lehr-Universität“ (148) wird zurückgewiesen und die „Ausbildung der nationalen Elite“, die auch eine männliche ist, weiterhin verfolgt (135). So bleiben die Universitätsrektoren – das ist der rote Faden der Arbeit – trotz des gesellschaftlichen Bedeutungsverlustes eines bildungsbürgerlichen Weltverständnisses diesem treu (149, 167) und verstehen die Universität als für die deutsche Nation kulturstiftenden und kulturverwahrenden Ort von „Bildung“.
Die Darstellung eines zugleich brüchigen und zu bewahrenden „Leit- und Zentralbegriff[s]“ (20) kann Selma Haupt gekonnt mit den Zitaten aus den Rektoratsreden für die untersuchten Universitäten in Berlin, München, Leipzig und Freiburg sowie mit der Sozialgeschichte verweben und argumentativ nachvollziehbar darstellen. Erstaunlich für eine Monographie ist jedoch die Auslagerung des methodischen Teils der Arbeit in die Peripherie: Bedauerlicherweise wird die „konkrete Vorgehensweise“ (74) nur paraphrasierend in einer Fußnote dargestellt, ohne für Leser*innen nachvollziehbar zu machen, wie bspw. die „Textanalyse“ und „Begriffsanalyse“ (ebd.) sich im Einzelnen oder beispielhaft vollzog. Dabei wäre es insbesondere aufschlussreich gewesen, wie die „Relevanz des Bildungsbegriffs“ (ebd.) in den jeweiligen Reden von der Autorin herausgeschält wurde. Interessant wäre auch gewesen, inwiefern sich der Bildungsbegriff der Universitätsrektoren mit Einträgen in den von ihr herangezogenen historischen „allgemeinen und pädagogischen Lexika und Enzyklopädien“ (39, auch 99) in geeigneter Weise verbinden und vergleichen lassen kann. Vielleicht wäre hier ein Vergleich zur Diskussion des humanistischen Konzepts der Bildung an Gymnasien auch eine geeignetere Referenz gewesen, [6] zumal sich die Universitätsrektoren – ganz im Geiste der Zeit – kritisch an der Propädeutik des Gymnasiums abarbeiteten (37). Denn im Selbstverständnis der Rektoren lag es offenbar nicht am Konzept der „deutschen Universität“, wenn Studierende der „Verführung“ der akademischen Freiheit erliegen, sind sie erst „aus dem Zwange des Gymnasiums in die goldige Freiheit der Universität“ [5] getreten. Dieser Tage darf zumindest aufgeatmet werden: „Akademische Freiheit des Studenten“ bedeutet nun, dass man auch an „Universitäten verderben darf“. [6]
[1] Tenorth, Heinz-Elmar. Mythos Universität. Die erstaunliche Aktualität einer Idee und die resistente Realität von Universitäten. In Marc Fabian Buck & Marcel Kabaum. Hg. Ideen und Realitäten von Universitäten. Frankfurt a. M.: Peter Lang, 2013. S. 15–33, hier: S. 25f.
[2] Krüger-Potratz, Marianne. Mehrsprachigkeit: Konfliktfelder in der Schulgeschichte. In: Sarah Fürstenau & Mechthild Gomolla. Hg. Migration und schulischer Wandel: Mehrsprachigkeit. Münster: Springer, 2011. S. 51–68, hier: S. 57f., 60.
[3] Jeismann, Karl-Ernst. Zur Bedeutung der „Bildung“ im 19. Jahrhundert. In: Ders. & Peter Lundgreen. Hg. Handbuch der deutschen Bildungsgeschichte: Bd. 3, 1800–1870. München: C.H. Beck, 1987. S. 1–22, hier S. 5.
[4] Langewiesche, Dieter. Bildung in der Universität als Einüben einer Lebensform. Konzepte und Wirkungshoffnungen im 19. und 20. Jahrhundert. In: Edwin Keiner et al. Hg. Metamorphosen der Bildung. Historie – Empirie – Theorie. Bad Heilbrunn: Klinkhardt, 2011, hier: S. 181–190.
[5] Virchow, Rudolf. Lernen und Forschen. Rede beim Antritt des Rectorats an der Friedrich-Wilhelms-Universität zu Berlin gehalten am 15. October 1892. Berlin: Becker, 1892, hier: S. 8.
[6] Rudolf Stichweh. Wissenschaft, Universität, Profession: Soziologische Analysen. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1994, hier: S. 338.
EWR 18 (2019), Nr. 3 (Mai/Juni)
Das Beharren der Rektoren auf die „Deutsche Universität“
Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2018
(205 S.; ISBN 978-3-7815-2250-3; 39,00 EUR)
Marcel Kabaum (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marcel Kabaum: Rezension von: Haupt, Selma: Das Beharren der Rektoren auf die „Deutsche Universität“. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152250.html
Marcel Kabaum: Rezension von: Haupt, Selma: Das Beharren der Rektoren auf die „Deutsche Universität“. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2018. In: EWR 18 (2019), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.07.2019), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152250.html