Ein wichtiger, aber dennoch kein neuer Aspekt im Kontext von Schule und Bildung ist das Thema der Chancengleichheit. Bereits der Strukturplan des Deutschen Bildungsrates von 1970 nimmt neben der Forderung nach Förderung des Einzelnen auch die Frage der Chancengleichheit auf. Trotzdem spiegeln aktuelle Studien immer noch fehlende Chancengleichheit und Bildungsgerechtigkeit in Deutschland wider. Dabei legt die auf Inklusion ausgerichtete UN-Behindertenrechtskonvention von 2009 einen klaren Zusammenhang von Chancengleichheit und Inklusion nahe. Nur gleiche Bildungschancen, auf der Grundlage von gleichen Zugangs- und Partizipationsrechten für alle, ermöglichen die Schaffung einer inklusiven Lern- und Lebenswelt. Um inklusive Entwicklungen voranzutreiben und die notwendige Chancengleichheit zu erreichen, müssen humane und konstruktive Umgangsweisen mit Diversity in allen Bildungsbereichen selbstverständlich sein und vorhandene Forschungslücken geschlossen werden.
Hier setzt der Sammelband, der 42 Beiträge mit aktuellen Theorie-, Forschungs- und Praxisansätzen enthält, an. Die Autoren erarbeiten in ihren Beiträgen, die sechs Themenschwerpunkten zugeordnet sind, nicht nur eine Didaktik des inklusiven Unterrichts, sondern stellen neben diagnostischen Prozessen auch organisatorische Anforderungen sowie institutionelle, konzeptionelle und personelle Strukturen vor und diskutieren diese kritisch. Dafür werden, ausgehend vom ersten Themenschwerpunkt, in dem Diversity als grundlegendes Merkmal der Inklusion betrachtet wird, in den weiteren Themenschwerpunkten frühkindliche Bildung, Schulentwicklung, Didaktik und Gemeinsamer Unterricht sowie Hochschuldidaktik und -entwicklung in den Blick genommen. Abschließend werden inklusive Entwicklungen in außerschulischen Kontexten thematisiert.
In der Einführung zeigen die Herausgeber auf, dass sich Inklusion und Chancengleichheit im Bereich Schule und Bildung gegenseitig bedingen. Die einzelnen Aufsätze, bis auf zwei, werden kurz skizziert, was einen leichten Einstieg in das Thema gewährt, einen gelungenen ersten Überblick verschafft und ein gezieltes Auswählen der Beiträge ermöglicht.
Im ersten Schwerpunkt „Diversity“ beleuchten die Autoren vielfältige, voneinander unabhängige Aspekte. Aussagekräftig ist der Beitrag von Ines Boban, Andreas Hinz, Elisabeth Plate und Peter Tiedeken, die der Frage nachgehen, wie eine adäquate Sprache für inklusive Kontexte entwickelt werden kann. Aufbauend auf der Weiterentwicklung des Index für Inklusion und der damit verbundenen Problematik eine nicht-diskriminierende Bezeichnung bzw. Sprache für unterschiedlich Beteiligte zu finden, zeigen die Autoren die Schwierigkeiten auf, die entstehen, wenn Akteure im Bildungssystem benannt, aber eben nicht kategorisiert werden sollen. Weitere interessante Artikel bilden die Betrachtungen ausgewählter Forschungsprojekte. So stellt etwa Wilhelm de Terra ein DFG-Projekt hinsichtlich der Entscheidungsprozesse in Bezug auf Leistungen für Kinder und Jugendliche mit Behinderungen durch die „Torwächter“ in Institutionen (z. B. Jugendamtsmitarbeit) dar. Anhand ausgewählter Interviewpassagen macht er Teile derartiger Entscheidungsprozesse deutlich und zeigt so, wie der Umgang mit Vielfalt durch „Torwächter“ bestimmt wird. Leider wird der Ansatz einer nicht-diskriminierenden Sprache in den weiteren Aufsätzen meiner Meinung nach nicht aufgegriffen, was im Zuge des Anspruchs, die bestehenden Forschungslücken zu verringern, durchaus wünschenswert gewesen wäre.
Der zweite Teil enthält Aufsätze zur frühkindlichen Bildung im Kontext der Inklusion. So steht neben einem Beitrag von Josefin Lotte, in dem sie die Möglichkeiten der amtlichen Kinder- und Jugendhilfestatistik als Instrument für die Inklusionsforschung darstellt und deren Einbindung in Bezug zur Umsetzung der Inklusion aufzeigt, auch ein Aufsatz von Timm Albers zur Integration in Elterninitiativen innerhalb integrativer Kindergärten im Fokus.
