Mit dem Titel des zu besprechenden Bandes, der sich an Studierende, Lehrer und Forscher wendet, wird ein Thema aufgegriffen, das im Diskurs über Unterricht und insbesondere über den Umgang mit Heterogenität von großer Bedeutung ist. Der Band enthält neun Beiträge, die von Unterrichtsqualität über Genderfragen bis hin zu Lehrerfortbildungen reichen. Die Autorinnen und Autoren stammen aus der Mathematikdidaktik, der Schulpädagogik und allgemeinen Didaktik sowie der Pädagogischen Psychologie.
Im ersten Beitrag von Christine Pauli wird ein konzentrierter Überblick über die Forschungslage zu Merkmalen guten Unterrichts gegeben. Zunächst wird ein Paradigmenwechsel in der Unterrichtsforschung thematisiert, wonach neben Beobachterexpertisen verstärkt die Perspektiven von Beteiligten in den Blick zu nehmen sind. Die in diesem Zusammenhang berichteten Untersuchungsergebnisse, z.B. eine hohe Übereinstimmung der Schülerperspektive mit empirischen Befunden hinsichtlich lernwirksamer Faktoren im Unterricht, münden sodann in ein Plädoyer für die Berücksichtigung der Schülersicht auf den Unterricht.
Die nächsten beiden Beiträge widmen sich der Darstellung von Forschungsprojekten zu differenzierendem Mathematikunterricht. Timo Leuders und Susanne Prediger wählen als Ausgangspunkt die Darstellung von Differenzierungsansätzen und -anforderungen bezogen auf die Kernprozesse des Mathematikunterrichts. Hierunter verstehen sie ein Anknüpfen an Vorerfahrungen und Interessen, ein Erkunden neuer Zusammenhänge, den Austausch über unterschiedliche Wege, das Ordnen als Systematisieren und Sichern sowie das Vertiefen durch Üben und Wiederholen. Die theoretischen Ausführungen hierzu werden jeweils durch ein Aufgabenbeispiel aus dem an der PH Freiburg und der TU Dortmund angesiedelten Projekt „Kontexte für sinnstiftendes Mathematiklernen“ (KOSIMA) veranschaulicht und durch die Analyse einer Schülerbearbeitung ergänzt. Regina Bruder und Julia Reibold berichten vom niedersächsischen Modellprojekt MABIKOM (Mathematische Binnendifferenzierende Kompetenzentwicklung in einem mit neuen Technologien unterstützten Mathematikunterricht). Nach Darstellung des zugrundeliegenden Theoriemodells werden Aufgabenbeispiele vorgestellt. Die Inhalte beider Beiträge sind im Wissenschaftskontext bekannt, gleichwohl bieten sie interessierten Lehrkräften methodische Anregungen und Ermutigungen, um Differenzierung im Unterricht vorzunehmen. Anzumerken ist, dass eine bessere Qualität der eingefügten Abbildungen nicht nur in diesen beiden Beiträgen die Lektüre erleichtern würde.
Sonja Mohr und Angela Ittel beleuchten die Sicht Studierender hinsichtlich der Wirksamkeit bildungswissenschaftlicher Ausbildungsinhalte in der Lehrerausbildung in mathematisch-naturwissenschaftlichen Fächern. Nach den Ausführungen zum Forschungsstand folgt eine detaillierte Darstellung einer eigenen Studie, die die Selbsteinschätzung Studierender verschiedener Fächergruppen und Schulformen hinsichtlich der Kompetenzen Unterrichten, Erziehen, Beurteilen und Innovieren untersucht. Die Ergebnisse werden auch im Vergleich mit anderen Studien, z. B. TEDS-M (Teacher Education and Development Study in Mathematics), diskutiert.
Anna-Katharina Praetorius, Frank Lipowsky und Karina Karst widmen sich der Frage nach den diagnostischen Kompetenzen von Lehrkräften als einem wesentlichen Faktor im Gefüge differenzierenden Unterrichts. Hierzu werden verschiedene Modelle zu diagnostischen Kompetenzen und deren Erfassung vorgestellt. Insbesondere wird kritisch diskutiert, inwieweit diagnostische Kompetenz mit Urteilsgenauigkeit gleichzusetzen ist.
