Jugendhilfe und Schule haben im für die Gesellschaft wesentlichen Handlungsfeld der Erziehung und Bildung unterschiedliche, teilweise komplementäre Aufträge. Während Schule Wissen und Kompetenzen systematisch vermitteln und soziale Integration sowie Differenzierung leisten soll, wird von der Kinder- und Jugendhilfe erwartet, dass sie einen Beitrag zur sozialen Integration leistet, indem sie die individuelle und soziale Entwicklung fördert und so Bildungsbenachteiligungen vermeidet bzw. abbaut. Diese historisch gewachsene Situation trifft auf komplexe gesellschaftliche Wandlungsprozesse, die eine dauerhafte, d. h. strukturell fundierte Zusammenarbeit dieser beiden, bisher oft nur nebeneinander arbeitenden Systeme immer dringlicher erscheinen lässt.
Der vorliegende Sammelband „Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule“ versammelt hierzu 16 Beiträge, die zudem noch durch vier weitere Beiträge im Internet ergänzt werden. Auf eine Gliederung des Buches in thematische Abschnitte wird leider verzichtet. Ein großer Anteil der Beiträge beschreibt notwendige strukturelle Rahmenbedingungen und / oder gibt konkrete Handlungsempfehlungen für eine gelingende Kooperation zwischen Jugendhilfe und Schule. Dies ist einerseits die große Stärke dieses Sammelbandes, der dadurch vor allem für all jene außerordentlich hilfreich sein dürfte, die konkret mit der Planung, Organisation oder Evaluation von Kooperationsbeziehungen befasst sind. Da sich die Autoren jedoch hinsichtlich der sinnvollen Maßnahmen relativ einig sind, stellt sich beim chronologischen Durchlesen des Buches irgendwann der Eindruck ein, nun nicht mehr viel Neues darüber zu erfahren, sondern lediglich Ergebnisse früherer Beiträge noch einmal auf Basis der Erfahrungen weiterer Modellprojekte bestätigt zu bekommen. Auch wenn eine Zuordnung der Beiträge zu einem theoretisch ausgerichteten Teil und einem eher handlungsorientierten Teil des Buches oft nicht eindeutig vorzunehmen ist, hätte dies eine gezieltere Nutzung des Buches erlaubt.
In jenen handlungsorientierten Teil hätte man Jürgen E. Schwabs erhellenden Beitrag einordnen können, der Hemmnisse und Erfolgsfaktoren für Kooperationen der unterschiedlichen Systeme Schule und Jugendhilfe am Beispiel bereits bestehender regionaler Netzwerke benennt und dabei insbesondere auf die Entwicklung und Evaluation von Konzepten eingeht. Heinz-Jürgen Stolz, selbst Leiter einer nordrhein-westfälischen Koordinierungsstelle für Modellkommunen, beschreibt konkrete Schritte zum Aufbau einer lokalen Bildungslandschaft. Clemens Hillenbrand plädiert dafür, sich „an international anerkannten evidenzbasierten Präventionsprogrammen zu orientieren“ (11) und stellt zwei dieser Programme näher vor. Hiltrud Loeken stellt Ergebnisse aus der wissenschaftlichen Begleitung des Frankfurter Zentrums für Erziehungshilfe während seiner Aufbauphase vor. Dabei fokussiert sie auf die Herausforderungen der Entwicklung einer Kultur der professionellen Vielfalt. Die von Käppler und Thümmler vorgestellte Studie untersucht Kooperationsnetzwerke zwischen Schule, Jugendhilfe und dem Gesundheitssystem in Bezug auf von AD(H)S betroffene Kinder und Jugendliche. Auch hier werden konkrete Faktoren des Gelingens, diesmal auf der Ebene der beteiligten Lehrer, aufgezeigt. Hinderliche und fördernde Faktoren in Bezug auf institutionelle Strukturen und Prozesse beschreibt hingegen Werner Baur in Anschluss an seine Darstellung eines Praxisentwicklungsprojekts zur Kooperation von Schule, Erziehungshilfen und Sozialen Diensten im Landkreis Esslingen.
Der Band versammelt auch einige interessante Beiträge, die sich mit den jeweiligen Bildungs- und Erziehungsverständnissen von Schule und Jugendhilfe beschäftigen. Innerhalb der Fachdiskussion in der Jugendhilfe hat sich das Verständnis von und das Verhältnis zu Bildung in den letzten Jahrzehnten mehrfach gewandelt. Rolf Göppel beschreibt in seinem sehr informativen Beitrag die Entwicklungen dieser Debatte und setzt sie in Beziehung zu Bildungsbegriffen der schulpädagogischen Diskussionen. Auch Peter Marquard diskutiert in seinem Beitrag das Bildungsverständnis der Jugendhilfe und vertritt eine Ausdehnung des Begriffs auf die „Befähigung zu eigenbestimmter Lebensführung“ (166). Wie auch Göppel betrachtet er als die Aufgabe der Jugendhilfe, Rahmenbedingungen an nicht-formellen Bildungsorten zu schaffen, die Bildungsprozesse ermöglichen. Dabei ist längst nicht jedes Freizeitangebot mit Bildungsförderung gleichzusetzen. Als Schlüssel zur Schaffung jener bildungsfördernden Rahmenbedingungen sieht er die Sozialraumorientierung des Bildungswesens insgesamt. Diese stellen Deinet und Krisch vor und skizzieren verschiedene Methoden der Sozialraumanalyse sowie das Konzept einer offenen, sozialraumorientierten Schule. Jugendhilfe fungiert dabei als Brücke zwischen Schule und den weiteren Lernorten.
