„In Deutschland schwänzen nach Schätzungen des Deutschen Lehrerverbands (DL) rund 200.000 Schüler täglich den Unterricht… DL-Präsident Josef Kraus betont, dass das Schulschwänzen sich statistisch sehr unterschiedlich darstelle: In Kleinstädten und in kleineren Ortschaften etwa komme es viel seltener vor als in Großstädten, in denen Schulschwänzer sich in der Anonymität verstecken könnten. Die Konsequenzen, die die Behörden aus dem Schulschwänzen ziehen, unterscheiden sich von Bundesland zu Bundesland und von Kommune zu Kommune: Einige reagieren mit Geldbußen und Jugendarrest, andere ziehen Beratung und verstärkte Betreuung vor … Pauschalstrafen für Schulverweigerer und ihre Familien – wie von manchen Politikern gefordert – lehnt Kraus ab.“ [1] Es gelte herauszufinden, warum Schülerinnen und Schüler von der Schule fernbleiben, bevor man über Strafen nachdenke.
Wer sich intensiver mit der Thematik des Fernbleibens von Unterricht und Schule beschäftigen möchte oder muss und z.B. mit Hilfe von Suchmaschinen im Internet recherchiert, wird angesichts der enormen Menge an Informationen vor einer kaum überschaubaren Aufgabe stehen: So ergibt die Suche nach dem Begriff „Schulabbruch“ bei Google im Mai 2013 mehr als 52.000 Einträge. Sucht man nach „Schulschwänzen“, werden mehr als 137.000 Beiträge gelistet.
Während das Phänomen „Schulabbruch“ in den USA aus wissenschaftlicher Sicht als gut untersucht angesehen werden kann, wird das Thema in Deutschland erst seit einiger Zeit intensiver wissenschaftlich bearbeitet. Im Folgenden werden zwei im vergangenen Jahr in der Bundesrepublik erschienene Bände vorgestellt.
Heinrich Ricking und Gisela Schulze geben in ihrem Herausgeberband einen Überblick über die Befunde, die in der Forschung in Deutschland inzwischen vorliegen. Sie gliedern den Band dazu in vier Abschnitte, deren Aufteilung in der Einleitung vorgestellt wird: In „Grundlegung und Gegenstand“ werden zunächst von Ricking und Schulze die aktuelle Lage zum Thema beschrieben, Charakteristika benannt und erste Einblicke in Möglichkeiten des Umgangs mit dem Phänomen gegeben. Clemens Hildebrand, Marie-Christine Vierbuchen und Tobias Hagen bieten anschließend aktuelle Daten zum Schulabbruch und setzen sich mit der Brisanz begrifflicher Unschärfen und deren Folgen auseinander. Dazu stellen sie zunächst die dreigeteilte Klassifikation von Schulabsentismusformen nach Neukäter und Ricking vor (23, Tab:1) und erweitern diese durch die Klärung begrifflicher Probleme zum Schulabbruch / Dropout, indem sie z.B. die Gruppe der Schulabbrecher nach Schulabgängern, Schulabbrechern und Ausbildungsabbrechern auf Grundlage der Autorengruppe Bildungsberichterstattung differenzieren (25f) und diese Unterscheidung anschließend nutzen, um den Begriff Dropout unter (27) Berücksichtigung der Merkmale Schulpflicht, Schulform und Schulabschluss zu unterscheiden.
