Ihre Dissertation zum Subjekt in der Sonderpädagogik gliedert Simone Danz in zwei Teile: Einen ersten „bildungs- und erziehungsphilosophischen Theorie-Zugang“ (24), der sich seinerseits noch einmal in die beiden Teile „Bezugsrahmen Individuum“ sowie „Bezugsrahmen Gesellschaftsgefüge“ unterteilt, und einen zweiten Teil, in dem sie Erfahrungen und Ergebnisse eines Lehrforschungsprojektes bilanziert.
Die Autorin untersucht die Hintergründe für eine umfassende Teilhabe behinderter Menschen. Dabei stellen nicht die zu integrierenden, sondern die die Integration leistenden Individuen den Ausgangspunkt der Überlegungen dar. Dabei sieht sie im Anschluss an Weisser Behinderung als „Coming out“ des menschlichen Normalfalls, abhängig, hilfebedürftig und ausgeliefert zu sein. Wie sie schon im ersten Kapitel anschließend an das aus den Disability Studies stammende Konzept des Ableismus und in kritischer Auseinandersetzung mit dem Stand der sonderpädagogischen Forschung überzeugend nachweist, wird dieser Normallfall jedoch in der herrschenden gesellschaftlichen Kultur durch „phantasmatische Bewältigungsstrategien“ abgewehrt, die vor der Anerkennung der eigenen Unvollständigkeit und Abhängigkeit schützen.
Vor diesem Hintergrund setzt sich die Autorin zunächst mit verschiedenen Subjektbegriffen auseinander. Dabei untersucht sie, wie im Zusammenspiel von Autonomie und Angewiesenheit das An- und gleichzeitige Verkennen von Unterwerfung als Voraussetzung für ein autonomes Bewusstsein auch dazu führt, dass „das Subjekt qua seiner Konstitution begrenzte Möglichkeiten der Integration von Andersheit, Verletzbarkeit und Schwäche hat, die sich wiederum in bestimmten Normalisierungsprozessen abbilden bzw. vice versa durch diese begrenzt werden“ (23). Diesbezüglich fokussiert sie zunächst die Identitätstheorien von Mead und Goffman, um dann noch einen knappen Abriss über die psychoanalytischen Theorien zu geben. Lacan ist für sie in diesem Zusammenhang vor allem deshalb von Bedeutung, da er den Gedanken der reziproken Anerkennung als „reziproke Entfremdung“ in Form einer Leugnung des Mangels erweitert.
Die aktuelle Diskussion zum Identitätsbegriff – vor allem von Keupp – führt sie zum Begriff des Subjekts bzw. dessen Dekonstruktion. Dabei schenkt sie der von Judith Butler analysierten Ambivalenz von Autonomie und Abhängigkeit besondere Aufmerksamkeit. Im Anschluss weist sie die entwicklungspsychologisch für die Ich-Bildung bedeutsame, unbewusste Leugnung von Abhängigkeit, Unvollkommenheit und Verletzlichkeit am Beispiel der Arbeiten von Winnicott und Fonagy / Target auf.
Im Übergang zur Betrachtung der überindividuellen Ebene zeichnet die Autorin nach, wie Selbstbestimmung nicht nur als „zentrale Chiffre der Moderne“ an die Stelle eindeutiger Wertordnungen und verlässlicher Moralvorstellungen getreten ist, sondern auch zu einem „Prinzip kritischer Behindertenpolitik“ (64) avancierte. Verbunden sieht sie dies mit der Gefahr, dass dabei nicht nur Abhängigkeiten „verschleiert“ werden, sondern besonders im Hinblick auf geistig behinderte Menschen „die Illusion der Autonomie“ auch damit einhergeht, „lückenhafte oder begrenzte Vernunftfähigkeiten mit mangelnden Selbstbestimmungsmöglichkeiten gleichzusetzen“ (ebd.).
Auch die Kapitel zum „Bezugsrahmen Gesellschaftsgefüge“ beginnen zunächst mit Begriffsklärungen: in diesem Falle von Ethik, Moral, Sittlichkeit, sowie Werte und Normen. Unter besonderer Berücksichtigung von Jürgen Links Analyse des „Normalismus“ zeigt Simone Danz, wie normalitätstheoretische Reflexionen in ganz unterschiedlicher Weise im sonderpädagogischen Diskurs und den Disability Studies aufgegriffen wurden. Anschließend setzt sie sich mit Anerkennungstheorien in der Tradition von Hegel auseinander. Dabei greif sie nicht nur die Lesart Jessica Benjamins auf. In Auseinandersetzung mit Markells Begriff von „Anerkennung als ermächtigende Recognition“ kritisiert sie in überzeugender Weise Honneths „auf ausgewogene Anerkennungsbeziehungen autonomer Individuen angelegtes Moralsystem“ (124).