Wenn Jugendhilfe in das Konzept der Ganztagsschule integriert wird, drohen ihr wichtige Strukturprinzipien, vor allem jenes der Freiwilligkeit, verloren zu gehen. Eva Lang diskutiert, wie dies zu vermeiden wäre und was man durch eine Veränderung jener Prinzipien unter Umständen an neuen Möglichkeiten hinzugewinnen könnte. Wolf Rüdiger Wilms hingegen stellt in seinem kurzen, aber sehr lesenswerten Beitrag zunächst einmal den Sinn der Ganztagsbeschulung insgesamt in Frage. Die Gefahr bestehe darin, aufgrund von Vorurteilen Jugendliche „von der Straße“ (206) holen zu wollen, die eigentlich sinnvollen Nachmittagsbeschäftigungen nachgehen. Will Ganztagsbildung wirklich ein Mehr an Bildung bieten, muss sie mehr sein als nur Betreuung. Wilms stellt als Alternative das Konzept der Lebenskunst von Wilhelm Schmid vor. Ein weiteres alternatives Konzept für die Ganztagsschule kann Freizeitbildung sein, wie sie Reinhard Markowetz vorstellt. Er geht davon aus, dass die heutigen Kinder und Jugendlichen so viel Freizeit haben werden wie nie zuvor. Um diese neue Freizeit sinnvoll und für ganzheitliche Bildungsprozesse zu nutzen, sollen Schule und Jugendhilfe ein professionelles Verständnis von Freizeitbildung entwickeln.
Stefan Maykus betrachtet Situation und Auftrag der Kinder- und Jugendhilfe auf Basis des SGB VIII. Er wendet sich gegen ein vereinfachendes Verständnis der Kinder- und Jugendhilfe als Bildungsinstanz, da dies nur einen Teil ihrer Aufgaben ausmacht. Im Kern ist sie ein „sozialpädagogischer Ort“ (150), der die sozialen Voraussetzungen für gelingende Bildungsbiographien schafft. Wie diese Voraussetzungen aussehen können, beschreiben Steinebach und Steinebach in ihrem Beitrag über Resilienzförderung, in dem sie ganz allgemein aufzeigen, was Eltern und Schule dazu beitragen können, um Kinder zu fördern.
Anke Spies kritisiert Babysimulationsprogramme als ein problematisches Lernarrangement, das auf Entmutigung setze, statt auf Empowerment. Das von ihr präferierte Praxisprojekt der Schüler/-innenfirma „Girls Work“ sei dagegen wesentlich nachhaltiger, weil auf positive Selbstwirksamkeitserfahrungen ausgelegt. Clemens Dannenbeck problematisiert in seinem Beitrag ein Begriffsverständnis von Inklusion, das diesen zum bloßen Synonym für „eine anzustrebende heile Welt“ werden lässt. Damit werde die Möglichkeit zur kritischen Praxisreflexion aufgegeben, die der Begriff in seiner systemtheoretischen Bedeutung erst wirklich eröffne.
Der Sammelband bietet insgesamt eine Fülle von Praxisberichten und -anregungen. Auch das Bildungsverständnis, vor allem der Jugendhilfe, die sich gegenüber der Bildungsinstitution Schule in der gemeinsamen Zusammenarbeit ihrer eigenen Grundlegungen bewusst sein muss, wird breit und durchaus aus sehr unterschiedlichen Perspektiven diskutiert. Wer sich mit den Entwicklungen und Diskussionen in diesen Feld vertraut machen möchte, dem sei dieses Buch empfohlen.
EWR 13 (2014), Nr. 6 (November/Dezember)
Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule
Inklusion und Chancengerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(304 S.; ISBN 978-3-7815-1873-5; 21,90 EUR)
Sonja Breker (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sonja Breker: Rezension von: Markowetz, Reinhard / Schwab, Jürgen E. (Hg.): Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, Inklusion und Chancengerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151873.html
Sonja Breker: Rezension von: Markowetz, Reinhard / Schwab, Jürgen E. (Hg.): Die Zusammenarbeit von Jugendhilfe und Schule, Inklusion und Chancengerechtigkeit zwischen Anspruch und Wirklichkeit. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 13 (2014), Nr. 6 (Veröffentlicht am 04.12.2014), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151873.html