Der zweite Teil „Ursachen und Folgen“ beginnt mit Dierk Baiers Darstellung seiner nationalen und repräsentativen Befragung von Neuntklässlern, mit Hilfe derer er Faktoren nachweist, die Schulabsentismus beeinflussen. Baier unterscheidet hierbei „Push-“ und „Pullfaktoren“ und beschreibt das „positive Lehrkraft-Schüler-Verhältnis“ und das „positive Schüler-Schüler-Verhältnis“ als Pull-Faktoren, denen das „negative Lehrkraft-Schüler-Verhältnis“ und das „negative Schüler-Schüler-Verhältnis“ als schulschwänzen fördernde Push-Faktoren gegenübergestellt werden (40ff). Arthur M. Horne und Pamela Orpinas fokussieren ihre Forschung auf schulische Gewalt, blicken gezielt auf das Bullying als Form zielgerichteter Gewalt mit Schädigungsintention, präsentieren ihre Erkenntnisse zum Bezug zwischen Bullying und Dropout und diskutieren Lösungsansätze. Als Beispiel für Principles of Prevention sei hier der Aspekt „Evaluate and create awareness of the problem“ genannt, in dem pointiert die grundlegende Bedeutung einer Problemanalyse beschrieben wird: „At the school level, administrators, educators, and family members must become aware to the extent to which the problem of bullying exists …“(65). Eine Analyse von Dropouts sowie Wege der Intervention nach schulabsentem Verhalten von Jugendlichen mit Migrationshintergrund beschreiben Anna-Maria Hintz und Michael Grosche in ihrem Beitrag, und Menno Baumann erklärt seine Erkenntnisse zum Zusammenhang von Peergroups / Quartierszugehörigkeit und schulischem Scheitern. Er beschreibt anschaulich den daraus resultierenden Teufelskreis, der letztendlich zum Schulabbruch führen kann. Mit der Darstellung der Ergebnisse einer Schweizer Längsschnittstudie zum Schulabsentismus verdeutlicht Margrit Stamm in komprimierter Weise wesentliche Auszüge ihres unten vorzustellenden Bandes. Dabei geht es darum, wie Schulabsentismus und Schulqualität in unmittelbarem Zusammenhang stehen, welche Mitverantwortung Schulen am Entstehen respektive Verhindern schulabsenter Verhaltensformen haben. Und wie sich persönliche Bedingungsvariablen auf das Verhalten der Betroffenen auswirken. Der zweite Teil endet mit einem Blick auf die Übergänge von der Schule in den Beruf. Gerhard Christe betrachtet die Prozesse des Misslingens und verknüpft seine Erkenntnisse mit Vorschlägen zur Prävention und Intervention und leitet damit auch zum dritten Teil des Buches über, in dem es um Erkenntnisse zu Prävention und Intervention schulabsenten Verhaltens mit dem Ziel der Aufarbeitung und Initiierung von Veränderungen geht. Dieser Teil enthält neun Textbeiträge und umfasst etwa die Hälfte des Bandes.
Die Darstellungen geben insgesamt einen Einblick in die aktuelle wissenschaftliche Erkenntnislage: Es kann als bewiesen angesehen werden, dass der Prävention von unerlaubtem Fernbleiben von der Schule große Bedeutung zukommt. Die Fortschritte in der Forschung, z.B. Metaanalysen zu Risikofaktoren mit systemischem Blick auf die Schule und darauf abzuleitende präventive Schritte (Schmitz-Feldhaus, Wittrock, Rieß, 128ff), sowie die positiven Erfahrungen in der pädagogischen Praxis (z.B. Amberger, Gregersen und Pietrasik, 211ff) ergeben ein zunehmend erkennbares Gesamtbild von Erkenntnissen und – daraus folgend – Handlungswissen, zu dem auch die Schulsozialarbeit erfolgreich beisteuern kann (Speck, Olk, 174ff). Auf diese Weisen kann es gelingen, auch für dropout-gefährdete Schülerinnen und Schüler mit Leistungsproblemen oder solchen aus prekären Lebensumfeldern den schulischen Lern -und Lebensraum so zu gestalten, dass sie ihn als positiv erleben. So kann man etwa in dem Beitrag von Thorben Wist nachlesen, wie es mit Hilfe der Neuen Medien gelingen kann, Schule selbst für Kinder mit schulabsenten Erfahrungen attraktiv(er) zu machen (202ff).
Der Band endet mit zwei Beiträgen zur Intervention von schulabsentem Verhalten außerhalb von Schule: Bei der Reintegration in schulischen Alternativeinrichtungen liegt die Zielsetzung in der erneuten schulischen und sozialen Einbindung von Schülerinnen und Schülern mit schulabsentem Verhalten. Der besondere Wert liegt in der Absicht Tendenzen zum Schulabbruch entgegenzuwirken und den Betroffenen eine Beschulung zu ermöglichen (Ricking 242ff). Holger Koppe und Elisabeth Ranke erklären Möglichkeiten der Diagnostik und Therapie kinder- und jugendpsychiatrischer Ursachen des Schulabsentismus und verdeutlichen, dass Schüler mit schulverweigernden Handlungsmustern eine kinder- und jugendpsychiatrische Diagnose aufweisen, beschreiben das therapeutische Vorgehen anhand eines Fallbeispiels und leiten daraus die Bedeutung multimodaler und multiprofessionaler Konzepte ab.
