Inklusion ist in aller Munde. Im Kampf um Bestimmung, Umsetzung und Reichweite von Inklusion besteht im erziehungswissenschaftlichen Diskurs nach wie vor ein Mangel an theoretisch-reflexiven ZugĂ€ngen. Es bleibt vielfach unklar, wie Inklusion ĂŒber eine politische, rechtliche und ethische Forderung hinaus und ohne die allgemeine Aussage, Inklusion sei immer schon der genuine Auftrag moderner PĂ€dagogik, pĂ€dagogisch umgesetzt werden und auĂerpĂ€dagogische und pĂ€dagogische Exklusion bearbeiten kann.
Andreas Kuhn gelingt es hier neue MaĂstĂ€be zu setzen. In seiner als Dissertation an der Humboldt-UniversitĂ€t zu Berlin eingereichten Arbeit entwirft er eine innovative, grundlagenreflexive Perspektive insbesondere fĂŒr die Legitimation und BegrĂŒndung der SonderpĂ€dagogik als Disziplin in ihrem VerhĂ€ltnis zur Allgemeinen PĂ€dagogik. In AnknĂŒpfung an den aktuellen Diskussions- und Forschungsstand und unter Einbeziehung einer umfangreichen Literaturrezeption wird die Legitimationsfrage von PĂ€dagogik und SonderpĂ€dagogik entlang der Fragen der In- und Exklusion, der Teilhabe und des Ausschlusses sowie der Gleichheit und Ungleichheit neu justiert. Kuhn unternimmt dazu eine Rekonstruktion der sonderpĂ€dagogischen Theorieentwicklung, Forschung und Praxis in einer handlungstheoretischen und technologischen Perspektive. In den Werken von Johann Amos Comenius, Jean-Jaques Rousseau und Johann Heinrich Pestalozzi werden systematisch die Differenzen Gleichheit / Ungleichheit, Teilhabe / Ausschluss sowie Inklusion / Exklusion herausgearbeitet und in ihrer erziehungs-, bildungs- und institutionentheoretische Ausdifferenzierung verfolgt.
Statt wie in konventionellen sonderpĂ€dagogischen AnsĂ€tzen auf VersĂ€umnisse und Leerstellen in allgemeinen bzw. systematischen PĂ€dagogiken hinzuweisen und sich selbst ĂŒber das PhĂ€nomen und den Begriff der Behinderung zu legitimieren, geht Kuhn umgekehrt vor: Er geht davon aus, dass die sonderpĂ€dagogische Rede âvon PĂ€dagogik und Behinderung im Kontext der BegrĂŒndung und Legitimation der SonderpĂ€dagogik in ihrem Ausgang von Behinderung als einer vor- und auĂerpĂ€dagogisch bestimmten Form der Ungleichheit bis heute in einem vormodernen BegrĂŒndungsmuster verhaftet bleibtâ (222), weil sie die BegrĂŒndung der zentralen Annahme einer prinzipiellen Gleichheit der Teilhabe aller an pĂ€dagogischer Praxis in erster Linie auĂerpĂ€dagogisch, nicht aber innerpĂ€dagogisch im Zusammenhang mit der Forderung der EigenstĂ€ndigkeit der PĂ€dagogik in Theorie und Praxis umsetzt. Insbesondere spielen hier vor- und auĂerpĂ€dagogisch bestimmte, anthropologisch oder ethisch begrĂŒndete Theorien eine Rolle, die zwar die Grenzen der PĂ€dagogik markieren, die aber nicht eine innerpĂ€dagogische Behandlung und Bearbeitung dieser aus einer systematischen Perspektive und einer prinzipientheoretischen Legitimation her ermöglichen. Damit produziert die SonderpĂ€dagogik die Differenz von allgemeiner und Normal-PĂ€dagogik erneut und verunmöglicht damit eine pĂ€dagogische Bearbeitung der auĂerpĂ€dagogisch hergestellten und pĂ€dagogisch hergestellten Formen der Ungleichheit, des Ausschlusses und der Exklusion.
Das Buch gliedert sich in fĂŒnf Teile. Nach einer Einleitung, in der Motivation und Fragestellung der Abhandlung sowie das methodische Vorgehen dargestellt und der Forschungsstand referiert wird, werden in den drei folgenden Kapiteln zu Comenius, Rousseau und Pestalozzi disziplingeschichtlich und grundlagentheoretisch bedeutsame Problemstellungen entfaltet. In einem abschlieĂenden fĂŒnften Kapitel werden die vorausgegangenen Ăberlegungen zu âSystematischen Problemstellungen der SonderpĂ€dagogik als einer modernen PĂ€dagogikâ verdichtet und zusammengefasst.
In jeweils Ă€uĂerst differenzierten Textanalysen versucht Kuhn seinen systematischen Neuentwurf rekonstruktiv aufzuweisen. Dieser weist eine neuzeitliche Teleologie auf: Von der Ganzheit hin zur Differenzierung, von der Totalinklusion zur Transformation. Comenius habe zwar frĂŒh die KĂŒnstlichkeit der modernen Schule erkannt. Allerdings werde durch die Trias von omnes, omnia und omnino PĂ€dagogik im Modus des Ganzen beschrieben und harmonisiert. Inklusion werde so noch unter Absehung von Exklusion, gleichsam als Totalinklusion gefasst.
