Julia Giese betont, dass der Besuch einer weiterführenden Schule im berufsbildenden Sektor vielen Jugendlichen die Möglichkeit eröffne, ihre Einmündung in die betriebliche Ausbildung mithilfe eines besseren Schulabschlusses doch noch zu erreichen. Allerdings würden sie unter sehr ungünstigen Voraussetzungen starten, da die fortgesetzte Schullaufbahn aufgrund fehlender Optionen auf einen Ausbildungsplatz im Dualen System lediglich als zweite Wahl fungiere. Zudem würden viele ein niedriges Kompetenzniveau aufweisen. Daher stellt die Autorin die These auf, dass „institutionelle Angebote von vielen Schüler/innen in einer eigensinnigen, die Intentionen der Anbieter unterlaufenden Weise genutzt werden“ (13). Giese geht der Frage nach, „welche Formen die Akteure entwickeln, um mit dem Problem umzugehen“ (197) und rekonstruiert die veränderten Einstellungen von Schüler/innen sowie Lehrer/innen.
In der Studie wurden Jugendliche befragt, die im Rahmen des Übergangssystems zweijährige Bildungsgänge besuchen, um die Fachhochschulreife zu erwerben. Dabei wurden an drei Berufskollegs in einer Stadt im Ruhrgebiet mit einer jeweils technischen, sozialen und kaufmännischen Ausrichtung Klassengespräche zu jeweils zwei Zeitpunkten (Mitte des 11. Schuljahres und Ende des 12. Schuljahres) durchgeführt. Zusätzlich wurden jeweils drei Gruppengespräche mit Lehrer/innen, die u.a. in den Bildungsgängen unterrichten, Einzelinterviews mit Schulleiter/innen sowie Klassengespräche mit Teilnehmenden anderer Bildungsgänge zur Kontrastierung geführt und ausgewertet.
Im ersten Kapitel erläutert und begründet die Autorin die Fragestellung ihrer explorativen Studie, welche auf den Erkenntnissen einer zuvor durchgeführten Untersuchung zu Übergängen von Jugendlichen von der allgemeinbildenden Schule in eine weiterführende Ausbildung basiert. Im Anschluss an die Darstellung der Gliederung werden im zweiten Kapitel ausgewählte Forschungsbefunde zur Übergangsproblematik im Allgemeinen und in Nordrhein-Westfalen im Besonderen erörtert. Hier nimmt die Autorin auf der Grundlage des referierten Forschungsstandes auch eine kritische Einschätzung der bisherigen Studien vor. Dem schließt sich die Erörterung der methodologischen Grundlagen der Untersuchung im dritten Kapitel an. Das Klassengespräch wird als Methode ausgewiesen, welche die Erfassung der schulischen Interaktionssysteme sowie das „strukturidentische Erleben“ (41) der Teilnehmer ermöglicht. Das Kapitel endet mit einer kurzen Skizzierung des gewählten Auswertungsverfahrens und der gewählten Stichprobe.
Im vierten Kapitel werden die Ergebnisse der Befragung zur bisherigen Schullaufbahn, zum subjektiven Erleben des Schulbesuchs sowie den Perspektiven im Anschluss an die weiterführende Schule ausführlich am Material vorgestellt. Hervorgehoben werden die fehlende aktive Schulwahl der Schüler/innen, ihr problembelasteter Alltag sowie ihre diffusen Orientierungen. Diese werden jedoch in den jeweiligen Schulformen (kaufmännisches, technisches und soziales Berufskolleg) sehr unterschiedlich diskutiert. Aus Sicht der Lehrer/innen sind insbesondere fachliche und sozialisatorische Defizite der Teilnehmenden zu verzeichnen. Die Erfolgsaussichten der Schüler/innen schätzen sie als sehr schlecht ein.
Im fünften Kapitel werden die eigenen Ergebnisse in ein Verhältnis zu ausgewählten Studien zur Berufswahl und zu Schulverläufen im allgemeinbildenden Schulwesen gesetzt. Kritisiert werden Ansätze zur Berufswahlorientierung, die auf dem Modell rationalen Handelns basieren. Die Befragten würden vielmehr zur Rationalisierung ihres eigenen Handelns neigen. Das Übergangssystem biete die Möglichkeit, die fällige Entscheidung der Berufswahl aufzuschieben. Laut Giese würden jedoch viele Schüler/innen ahnen, dass dieser Weg zu keinem guten Ende führen werde. Zudem zeige sich, dass die Konstruktion schulischer Normalität bei den Befragten berufsbildender Schulen obsolet geworden sei. Sie würden das untere Spektrum der Leistungsfähigkeit und -bereitschaft präsentieren. Insgesamt konstatiert die Autorin eine beginnende bzw. fortgeschrittene Verlaufskurve des Erleidens nach Schütze bei allen Schüler/inne/n. Dies erkläre sowohl das ausbleibende Berufswahlverhalten der Befragten als auch den spezifischen Umgang mit den schulischen Anforderungen.