Verschiedene Perspektiven auf Inklusion im Rahmen der Schulentwicklung bilden den dritten Teil. Am Beispiel der Prozesse in Schleswig-Holstein und Bayern wird von Jonna M. Blanck, Benjamin Edelstein und Justin J. W. Powell dargelegt, wie inklusive Reformen trotz politischer Widerstände erfolgreich sein können. Ulrich Nicklaus stellt den Zusammenhang von Organisations- und Schulentwicklung dar und zeigt anhand von Thesen, wie Inklusion gelingen kann. Weiterführend wird der Zusammenhang zwischen Inklusion und gesunder Schule durch Franziska Heinold dargestellt sowie die erfolgreiche Einbindung von Schülern mit komplexen Behinderungen von Helga Schlichting beleuchtet. International vergleichend angelegt sind die beiden abschließenden Artikel. So zeichnet Lea Schäfer die Umsetzung von Chancengleichheit und Diversität im andalusischen Schulsystem auf und setzt sich dabei kritisch mit einem dort gültigen neuen Bildungsgesetz auseinander, während Anne Sliwka das kanadische Schulsystem erläutert und Möglichkeiten für die Entwicklung inklusiver Schulen in Deutschland vorstellt. Insgesamt ermöglichen die verschiedenen Perspektiven einen guten Einstieg in die Auseinandersetzung mit inklusiver Schulentwicklung und bieten erste Anknüpfungspunkte für die schulische Praxis.
Der vierte Teil betrachtet Diversity im Spiegel didaktischer Fragestellungen und geht auf Organisationsformen des Gemeinsamen Unterrichts ein. Ines Boban, Robert Kruschel und Peter Tiedeken untersuchen die „Mathetik“, die Lehre des Lernens, unter dem Aspekt der spielerischen Möglichkeiten einer inklusiven Didaktik. Des Weiteren sind Möglichkeiten und Grenzen eines zieldifferenten Geschichtsunterrichts sowie ein Deutschunterricht, in dem über das Texteschreiben nicht nur individuelle Zugänge, sondern auch Diagnose und Förderung ermöglicht werden, Themen, die diesen Abschnitt besonders interessant und praxisnah machen.
Hochschulentwicklung und -didaktik im Kontext von Inklusion bilden den fünften Abschnitt, in dem neben den Anforderungen an eine inklusionsorientierte Hochschulentwicklung und -didaktik auch ein Konzept der inklusiven Lehrerausbildung aus dem Raum Köln durch Ursula Böing und Andreas Köpfer vorgestellt wird. Dieses Konzept bietet auf der einen Seite den Studierenden die Möglichkeit „Forschendes Lernen“ an inklusiven Partnerschulen zu erproben und auf der anderen Seite den Schulen Unterstützung bei ihren Fragen im Hinblick auf inklusive Schulentwicklungsprozesse. Daneben findet sich ein Aufsatz von Bettina Lindmeier, Dorothee Meyer und Simone Kielhorn, der ein inklusives Seminarkonzept an der Leibnitz Universität Hannover vorstellt, das Studierenden im Bachelor Sonderpädagogik und geistig behinderten Menschen die Möglichkeit bietet, gemeinsam Erfahrungen mit dem Thema Inklusion zu sammeln und diese zu reflektieren.
Das abschließende sechste Kapitel widmet sich der inklusiven Bildung in schulnahen und außerschulischen Kontexten. Hier steht vor allem der Aspekt der sozialen Arbeit im Vordergrund, der sowohl im Aufsatz von Sabine Stahl als auch in dem von Bettina Bretländer aufgegriffen wird. Die integrative Berufsbildung wird unter dem Aspekt zielgruppenspezifischer Werkzeuge und Methoden zur Beobachtung und Dokumentation von Kompetenzentwicklung als Ergänzung zur Leistungsmessung von Leo Orsolits dargestellt. Der Autor kommt dabei zu dem Ergebnis, dass die Kompetenzbilanz ein geeignetes Werkzeug zur Dokumentation und zum Sichtbarmachen von Kompetenzentwicklung sei.
Die Beiträge des Sammelbandes zeigen in zahlreichen Facetten neben verschiedenen Umsetzungsmöglichkeiten vor allem die Relevanz von Inklusion und Chancengleichheit im Bereich Bildung und Schule auf. Insgesamt lässt sich der Band als Überblickswerk zum Thema Inklusion und Chancengleichheit bezeichnen. Sowohl Lehrende als auch Forschende, die sich mit Chancengleichheit auseinandersetzen wollen, finden in diesem Buch gute Anregungen zu den anstehenden Themen der Inklusion in Schule und Gesellschaft.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Inklusion und Chancengleichheit
Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014
(356 S.; ISBN 978-3-7815-1962-6; 21,90 EUR)
Jana Rohkohl (Osnabrück)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jana Rohkohl: Rezension von: Schuppener, Saskia / Bernhard, Nora / Hauser, Mandy / Poppe, Frederik (Hg.): Inklusion und Chancengleichheit, Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151962.html
Jana Rohkohl: Rezension von: Schuppener, Saskia / Bernhard, Nora / Hauser, Mandy / Poppe, Frederik (Hg.): Inklusion und Chancengleichheit, Diversity im Spiegel von Bildung und Didaktik. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2014. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151962.html