Bei Rousseau findet Kuhn entlang von dessen Reflexion zur pĂ€dagogischen Praxis bereits Grenzen pĂ€dagogischen Handelns (im Luhmannschen Sinne als Technologiedefizit). Rousseau gilt hier nicht als Vater bĂŒrgerlicher âNormalpĂ€dagogikâ, sondern als theoretischer Experimentator. Anstatt naturalistischer Annahmen zur Gleichheit und Ungleichheit werde der Begriff der perfectibilitĂ© als unbestimmte Bildsamkeit des Menschen eingefĂŒhrt und die Differenz von Teilhabe und Ausschluss einer demokratie- und vertragstheoretischen BegrĂŒndung der Erziehung (91ff) zugefĂŒhrt. Bei Pestalozzi werden erstmals die Fragen der Ungleichheit, der Beteiligung und der Inklusion systematisch in die pĂ€dagogischen Reflexionen integriert. Anders als bei Oelkers und Osterwalder wird Pestalozzi nicht aus seiner Wirkungsgeschichte rezipert, sondern als experimentell forschender Theoretiker vorgestellt. Allerdings gelinge es auch Pestalozzi nicht, einen reflexiven Blick auf die Unterscheidung PĂ€dagogik / Nicht-PĂ€dagogik zu werfen.
Im letzten Kapitel greift der Autor seine Umkehrung der konventionellen Perspektive systematisierend noch einmal auf. Allgemeine PĂ€dagogik als inter- und innerdisziplinĂ€rer Ort der VerstĂ€ndigung ĂŒber die Einheit und Differenz der pĂ€dagogischen Teildisziplinen und Professionen ermöglicht einen Blick auf die Aufgaben der SonderpĂ€dagogik und wechselweise einen Blick zurĂŒck auf die allgemeine PĂ€dagogik. Die Aufgabe der SonderpĂ€dagogik bestehe darin, die unterschiedlichen Formen pĂ€dagogischer vorgebrachter Ungleichheit entlang der Differenz von PĂ€dagogik und Nicht-PĂ€dagogik zu thematisieren und auf der Ebene der pĂ€dagogischen Technologien und der Didaktik eine Re-Inklusion (Prange 2001) pĂ€dagogisch vernachlĂ€ssigter Frage- und Problemstellungen zu ermöglichen, ohne einer heilen, ganzen, ganzheitlichen oder eigentlichen PĂ€dagogik als Hypostase zu verfallen.
Trotz aller Differenziertheit setzt die Arbeit ein normatives Konzept von Bildung als subjektives Konzept und von Bildsamkeit als Bestimmung der Selbstbestimmung (Benner) voraus. Daraus wird dann die Verantwortung der (Sonder-)PĂ€dagogik fĂŒr Re-Inklusion und das âzentrale Argumentâ der pĂ€dagogischen Nicht-BegrĂŒndbarkeit einer Ungleichheit der Teilhabe abgeleitet (275). Kuhns Rekonstruktion grĂŒndet sich damit auf einem Konzept, das in sich paradox ist: NĂ€mlich Selbstbestimmung einerseits als Autonomie vorauszusetzen und diese zugleich pĂ€dagogisch bzw. erzieherisch hervorzurufen und damit gerade nicht mehr voraussetzen zu können. Im Begriff der Bildsamkeit kumuliert die Ambivalenz moderner PĂ€dagogik zwischen Selbstbestimmung und Fremdbestimmung, Zwang und Freiheit (Kant), ein Widerspruch, der prinzipientheoretisch nicht aufhebbar ist. Sozialtheoretische Analysen zur Epigenese des Subjekts im Horizont von Andersheit und SozialitĂ€t zeigen aber, dass es nicht als das Zugrundeliegende fungiert, sondern gerade im PĂ€dagogischen sich vom Anderen her konstituiert. Interessant wĂ€re es gewesen, wenn der Begriff und das Konzept der Bildsamkeit an die Logik sozialer Interaktionen Anschluss gefunden hĂ€tte.
Ăberraschend ist auch, dass die Thematisierung von Inklusion und Exklusion nicht auf eine analytische Kategorie der Macht zurĂŒckgreift. Ein- und AusschlieĂungsprozeduren machttheoretisch zu analysieren wĂ€re auch fĂŒr diese Arbeit gegebenenfalls fruchtbar gewesen, sowohl auf der Ebene der historischen Rekonstruktion als auch auf der Ebene der Institutionen als auch auf disziplinĂ€rer Ebene erkenntnispolitischer Strategien in der PĂ€dagogik.
Diese Arbeit eröffnet fĂŒr SonderpĂ€dagogik und allgemeine PĂ€dagogik ein theoretisches Reflexionsniveau, das gerade in Zeiten ĂŒberbordender Inklusionsdebatten ein theoretisches Raster bereitstellt, das in seiner gleichermaĂen anregenden, systematischen und disziplinĂ€ren Perspektive eine groĂe Verbreitung in kĂŒnftige Diskussion zu wĂŒnschen ist.
EWR 14 (2015), Nr. 5 (September/Oktober)
Ungleichheit, Teilhabe, Exklusion
Systematische AnfÀnge der SonderpÀdagogik als pÀdagogische Theorie und Praxis
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2015
(257 S.; ISBN 978-3-7815-2034-9; 46,00 EUR)
Malte Brinkmann (Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Malte Brinkmann: Rezension von: Kuhn, Andreas: Ungleichheit, Teilhabe, Exklusion, Systematische AnfĂ€nge der SonderpĂ€dagogik als pĂ€dagogische Theorie und Praxis. Bad Heilbrunn/Stuttgart: Klinkhardt/UTB 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152034.html
Malte Brinkmann: Rezension von: Kuhn, Andreas: Ungleichheit, Teilhabe, Exklusion, Systematische AnfĂ€nge der SonderpĂ€dagogik als pĂ€dagogische Theorie und Praxis. Bad Heilbrunn/Stuttgart: Klinkhardt/UTB 2015. In: EWR 14 (2015), Nr. 5 (Veröffentlicht am 23.09.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378152034.html