Kern des Beitrags von Manuela Leidinger und Franziska Perels ist die Darstellung dreier Interventionsstudien zur Förderung des selbstregulierten Lernens im Fach Mathematik. In zwei Studien richteten sich die Interventionen direkt an die Lernenden, in der dritten Studie wurde eine Qualifizierungsmaßnahme für Lehrkräfte als indirekte Intervention evaluiert. Alle drei Studien zeigen grundsätzlich positive Effekte, aus denen die Autorinnen Hinweise für eine Steigerung der Qualität von Unterricht ableiten.
Die beiden Herausgeberinnen stellen eine Studie vor, die das Zusammenspiel von Unterrichtsmerkmalen, Fähigkeitsselbsteinschätzungen Lernender und das Interesse am Mathematikunterricht untersucht. Zur Erfassung der Unterrichtsmerkmale wurden, dem im Beitrag von Pauli angesprochenen Paradigmenwechsel folgend, subjektive Beurteilungen durch Schülerinnen und Schüler herangezogen. Ähnlich wie im Beitrag von Mohr und Ittel erfolgt die statistische Analyse mit quantitativen Methoden sehr detailliert. An der Thematik der Studie interessierte Lehrkräfte dürften hier auf die knappen Zusammenfassungen angewiesen sein.
In den letzten beiden Beiträgen von Jürgen Budde sowie Sabine Bünger und Angela Ittel stehen geschlechterspezifische Aspekte eines mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterrichts im Mittelpunkt. Der Beitrag von Budde gibt zunächst einen Überblick über geschlechterspezifische Aspekte in der Unterrichtsforschung. Anschließend folgen ausführliche qualitative Analysen beispielhafter Unterrichtsszenen aus dem Mathematikunterricht. Bünger und Ittel stellen eine Lehrerfortbildung von Mathematiklehrkräften zum Umgang mit Heterogenität bezogen auf Unterschiede zwischen den Geschlechtern und kulturelle Unterschiede dar. Ausgehend von Erkenntnissen zu lernförderlichen Aspekten für den Mathematikunterricht werden im Fortbildungskonzept auf Lehrerseite vier zentrale Bereiche (Professionswissen, Motivation, Überzeugungen und Selbstregulation) im Kontext der individuellen Faktoren Geschlecht und Migration auf Schülerseite aufgegriffen.
Differenzierung wird von den Herausgeberinnen als eine Möglichkeit zur Behebung von Problemen des Mathematikunterrichts angesehen. Der Blick aus verschiedenen Fachwissenschaften auf dieses Thema wird durch die Beiträge der Autoren aus verschiedenen Disziplinen umgesetzt. Da allerdings in der Mehrzahl der Beiträge nur auf das Fach Mathematik Bezug genommen wird, bleibt eine Umsetzung der aus dem Titel und Untertitel des Buches resultierenden Ansprüche fraglich. Aus Rezensentensicht sind derlei Ansprüche, die sich aus den Formulierungen „mathematisch-naturwissenschaftlich“ und „Implikationen für Theorie und Praxis“ ergeben, freilich ohnehin kaum erfüllbar, da – bei allen Gemeinsamkeiten, die es geben mag – sich allein die Didaktiken der naturwissenschaftlichen Fächer von der Didaktik der Mathematik unterscheiden und eine Analogiebildung nicht immer möglich ist.
Insgesamt folgt der vorliegende Band quasi einem Prinzip zur Differenzierung im Unterricht: Auf unterschiedlichen Anspruchsniveaus werden für die Lernenden mit unterschiedlichen Fähigkeitsniveaus – hier die Leserschaft mit unterschiedlichen Erwartungshaltungen – Angebote gemacht. Theoretiker und Praktiker können von ihnen profitieren.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Differenzierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht
Implikationen fĂĽr Theorie und Praxis
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012
(232 S.; ISBN 978-3-7815-1845-2; 18,90 EUR)
Jan Block (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Jan Block: Rezension von: Lazarides, Rebecca / Ittel, Angela (Hg.): Differenzierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht, Implikationen fĂĽr Theorie und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151845.html
Jan Block: Rezension von: Lazarides, Rebecca / Ittel, Angela (Hg.): Differenzierung im mathematisch-naturwissenschaftlichen Unterricht, Implikationen fĂĽr Theorie und Praxis. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2012. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151845.html