Alois Niggli möchte mit seinem Buch „Didaktische Inszenierung binnendifferenzierter Lernumgebungen“ eine Grundlage bereitstellen für die Planung und für die praktische Umsetzung binnendifferenzierten Unterrichts. Inhaltlich kann man im Buch drei „Pfeiler“ ausmachen: Zuerst einmal arbeitet Niggli allgemeindidaktische sowie lernpsychologische Theorien auf, um Binnendifferenzierung zum einen normativ zu begründen und zum anderen Planungsentscheidungen für den Unterricht mit empirisch fundierten Fakten zu rechtfertigen. Danach beschäftigt er sich mit Voraussetzungen für den Unterricht. Dabei werden die Diagnosekompetenz von Lehrkräften, die wiederum normativ und empirisch fundiert betrachtet wird, und die curricularen Bedingungen in den Mittelpunkt gerückt. Den dritten Pfeiler bilden praktische Vorschläge für einen binnendifferenzierten Unterricht.
Die normative Forderung eines (binnen-)differenzierten Unterrichtes begründet Niggli mit der Heterogenität der Schülerschaft. Überraschend ist, dass der Autor sich hier auf die Normalverteilung des Intelligenzquotienten (IQ) beruft (vgl. 20). Einziges Heterogenitätskriterium bleibt demnach das kognitive Leistungsvermögen der Schüler. Nicht einbezogen werden hingegen soziale, emotionale oder körperliche Voraussetzungen, die doch ebenso grundlegend das Lernen eines Kindes beeinflussen.
Zur allgemeindidaktischen und lernpsychologischen Untermauerung seines späteren Planungsmodells von differenziertem Unterricht führt der Autor sowohl Ergebnisse zur Wirksamkeit offenen Unterrichts an, als auch das Modell schulischen Lernens nach Carroll sowie Studien, die das Unterrichtshandeln von Lehrkräften und dessen Wirksamkeit untersuchen. Niggli selbst nennt verschiedenste Ergebnisse und fasst sie unter dem recht allgemeinen Begriff „adaptive Maßnahmen von Lehrpersonen“ (62) zusammen. Leider werden die einzelnen Studien nur sehr kurz und dann auch nur deren wichtigste Ergebnisse wiedergegeben. Damit sich der Leser selbst ein Bild von der Güte der zitierten Studien machen kann, fehlen Aussagen zur Methodik sowie zur jeweiligen Stichprobe. Niggli selbst bezeichnet die Ergebnisse der Studien als so „mannigfaltig“ (79), dass sie einer Ordnung bedürfen würden. Eine solche Ordnung wünscht sich spätestens an dieser Stelle auch der Leser, jedoch findet er lediglich eine Art Phasenmodell für die Planung differenzierten Unterrichts, aus dem wenig hervorgeht, wie die zitierten empirischen Ergebnisse dieses Modell beeinflusst haben. Lohnenswert ist das Kapitel „Diagnose der Lernvoraussetzungen“, weil es als Voraussetzung für einen differenzierenden Unterricht die pädagogische Diagnostik im Klassenverband und die Güte pädagogischer Diagnostik in der Schule hervorhebt. Niggli zeigt auf, warum es nicht notwendig sei, dass die pädagogische Diagnostik den wissenschaftlichen Gütekriterien entspricht, sondern warum gerade eine eher subjektive, oft auch positivistische Diagnostik hilfreich für die Schüler sein könne.
Bislang konnte empirisch nicht nachgewiesen werden, dass offener Unterricht die Lernleistungen der Schüler positiver beeinflusst als ein Unterricht, der verstärkt durch direkte Instruktionen des Lehrers geprägt ist. Diese Studien zitiert auch Niggli. Dennoch spricht er sich für einen offenen Unterricht aus, der jedoch von klaren didaktischen Konzepten und „proaktivem Lehrerhandeln“ (31) geprägt sein und ein hohes kognitives Niveau verfolgen soll.
