Die Auseinandersetzung mit Heteronormativität ist eher kein zentrales Thema in der Erziehungswissenschaft. Zwar gibt es aktuell eine leicht steigende Zahl von Veröffentlichungen, die unter Umständen auch in einer Wechselwirkung mit (bildungs)administrativen Entwicklungen wie der Benennung des Themenfeldes in Bildungsplänen oder der Existenz von Landesaktionsplänen gegen Homo- und Transphobie stehen, dennoch handelt es sich dabei, quantitativ gesehen, um randständige Thematisierungen.
Das vorliegende Werk von Michael Plaß macht diese Feststellung zum Ausgangspunkt und Gegenstand seiner Bearbeitung. Vorgestellt wird, welche Diskurse sich über die Themenbereiche Heteronormativität und Homosexualitäten* in pädagogischen Texten finden und wie diese sich sortieren und systematisieren lassen.
Der methodische Zugang ist ein diskursanalytischer, ausgewählt wurden analog publizierte, wissenschaftliche Texte im Zeitraum von 1995 bis 2014. Die Zusammensetzung des Korpus wird anhand der Kriterien der Notwendigkeit einer ausführlichen Argumentation innerhalb der einzelnen Texte begründet, weshalb unter anderem auch Artikel aus pädagogischen Fachzeitschriften ausgeschlossen wurden. Diesem Argument kann aus einer quantitativen Perspektive zugestimmt werden. Inhaltlich vermag es nicht ganz zu überzeugen, da Zeitschriften im innerdisziplinären Kommunikationszusammenhang eine wesentliche Rolle spielen und aktuelle Entwicklungen abbilden.
In der eigentlichen empirischen Untersuchung des Textkorpus orientiert sich der Autor an einer Differenzierung des Gesamtdiskurses in einen hegemonialen und einen Gegendiskurs. Der Gesamtdiskurs thematisiert dabei Vorstellungen von (guter) sexueller Entwicklung, insbesondere von Jugendlichen. Der hegemoniale Diskurs ist geprägt von einer randständigen Benennung oder einem Verschweigen von Lebensweisen jenseits des heterosexuellen Begehrens, also von einer Reproduktion des zwangsheterosexuellen Dispositivs. Der Gegendiskurs indes hat das Anliegen, dieses Schweigen aufzubrechen, seine Rekonstruktion bildet das Zentrum des Textes. Plaß arbeitet heraus, dass sich der Gegendiskurs überwiegend mit der Lebensphase Jugend befasst und zwei zentrale soziale Orte – Schule und Familie – thematisiert. Damit ist auch nachvollziehbar, warum eine Konzentration auf das Thema Coming-Out zentral in den Texten des Gegendiskurses vorgefunden werden kann – das gilt auch für Erwachsene, die vor allem als Pädagog*innen vorgestellt werden. Bei ihnen wird die Möglichkeit der Thematisierung positiver Darstellungen heteronormativitätskritischer Inhalte im Kontext Schule gesehen, weswegen sie tendenziell bei ihrem Coming-Out unterstützt werden sollten. Als ebenfalls für pädagogische Institutionen bedeutsam kann die Arbeit der Bildungs- und Schulaufklärungsprojekte verstanden werden. Plaß rekonstruiert, dass die meisten Artikulationen, die sich mit dem Bereich Schule und weiteren pädagogischen Institutionen befassen, auf das Paradigma der Lebensformenpädagogik verweisen.
In Bezug auf die Institution Familie werden mehrere Schwerpunkte identifiziert, die sich aus dem heteronormativitätskritischen Gegendiskurs herausarbeiten lassen: So geht es um das emotionale Erleben der Eltern von Kindern, die homosexuell empfinden (und damit auch hier wieder um das zentrale Motiv des Coming-Out); weiterhin werden Paarbeziehungen und der Bereich der Erwerbsarbeit thematisiert. Dabei wird ebenfalls deutlich, dass innerhalb der erziehungswissenschaftlichen Diskurse nur eine marginale Thematisierung von homosexuellen Erwachsenen an nicht-pädagogischen Arbeitsplätzen vorfindbar ist. Darüber hinaus werden Diskriminierungs- und Gewalterfahrungen als Inhalte vorgestellt. Ein zentraler Befund lautet hier, dass sich ein deutliches Täter*innen-/Opferschema perpetuiert, das kaum Platz für „Lust und Spaß am Leben als junge Lesbe oder junger Schwuler“ (168) lässt.
