EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)

Yvonne Rechter
Bedeutung individueller Lernförderung als Unterstützung schulischen Lernens
Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartung, die Einschätzung der Lernfreude und die fachliche Leistung von Schülerinnen und Schülern in der Grundschule
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(288 S.; ISBN 978-3-7815-1816-2; 32,00 EUR)
Bedeutung individueller Lernförderung als Unterstützung schulischen Lernens Yvonne Rechter stellt eine explorative Studie zur Bedeutung individueller Lernförderung vor. Sie hat dazu die Einzelförderung von 238 Dritt- und Viertklässlern mit Lernschwierigkeiten untersucht. Ihre Leitfrage lautet: „Hat die individuelle Lernförderung aus bildungspolitischer sowie pädagogischer und psychologischer Sicht eine historische und aktuelle Bedeutung als Unterstützung für das schulische Lernen?“ (10). Dieses Forschungsinteresse erzwingt sowohl einen multiperspektivischen Blick als auch die Einordnung in historische und aktuelle Arbeiten zum Lernen und Fördern in der Institution Schule. Rechter erarbeitet aus den dafür herangezogenen Diskursen ein Teilmodell für individuellen Fördererfolg (150) und konkretisiert dieses aufgrund der Studienergebnisse (213).

Die Autorin leitet aus einer fundierten Auseinandersetzung mit dem Förderbegriff und der Erkenntnis, dass individuelle Lernförderkonzepte nicht trennscharf voneinander abgrenzbar sind, eine sehr weite Definition von Förderung ab. In dieser greifen „alle Maßnahmen, die zur Unterstützung des individuellen Lernfortschritts und der Persönlichkeitsentwicklung dienen“, allerdings ohne didaktische Kriterien zur Überprüfbarkeit. Rechter erstellt ein damit verbundenes „multiples Dimensionsmodell des Förderbegriffs“ (24). In dieser Grundlegung scheint ein erstes Mal die Problematik der gesamten Arbeit auf: In einem sehr weit gespannten Rahmen werden facettenreich historische und theoretische Modelle und empirische Studienergebnisse vorgestellt, deren Nutzbarmachung für den Leser kaum gelingen kann.

Rechter geht in ihrem Buch den klassischen Weg wissenschaftlichen Schreibens von der Begriffsbestimmung über eine historische Verortung auf (erziehungs-)wissenschaftlicher und (bildungs-)politischer Ebene und eine Aufarbeitung des allgemeinen Forschungsfeldes (Lehr-Lern-Forschung) bis zum aktuellen Stand des konkreten Teilgebietes (Wirksamkeit von Förderung). Jedes dieser der eigenen Studie vorgeschaltete Kapitel in sich kann als Fundgrube für logisch verknüpftes Wissen wahrgenommen werden. Dem Leser aber erscheint eine Beurteilung hinsichtlich der Vollständigkeit und der Relevanz der notwendig vorgenommenen Auswahl unmöglich. Die gesamte theoretische Fundierung beruht auf mehr als 460 Quellen, die dazu führen, dass sowohl die dargestellten Inhalte als auch die Formulierungen „schwindelerregend“ erscheinen.

Dies ist vor allem auf dem Hintergrund der eigenen, auf 66 Seiten dargestellten Studie ersichtlich. Ziel war es dabei „die bisherigen Ergebnisse zur individuellen Lernförderung hinsichtlich der schülerbezogenen Wirkungen und Effekte zu ergänzen und zu differenzieren“ (208). Die Fördererfolge werden über die Selbstwirksamkeitserwartungen, die Lernfreude, das Fähigkeitsselbstkonzept Mathematik und die fachliche Leistung in Mathematik, Lesen oder Rechtschreibung erfasst und dann für personenbezogene Einzelmerkmale wie Alter, Geschlecht, Migrationshintergrund, Art der Lernschwierigkeit und strukturbezogene Merkmale wie Studienfachkongruenz, Durchführungsform und Abstände und Dauer der Förderung differenziert. Die Untersuchung wurde in Anbindung an die Ausbildung im Seminar „Individuelle Lernförderung“ mit 238 Schülerinnen und Schülern in einem Pre-Post-Follow-up-Design ohne Kontrollgruppe realisiert. Die Studienleiterin war mit z. T. wechselnden 157 Studierenden, die durch die Semesterzuordnung spezifischen Zeitbeschränkungen unterlagen und die die Untersuchungsdokumentationen nicht immer absicherten, und Lernenden mit einer insgesamt beachtenswerten Fluktuation (142 sind im Längsschnitt erfasst) in verschiedenen Förderschwerpunkten konfrontiert. Sie diskutiert daher auch hier ausführlich methodisch: Mögliche Auswertungsmodelle werden begründet ein- (Mittelwertvergleiche, Varianzanalysen und multiple Regressionen) bzw. ausgeschlossen (lineare Strukturgleichungsmodelle).

