Bei dem Sammelband „Menschenrechtsbasierte Bildung“ handelt es sich um eine Festschrift für Ines Boban und Andreas Hinz, die die Inklusionsforschung im deutschsprachigen Raum maßgeblich geprägt haben bzw. weiterhin prägen. Die einzelnen Beiträge des Sammelbands greifen verschiedene Aspekte aus der Forschung der beiden auf, indem Bezüge zwischen inklusiver und Demokratischer Bildung sowie Menschenrechten hergestellt werden.
Der Band gliedert sich in drei Teile: Im ersten Teil „Impulse zum Diskurs um inklusive Bildung“ liegt der Fokus auf theoretischen Überlegungen. Beispielsweise beschreiben Ute Geiling und Annedore Prengel, inwiefern Kategorisierungen aus inklusiver Perspektive kritisch zu sehen sind, und formulieren Vorschläge zur reflexiven Nutzung gruppenbezogener Kategorien. Im zweiten Teil „Impulse zum Diskurs um Partizipative und Demokratische Bildung“ werden Bezüge zwischen Inklusion und Konzepten wie Teilhabe, Demokratischer Bildung und Partizipation hergestellt. So beschreibt z.B. Hans Wocken, welche Potentiale ein Klassenrat in Bezug auf inklusive Prozesse besitzt und wodurch sich dieser in der Praxis kennzeichnet. Im dritten Teil „Perspektiven auf menschrechtsbasierte Lern- und Erfahrungswelten“ werden überwiegend konkrete Praxisbeispiele in den Blick genommen. So illustriert beispielsweise Erika Rempel anhand von Alltagsäußerungen, welche Formen des Adultismus existieren. Reinhard Stähling beschäftigt sich mit der schulischen Situation von geflüchteten Kindern und greift auf Erfahrungen aus der Schule Berg Fidel zurück, um Gelingensbedingungen bei der Integration dieser Gruppe zu beschreiben.
Im Folgenden wird aus jedem der oben beschriebenen Themenbereiche ein Beitrag näher besprochen.
Zum ersten Teil: Lisa Pfahl, Sascha Plangger und Volker Schönwiese (19ff.) analysieren aktuelle Tendenzen der inklusiven Pädagogik. Dabei kritisieren sie, dass der Fokus zu stark auf der Implementation von Inklusion in bestehende Strukturen liegen würde. So würde zu wenig in den Blick genommen werden, inwiefern bestehende Machtverhältnisse und Strukturen Teilhabe verhindern und somit konträr zu der Umsetzung von inklusiver Bildung stehen. Des Weiteren mahnen sie die Expansion der Sonderpädagogik an, die u.a.in Österreich zum Teil dazu beiträgt, dass im Schulsystem weiterhin selektiert wird und ein Paradigmenwechsel im Sinne inklusiver Bildung nicht möglich ist. So sind es häufig die Sonderpädagog_innen, denen die Deutungshoheit im Hinblick auf die Umsetzung von Inklusion überlassen wird. Demnach seien aktuell stattfindende bildungspolitische Entwicklungen kein Zufall , sondern folgen „bestimmten sonderpädagogischen Professionsinteressen und (bildungs-)politischen Zielen“ (22). Demnach würde inklusive Pädagogik „zum Instrument der Hegemoniesicherung“ (23) werden. Im Sinne inklusiver Bildung fordern sie daher, dass bestehende Strukturen inner- und außerhalb des Bildungssystems in Bezug auf Ungleichheiten stärker in den Blick genommen und kritisch hinterfragt werden.
Der Beitrag von Pfahl et al. bezieht nach Erachten der Rezensentin deutliche Position und leistet einen wichtigen Beitrag, indem er auf Entwicklungen in Theorie und Praxis verweist, die unter dem Label „Inklusion“ laufen, aber nicht kohärent bzw. konträr dazu sind, was aus menschenrechtlicher Perspektive u.a. von Boban, Hinz, Prengel und Powell unter Inklusion verstanden wird. Es stellt sich jedoch die Frage, ob das Bild, welches von der Sonderpädagogik gezeichnet wird, dem gerecht wird, was diese in Bezug auf die Umsetzung von Inklusion auch Positives geleistet hat. So wird in dem Beitrag kaum thematisiert, dass bestimmte Wissensbestände aus der Sonderpädagogik bei der Umsetzung von inklusiver Bildung weiterhin von Relevanz sind. Dieser Aspekt wird im gleichen Band beispielsweise von Geiling und Prengel (81f.) thematisiert.
Zum zweiten Teil: Meital Hershkovich, Jaqueline Simon und Toni Simon diagnostizieren in ihrem Beitrag (161ff.) eine geringe Beschäftigung mit Fragestellungen zu Demokratischer Bildung innerhalb der Inklusionsforschung, obwohl Demokratie „nicht nur ein Struktur-, sondern v.a. auch ein Prozessmerkmal inklusiver Institutionen“ (165) darstellt. So könnte die Auseinandersetzung mit Fragen der Partizipation die Rückkehr zur „originären Idee inklusiver Pädagogik“ (163) ermöglichen. Dadurch könnte eine Vielzahl von Aspekten, z.B. ein Fokus auf alle Schüler_innen sowie Themen wie Diskriminierung und Ungleichheiten in den Blick genommen werden. Mit Verweis auf demokratiepädagogische Arbeiten machen Hershkovich et al. mithilfe von konkreten Beispielen deutlich, wie demokratische Partizipation in pädagogischen Settings umgesetzt werden kann, z.B. durch Einführung einer Schulversammlung, eines Disziplinar- und Mediations-Komitees sowie durch Formen pluralistischen Lernens.