Praktische Unterrichtsvorschläge sind zu finden für die Fächer Mathematik, Deutsch und Fremdsprachen. Alle Vorschläge beschreiben jeweils eine Unterrichtseinheit, die sich über mehrere Unterrichtsstunden erstreckt. Sie ließen sich mit den Worten Manfred Bönschs als „nachgehende Differenzierung“ benennen. Sie zeichnen sich aus durch einen ersten gemeinsamen Lernabschnitt in der Klasse mit anschließender Diagnostik durch den Lehrer, woraufhin im Anwendungs- und Übungsteil durch verschiedene Aufgaben und Anspruchsformate differenziert wird. Diese Unterrichtsvorschläge Nigglis eignen sich insbesondere für Lehrer, die einen ersten Ideenpool für Differenzierungsmöglichkeiten im eigenen Unterricht suchen. Direkt umgesetzt werden können sie ganz gewiss nicht, da sie der je eigenen Klassensituation angepasst werden müssen. Nachteilig ist hierbei, dass die Diagnoseinstrumente zur Ermittlung von Ausgangsvoraussetzungen der Schüler nicht aufgeführt werden. Nachgehende „adaptive“ Elemente zeichnen sich vor allem durch Variationen der Aufgabenarten und -dichte aus. Somit greifen die hier beschriebenen Differenzierungsmaßnahmen unterschiedliches Vorwissen, die verschiedenen Interessen sowie die kognitiven Voraussetzungen der Schüler auf.
Ein je eigenes Kapitel widmet Niggli den Methoden „Gruppenrallye“, „Gruppenturnier“ und „Gruppenrecherche“, die jeweils an einer konkreten Unterrichtseinheit dargestellt werden. Auch diese Kapitel eignen sich für interessierte Lehrkräfte oder auch für Lehramtsstudenten, die sich mit diesen Methoden vertraut machen wollen. Die Kapitel reihen sich ein in die Vielzahl methodischer Werke, die kooperatives Arbeiten im Unterricht praktisch verdeutlichen wollen.
Insgesamt wäre ein grundlegendes allgemeindidaktisches Konzept zu einem differenzierten Unterricht, worauf Niggli ja mit seinem Buch hinarbeiten möchte, gewiss wünschenswert. Vollendet ist es aber bei weitem nicht. Niggli versucht, die unterschiedlichen Ergebnisse der Lehr- und Lernforschung zu systematisieren. Die wissenschaftliche Aufarbeitung kommt dabei jedoch zu kurz. Die Herleitung eigener Thesen, die eine zu überprüfende, empirisch fundierte Theorie zur Differenzierung im Unterricht anstoßen könnten, fehlt. Die dargestellten Praxisbeispiele können durchaus als Ideenpool lohnenswert sein. Leider betrachten sie nicht Differenzierungsmöglichkeiten aufgrund unterschiedlicher sozialer, emotionaler und physischer Voraussetzungen in einer Lerngruppe. Derlei umsetzbare Konzepte sind notwendig vor allem für inklusiv unterrichtende Schulen: Wie unterrichtet man körperlich beeinträchtigte und nicht beeinträchtigte Kinder gemeinsam? Wie binde ich chronisch kranke Kinder ein? Wie unterrichtet man Kinder mit Lern- und / oder Konzentrationsschwächen gemeinsam mit Kindern ohne diese Teilleistungsschwächen? Welche empirischen Ergebnisse gibt es dazu? Wie kann ein grundlegendes allgemeindidaktisches Konzept dazu aussehen? Für diese derzeit brennenden Fragen gibt Niggli leider keine neuen Denkanstöße.
EWR 14 (2015), Nr. 1 (Januar/Februar)
Didaktische Inszenierung binnendifferenzierter Lernumgebungen
Theorie – Empirie – Konzepte – Praxis
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013
(295 S.; ISBN 978-3-7815-1942-8; 19,90 EUR)
Elke Kurth-Buchholz (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Elke Kurth-Buchholz: Rezension von: Niggli, Alois: Didaktische Inszenierung binnendifferenzierter Lernumgebungen, Theorie – Empirie – Konzepte – Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151942.html
Elke Kurth-Buchholz: Rezension von: Niggli, Alois: Didaktische Inszenierung binnendifferenzierter Lernumgebungen, Theorie – Empirie – Konzepte – Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2013. In: EWR 14 (2015), Nr. 1 (Veröffentlicht am 06.02.2015), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151942.html