Interessant sind in einem zweiten Schritt die Analysen, die die Struktur des Gegendiskurses inhaltlich charakterisieren. So lässt sich festhalten, dass die meisten Texte des Korpus schwule und lesbische Cis*-Personen adressieren, dass Thematisierungen von Trans*personen kaum vorhanden sind und dass der Bereich Intersex* in einem hohen Ausmaß marginalisiert ist. Zudem wird eine, sich im Zeitverlauf abschwächende, androzentrische Perspektive sichtbar.
Die Aussagen, die den Bereich des Begehrens aufrufen, folgen dabei in den meisten Fällen einer dichotomen Unterscheidung in hetero- oder homosexuelles Begehren. Sie werden also als relativ stabile Einheiten verstanden. Gleichzeitig kann der Autor eine in sich ambivalente Doppelstrategie des Gegendiskurses rekonstruieren, die sich als Versuch einer Ent-Stereotypisierung der Subjektpositionen homosexuell empfindender Menschen darstellt: einerseits werden diese als nicht-unterscheidbar von heterosexuell empfindenden Menschen gesehen, andererseits wird auf eine nicht bestimmbare Vorstellung von Vielfalt rekurriert, die die Lebensweisen homosexuell empfindender Menschen präge.
Auch die Darstellung von Sexualitäten im Kontext von schwulen und lesbischen Menschen kann in einer durchaus kontroversen Weise interpretiert werden: So werden in einigen Texten lesbische Identitäten deutlich sexualisiert (und damit auch: denkbar gemacht); bei der Rede über schwule Sexualität werden eher Stereotype wie Promiskuität und rezeptiver Analverkehr problematisiert.
Diese – nur ausschnitthaft und exemplarisch – vorgetragenen Ergebnisse der Arbeit von Michael Plaß verdeutlichen die Komplexität des von ihm gewählten Forschungsfeldes und -zugangs. Die Studie ermöglicht einen guten Überblick über die Verhandlungen heteronormativitätskritischer Inhalte in erziehungswissenschaftlichen Arbeiten und bieten damit eine gute Grundlage für die Entwicklung weitergehender Fragestellungen.
Etwas verwirrend ist hingegen der Umgang mit den Autor*innenschaften der Texte. Im Kontext der diskursanalytischen Arbeit fallen diese nicht ins Gewicht und werden von Michael Plaß lediglich als „Diskurpositionen“ im Kontext einiger Passagen gekennzeichnet. Im Diskussionsteil des Textes erscheinen dann einige der Autor*innen mit kurzen biografischen Angaben in den Fußnoten zum Haupttext und bekommen damit ein informatorisch anderes und über die bisherige Systematik des Vorgehens hinausweisendes Gewicht. Diese Wendung hin zu einer stärkeren Sichtbarmachung einzelner, nicht aller, Autor*innen verbleibt unklar und stellt in gewisser Weise den gewählten Ansatz des Autors in Frage.
Die Studie liefert wichtige Resultate. Anlage, Methodik und Operationalisierung sind konsistent und verweisen gleichzeitig auf weitergehende Möglichkeiten der Auseinandersetzung mit der Kopplung von Pädagogik und Heteronormativität. Vor allem erscheint es sinnvoll, an dem hier mit „Diskursposition der Autor*innen“ bezeichneten Aspekt weiterzudenken und Überlegungen dahingehend anzustellen, inwieweit die vorliegenden Texte auch bestimmten soziale Situationen bzw. Standorten entspringen und damit unter Umständen auch bestimmte Diskursstrategien verfolgen.
EWR 17 (2018), Nr. 5 (September/Oktober)
Homosexualitäten* und Heteronormativität in der Pädagogik
Eine Diskursanalyse
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(200 S.; ISBN 978-3-7815-2169-8; 39,00 EUR)
Klemens Ketelhut (Heidelberg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klemens Ketelhut: Rezension von: Michael, Plaß,: Homosexualitäten* und Heteronormativität in der Pädagogik, Eine Diskursanalyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152169.html
Klemens Ketelhut: Rezension von: Michael, Plaß,: Homosexualitäten* und Heteronormativität in der Pädagogik, Eine Diskursanalyse. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 5 (Veröffentlicht am 31.10.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152169.html