„Der Sammelband richtet sich an Studierende, an Lehrende in Hochschulen, in allgemeinbildenden Schulen, in Einrichtungen der Jugendhilfe sowie an interessierte Familien und professionelle Helfer“, schreiben die Herausgeber (10). Somit ist die Frage zu stellen, worin der besondere Wert dieses Buches bezogen auf die genannten Adressaten liegt?
Dieser Sammelband über theoretische und empirische Befunde zum Schulabbruch zeigt auf, dass es sich bei schulabsentem Verhalten in all seinen Erscheinungsformen um ein äußerst komplexes Problem handelt, das multikausal zu betrachten ist: Schulverweigerung ist weit mehr als nur ein Problem für Schule und Lehrer. Es handelt sich vielmehr um ein gesellschaftliches Problem, das es systemisch zu betrachten gilt. Letztendlich stellt dieses Verhalten auch ein Problem für den betroffenen Schüler, die betroffene Schülerin selbst dar, denn Schulverweigerer haben sich vom Unterrichtsgeschehen oft schon während ihrer Anwesenheit in der Schule abgekoppelt und haben in Folge dessen den Schritt hin zum Fernbleiben vollzogen. Entsprechend groß sind die entstandenen Defizite, die eine Rückkehr – sogar unter verbesserten Bedingungen – erschweren oder gar unmöglich erscheinen lassen. Dazu kommt und daraus resultiert auch eine persönliche Unzufriedenheit mit sich selbst.
Frust, Perspektivlosigkeit und Desinteresse lassen die Betroffenen in eine Art Teufelskreis zu geraten: Abwesenheit vom Unterricht – schlechte Noten – sinkende Motivation, die Schule zu besuchen – Fernbleiben vom Unterricht – Suchen von Bestätigung in anderen Bereichen – sinkende Chancen, die Schule erfolgreich zu absolvieren – Frustrationen gefährden – delinquente Verhaltensweisen drohen… Noch problematischer wird das Ganze, wenn Eltern, Lehrer und Schule sich mit der Schulverweigerung arrangieren, also wenn Involvierte wegsehen.
Der besondere Wert des Buches liegt in der Bereitstellung eines kompakten und gut lesbaren Überblicks über die aktuelle wissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema und wirkt auf mich als beteiligter Leser wie ein Appell, mein Wissen und Handeln bezogen auf „das Schulschwänzen in einen neuen Kontext zu stellen und seine vielfältigen Erscheinungsformen aus der Etikettierung als „harmloser Regelverstoß“ herauszulösen. Traditionelle Erklärungen, wonach Schulabsentismus in erster Linie mit einem ungünstigen sozialen Hintergrund und mit Leistungsschwäche resp. niedriger Intelligenz einhergehen, sind ebenso brüchig geworden wie die Überzeugung, es handle sich um ein individuell verantwortetes Problem…“ [2]. Es gelte herauszufinden, warum Schülerinnen und Schüler von der Schule fernbleiben, bevor man über Strafen nachdenke, wurde der Präsident des Deutschen Lehrerverbandes eingangs zitiert. Dieses Buch liefert die Basis dafür.