Demgegenüber fordert sie mit Judith Butler die Anerkennung einer gemeinsamen körperlichen Verletzlichkeit als Basis für einen neuen Humanismus. Dass aber gerade dies als „Gefährdung der Illusion fortwährender eigener Selbstständigkeit und Leistungsfähigkeit abgewehrt werden muss“ (180), stellt für sie bislang ebenso ein Desiderat sonderpädagogischer Theorie und Praxis dar, wie die daraus im Hinblick auf Reziprozität abgeleitete Maxime, Fremdsorge gleichzeitig als potentielle oder zukünftig benötigte Selbstsorge zu betrachten.
Vor dem Hintergrund dieses über die beiden Bezugsrahmen Individuum und Gesellschaftsgefüge entfalteten Theorie-Zugangs, einer ausführlichen Erörterung des Standes sowohl der Einstellungsforschung zu Behinderung sowie zu Motiven der Berufswahl im Feld der Heil- und Sonderpädagogik, als auch der pädagogischen Professionalitätsforschung, formuliert die Autorin schließlich einige Forschungshypothesen, die die Grundlage bieten für eine empirische Erhebung, bei der 250 professionell Tätige aus dem Bereich der außerschulischen Behindertenhilfe (nicht-probalistische Ad-hoc-Stichprobenziehung mit geschlossener schriftlicher Befragung) zu den eigenen Normalitätsanforderungen befragt wurden.
Neben einer deskriptiven statistischen Auswertung dieser Explorationsstudie wurden Variablengruppen zu gesellschaftlicher Anerkennung einerseits und zu deren Erreichbarkeit für behinderte Menschen andererseits mit Hilfe zweier explorativer Faktorenanalysen „vertiefter auf latente Strukturen im Antwortverhalten hin analysiert“ (153). Im „Fazit“ hebt Simone Danz diesbezüglich das hohe Ausmaß der Übereinstimmung der Befragten in der negativen Bewertung potentieller eigener Abhängigkeit, Hilfebedürftigkeit und Verletzlichkeit hervor.
Vor diesem Hintergrund sowie ihrer theoretisch fundierten Argumentation hinsichtlich einer nur über die Antizipation einer eigenen potenziellen Betroffenheit herstellbaren Reziprozität der Anerkennung „mit einem Gegenüber, das Symbole der Verletzbarkeit oder Verunsicherung trägt“ (180), plädiert sie schließlich in überzeugender Weise dafür, „das in der sozialen Arbeit übliche und partizipatorisch wichtige Prinzip „Betroffene zu Beteiligten zu machen“ (175) umzuformulieren in „Die Beteiligten zu (potentiell) Betroffenen machen“ (175). Dabei greift sie auch noch mal schriftliche Reflexionen der Studierenden zu ihren im Lehrforschungsprojekt gesammelten Erfahrungen auf. Insgesamt betrachtet hat sie damit eine weit über die Sonderpädagogik hinaus bedeutsame Arbeit vorgelegt. Durch ihre sehr gute didaktische Aufbereitung mit jeweiligem Zwischenfazit und entsprechenden Ein- und Überleitungen vermag diese Studierenden im gesamten, weiten Feld der Erziehungswissenschaften einen profunden Überblick zu Kernfragen ihrer Disziplin zu verschaffen.
EWR 15 (2016), Nr. 1 (Januar/Februar)
Vollständigkeit und Mangel
Das Subjekt in der Sonderpädagogik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015
(216 S.; ISBN 978-3-7815-2043-1; 39,90 EUR)
Michael May (Wiesbaden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Michael May: Rezension von: Danz, Simone: Vollständigkeit und Mangel, Das Subjekt in der Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152043.html
Michael May: Rezension von: Danz, Simone: Vollständigkeit und Mangel, Das Subjekt in der Sonderpädagogik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015. In: EWR 15 (2016), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2016), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152043.html