Das sechste Kapitel stellt die wesentlichen Ergebnisse der Studie in gebündelter Form vor. Problematisiert wird der erhebliche Anteil „bildungsarmer“ Schüler/innen, die trotz eines mittleren Schulabschlusses zur Gruppe der „Kompetenzarmen“ gezählt werden müssten (199). Im Anschluss an Bourdieu werden die Befragten als intern Ausgegrenzte bezeichnet, weil ihre Teilnahme am Berufskolleg nicht zur angestrebten sozialen Position führe. Vielmehr würden sie „verbilligte Bildungstitel“ erhalten (210). Das Übergangssystem gewähre im Sinne Bourdieus eine Stilisierung fortwährend erneuten Aufschubs. Eine sinnvolle Weiterführung der Forschungsfragestellung erkennt Giese in der Durchführung biografieanalytischer Studien, um das Erleben der Schüler/innen stärker in den Blick zu nehmen. Angesichts des begrenzten Samples lässt sich nach Auffassung der Autorin im Vergleich mit lokalen und regionalen Vergleichsstudien prüfen, „ob und ggf. wie die je besonderen Arbeitsmarktbedingungen in den Alltag des Übergangssystems hinein wirken“ (213).
Giese rückt die Fragestellung, „welche Formen die Akteure entwickeln, um mit dem Problem“ ungünstiger Startbedingungen umzugehen, ins Zentrum ihrer Arbeit (197). Sie beantwortet die Frage auf sehr allgemeinem Niveau, wenn sie konstatiert, dass die bestehenden strukturellen Probleme (etwa Lehrstellenknappheit, niedriges Kompetenzniveau) von den Teilnehmenden auf der Ebene kommunikativer Muster bearbeitet würden. Das Ziel der Autorin, das „strukturidentische Erleben“ der Teilnehmenden zu rekonstruieren, wird methodisch nicht differenziert ausgewiesen. Dies zeigt sich beispielsweise daran, dass der Leitfaden zu den erhobenen „Klassengesprächen“ nicht vorgelegt wird und Ausführungen zu den konkreten Schritten des Auswertungsverfahrens fehlen. Die Reichweite der Interpretation des erhobenen Materials bleibt daher unbestimmt. Insgesamt weist die vorgestellte Studie daher Schwächen in der methodischen Durchführung auf.
Ein weiteres Defizit der Arbeit besteht darin, dass die aufgestellten Thesen zur theoretischen Einordnung der Forschungsergebnisse an wichtigen Stellen nicht differenziert belegt werden. In Bezug auf Bourdieus Analysen fehlt zum Beispiel eine präzise Rekonstruktion des sozialen Feldes der ausgewählten Berufskollegs sowie der sozialen Positionen und Positionsveränderungen der Befragten im Kontext habitueller Dispositionen, um die starke These der internen Ausgrenzung belegen zu können. Ebenso wenig wird die postulierte verlaufskurvenförmige Entwicklung der Schüler/innen hinreichend ausgeführt: Ob die am Material aufgezeigten Einstellungsänderungen einer Verlaufskurve des Erleidens entsprechen, müsste narrationsanalytisch am Material ausgewiesen werden. Dies ist jedoch nicht der Fall.
Die Studie ist also insgesamt auf die Darstellung allgemeiner Aspekte zu den Formen des Umgangs mit schulischen Exklusionsprozessen im Übergang begrenzt. Ein differenziertes Bild der Lage, das den unterschiedlichen Schülergruppen Rechnung trägt, ergibt sich dadurch nicht. Die Studie verschenkt daher ihr Potenzial, neue Aspekte zum Übergang von der Schule in den Beruf beizusteuern. Dennoch bietet die Arbeit den Leser/innen interessante Einblicke in die Lebenswelt von Schüler/innen im Übergangssystem. Die aufgestellten Thesen sind durch die Vielfalt an Materialausschnitten sehr gut nachvollziehbar und auf inhaltlicher Ebene unmittelbar plausibel, auch wenn nicht immer deutlich wird, wie theoretisch voraussetzungsreich die Interpretationen sind oder ob sie letztlich Ergebnisse auf inhaltsanalytisch-zusammenfassender Ebene darstellen.
EWR 11 (2012), Nr. 5 (September/Oktober)
„Besser als zu Hause rumsitzen“
Zur Wahrnehmung und Bewältigung interner Ausgrenzung im Übergangssystem zwischen Schule und Beruf
Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2011
(224 S.; ISBN 978-3-7815-1822-3; 24,90 EUR)
Claudia Equit (Dortmund)
Zur Zitierweise der Rezension:
Claudia Equit: Rezension von: Giese, Juliane: „Besser als zu Hause rumsitzen“, Zur Wahrnehmung und Bewältigung interner Ausgrenzung im Ãœbergangssystem zwischen Schule und Beruf. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151822.html
Claudia Equit: Rezension von: Giese, Juliane: „Besser als zu Hause rumsitzen“, Zur Wahrnehmung und Bewältigung interner Ausgrenzung im Ãœbergangssystem zwischen Schule und Beruf. Bad Heilbrunn/Obb.: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 5 (Veröffentlicht am 12.10.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151822.html