Es liegt geradezu auf der Hand an dieser Stelle den zweiten zu besprechenden Band anzuführen, die Studie von Margrit Stamm und ihren Mitarbeitern. Ich möchte eher von einer Würdigung sprechen, denn es handelt sich um „die erste Untersuchung im deutschsprachigen Raum, die sowohl längsschnittig angelegt war, mit vor dem Drop –out erhobenen Daten operieren konnte und auf der Basis der Ergebnisse ein Präventionsprogramm (STOP-DROP) entwickelt hat.“(9)
Stamm, Holzinger-Neulinger und Suter liefern nach der Vermittlung theoretischer Grundlagen und Informationen zum Forschungsstand (Teil A, 23ff) und der Vorstellung ihres Schweizer Projekts bezogen auf Untersuchungsdesign und Zielsetzung sowie Ablauf und Methodenwahl sowie Auswertung (Teil B ,59ff) präzise Ergebnisse: Diese reichen von der Typologie der Dropouts (Schulmüde, Gemobbte, familiär Belastete, Delinquente, Hänger) inklusive Fallbeispiele, bis hin zu Fragen nach der Rolle von Familie und Peers, betrachten die Schulen, die Schulabbrüche verhindern oder provozieren können und gelangen auf diese Weise zu der Frage nach Handlungsmöglichkeiten (Teil C: Ergebnisse und Teil D: Präventions- und Interventionsmöglichkeiten). Der Status Quo der Präventions- und Interventionsforschung wird beschrieben und präventive Maßnahmen, untergliedert in individuelle Präventionsmaßnahmen, innerschulische Maßnahmen, Maßnahmen zur Elternarbeit und Maßnahmen zur frühkindlichen Bildungs- und Integrationsförderung erklärt. Es folgen Kurzdarstellungen interventiver Maßnahmen in Form von Zusatzprogrammen und Alternativprogrammen und die Ergebnisse der Forschungen werden bilanziert: Viele Dropouts werden zu Rückkehrern, allerdings mit zwischenzeitlich neuen Abbrüchen und Wiedereinstiegen (127ff).
Im Anhang folgt das STOP-DROP-Programm in Form einer „Handreichung zur Prävention von Schulabbrüchen“(175ff), das der Erfassung von Schuldistanzierung und Schulausstieg dient (Diagnostik), und Interventionen empfiehlt (Mentoren für Ausstiegsgefährdete, Unterstützung der Schulleistungen, Optimierung des Unterrichtens und der Lernumgebung, Motivation und (vorschulische) Förderarbeit). All das geschieht sehr konkret und regt zum Handeln an.
Grundsätzlich ist zu beachten, dass das Fernbleiben von Unterricht und Schule kein ausschließlich individuell verantwortetes Problem ist und nicht nur zu Lasten der Betroffenen oder ihrer Familien betrachtet werden darf. Auch die Schulen sind verantwortlich, müssen Haltekraft entwickeln, Auffälligkeiten diagnostizieren und Rückzugsprozesse unterbrechen sowie Beziehungs- und Lernangebote entwickeln. Und weil es „den“ Dropout nicht gibt, bedarf es unterschiedlicher Maßnahmen. Etwa ein Drittel der Schulabbrecher gilt als Risikogruppe.
Margrit Stamm belegt mit ihrer Studie für mich beeindruckend, dass Drop-outs auch als institutionelles Problem zu betrachten sind. Das belegt eine hohe Verantwortung der Institution Schule und der darin Beschäftigten – aber auch der Verantwortlichen von Schulverwaltung bis Schulpolitik.
Für die hiesige Debatte zu Schulabbruch lesen sich beide Bände mit Gewinn. Deutlich wird, dass die Schweizer Situation derjenigen in der Bundesrepublik ähnelt, was eine Übertragbarkeit der Ergebnisse aus dem vorgestellten Projekt nahelegt.
[1] So nachzulesen etwa auf der Homepage des Deutschen Lehrerverbandes: http://www.lehrerverband.de/aktuell_schulschwaenzer.html [07.06.2013]
[2] Stamm, Margrit: Schulabsentismus. Anmerkungen zu Theorie und Empirie einer vermeintlichen Randerscheinung schulischer Bildung. In: Zeitschrift für Pädagogik 52(2006)2, 285-302; hier: 285
EWR 12 (2013), Nr. 4 (Juli/August)
Sammelrezension zu Schulabbruch
Schulabbruch – ohne Ticket in die Zukunft?
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(272 S.; ISBN 978-3-7815-1874-2; 19,90 EUR)
Schulabbrecher in unserem Bildungssystem
unter Mitarbeit von Melanie Holzinger-Neulinger und Peter Suter
Wiesbaden: VS Verlag 2012
(197 S.; ISBN 978-3-531-18275-9; 22,99 EUR)
Norbert Möhle (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Norbert Möhle: Rezension von: Ricking, Heinrich / Schulze, Gisela C. (Hg.): Schulabbruch – ohne Ticket in die Zukunft?. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151874.html
Norbert Möhle: Rezension von: Ricking, Heinrich / Schulze, Gisela C. (Hg.): Schulabbruch – ohne Ticket in die Zukunft?. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 12 (2013), Nr. 4 (Veröffentlicht am 24.07.2013), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151874.html