Den Autor_innen gelingt es aus Sicht der Rezensentin, demokratiepädagogische Ansätze und Inklusionsforschung zu verknüpfen und dabei Entwicklungsfelder zu diagnostizieren, z.B. eine notwendige Schärfung des Partizipationsbegriffs. Demnach liegt im Rahmen des Beitrags der Fokus auf der Frage, welches Potential die Berücksichtigung von Konzepten wie demokratische Partizipation für die Inklusionsforschung birgt. In diesem Zusammenhang wäre es spannend darüber nachzudenken, welcher Mehrwert damit einhergeht, wenn demokratische Partizipation aus der Brille von Inklusionsforscher_innen betrachtet wird, z.B. ein stärkerer Fokus auf die Fragen, wer im schulischen Kontext partizipieren kann (und wer nicht) und welche Gelingensbedingungen notwendig sind, damit alle die Möglichkeit haben, selbstbestimmt zu handeln.
Zum dritten Teil: In seinem Beitrag (239ff.) stellt Michael Ritter dar, welche Potentiale Bilderbücher bietet, um Interkulturelles Lernen zu ermöglichen. So arbeitet er anhand von drei Beispielen heraus, welche Mittel – sei es im Bild oder im Text – verwendet werden, um Interpretationsspielräume zuzulassen und welche Methoden die Illustrator_innen und Autor_innen nutzen, um die jungen Leser_innen dazu anzuregen, Bestehendes zu hinterfragen. Durch die konkreten Praxisbeispiele wird deutlich, wie Interkulturelles Lernen mithilfe von Bilderbüchern gelingen kann. Dabei thematisiert Ritter auch, welche Anforderungen beispielsweise die vorlesenden Personen erfüllen sollten.
In dem Sammelband werden verschiedene Themen, mit denen Ines Boban und Andreas Hinz sich bis heute in ihrer Forschung beschäftigen, aufgegriffen und weitergedacht, z.B. Umgang mit Kategorien, demokratische Prozesse in inklusiven Settings, Verständnisse von Inklusion usw. Für die Festschrift ist es dem Herausgeber Robert Kruschel gelungen, namhafte Autor_innen zu gewinnen, die aufgrund ihres Hintergrunds unterschiedliche Perspektiven einbringen und zugleich in Bezug auf ihre Inklusionsverständnisse hohe Überschneidungen aufweisen.
Durch den gewählten Titel kann der Sammelband als Versuch gelesen werden, den Begriff „menschenrechtsbasierte Bildung“ stärker im Diskurs zu etablieren. Dabei wird dieser in der Einleitung von Kruschel folgendermaßen definiert: „Es gilt zu reflektieren, wer in der Wahrnehmung ihrer*seiner Menschenrechte eingeschränkt oder behindert wird – und vor allem wann und wie“ (12). Diese menschenrechtliche Herangehensweise birgt diverse Potentiale: So kann dadurch die Situation von verschiedenen Gruppen in den Blick genommen werden. Zugleich ermöglicht das Konzept verschiedene Perspektiven: Menschenrechte durch Bildung, Bildung als Menschenrecht sowie Menschenrechte in der Bildung (11f.). Darüber hinaus ist durch den Bezug auf die Menschenrechte die Legitimation im Begriff bereits inhärent. Gleichwohl stellt sich für die Rezensentin die Frage, inwiefern die Etablierung dieses Konzepts einen tatsächlichen Mehrwert darstellt. So entsteht z.T. der Eindruck, dass mit dem Konzept der menschenrechtsbasierten Bildung die Flucht nach vorne angetreten wird, weil es in der Forschung sowie in der Praxis an einem einheitlichen Verständnis davon fehlt, was unter inklusiver Bildung zu verstehen ist bzw. Inklusion häufig anders verwendet wird als dies von Inklusionsforscher_innen wie Boban und Hinz und den Autor_innen des Bandes intendiert ist. Im Hinblick darauf, dass es unterschiedliche Verständnisse von Inklusion gibt, könnte das Konzept der menschenrechtsbasierten Bildung auch als notwendige Positionierung bzw. Legitimation von Inklusion gelesen werden.
Neben den theoretischen Überlegungen und dem Blick in die Praxis hätte die empirische Inklusionsforschung in vielen Beiträgen eine größere Rolle spielen können, z.B. in der Verknüpfung mit theoretischen Überlegungen oder in der Darstellung von Herausforderungen bei der Erhebung- und Auswertung von Daten.
Das Buch enthält wertvolle theoretische Überlegungen zu menschenrechtsbasierter Bildung sowie konkrete Beispiele für die Implementation in der Praxis und ist daher sowohl für Praktiker_innen als auch Forscher_innen von Relevanz.
EWR 17 (2018), Nr. 6 (November/Dezember)
Menschenrechtsbasierte Bildung
Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017
(320 S.; ISBN 978-3-7815-2149-0; 21,90 EUR)
Anne Piezunka (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Anne Piezunka: Rezension von: Kruschel, Robert (Hg.): Menschenrechtsbasierte Bildung, Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152149.html
Anne Piezunka: Rezension von: Kruschel, Robert (Hg.): Menschenrechtsbasierte Bildung, Inklusive und Demokratische Lern- und Erfahrungswelten im Fokus. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2017. In: EWR 17 (2018), Nr. 6 (Veröffentlicht am 31.12.2018), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152149.html