Die deskriptiven Ergebnisse zeigen eine Fülle von Ansatzpunkten für verschiedene Fördereffekte auf die Leistungen,

  • deren Entwicklungen zwischen dem 1. und 2. Messzeitpunkt (also zu Förderbeginn) stärker steigen als zum 3. (> ein durchaus bekannter Effekt bei diesem Forschungsdesign),
  • die allerdings dann durch geringere Standardabweichungen begründet werden (> auch dies kein unerwarteter Effekt bei der Halbierung der Stichprobe) und
  • die für die schwächeren Subgruppen stärker zu verzeichnen sind als für die anderen (> auch dies ein bekannter Effekt aus der Schreibforschung von Graham und Mitstreitern/Nachfolgern, auf die sich Rechter in ihren ersten Darstellungen bezieht).


Diese Effekte werden nicht eingeordnet. Auch der Befund, dass in den hierarchischen Regressionen über die verschiedenen Zeitpunkte immer die Ausgangslage der Lernenden den größten Anteil an der Erklärung der Unterschiede in den Effekten hat, wird nicht verdeutlicht und diskutiert. Ein Satz wie „Lediglich die Selbstwirksamkeitserwartung zum ersten Messzeitpunkt trägt in allen drei Modellen signifikant zur Varianzaufklärung bei, wobei sich der Beitrag von ersten über das zweite zum dritten Modell gering steigert“ (201) mag exemplarisch zitiert sein und spätestens hier die Frage aufwerfen: Für wen bzw. worüber wird hier eigentlich geschrieben?

  1. Der interessierte gebildete Laien-Leser wird trotz vorbildlich gesetzter Advanced Organizer und Teilzusammenfassungen von der fleißig erarbeiteten Vielfalt erschlagen. Das Ergebnis lautet, dass sich der Status Quo auf höherem Niveau repliziert: „Die Ergebnisse zeigen, dass eine individuelle Einzelförderung in der Lage ist, weitgehend vergleichbare Entwicklungen und Fördererfolge hinsichtlich der untersuchten motivationalen leistungsbezogenen Merkmalen zu produzieren, wobei Kompensationen von vorhandenen signifikanten Gruppenunterschieden in den Ausgangsbedingungen unter den gegebenen Förderbedingungen nicht möglich war.“ (219).

  2. Der förderorientierte und unterrichtsorganisatorisch interessierte Lehrende wird trotz der geweckten Erwartungen durch Titel und Rahmung im bildungspolitischen und Lehr-Lern-Kontext nicht bedient, weil „auf der Ebene der schulpraktischen Implikationen noch keine tragfähigen Fördermodelle und -alternativen abgeleitet werden“ (220). Diese sind aufgrund der inhaltsfreien Beschreibungen des Ablaufs der Fördersituationen nicht impliziert und wären somit auch nicht nachvollziehbar. Die Vorschläge „Prinzipien eines systematischen, strukturierten, kleinschrittigen und lehrkraftzentrierten Vorgehens … sowie die Bedeutung der Förderlehrkraft als Modell, der intensiven Zuwendung zum Kind und der direkten Rückmeldung“ (222) für lernschwierige Kinder zu nutzen, sind keine Ableitung der Untersuchung. Dieses pädagogische und fachdidaktische Basiswissen trifft nicht die Lesererwartungen.

  3. Der forschungsmethodisch ausgerichtete Leser findet eine Fülle an Ansatzpunkten zum Weiterarbeiten. Er benötigt aber ein gutes Überblickswissen, um die Auswahlen für die spezifischen Studien und Methoden gegen andere abgrenzen zu können. Der Aufbau des Gesamttextes vermag zu überzeugen. Für junge Nachwuchswissenschaftler könnte hier auf der Ebene der Strukturierung und der Ressourcennutzung Klarheit und Ehrlichkeit im Umgang mit den Einschränkungen der ersten einzelnen Arbeit ein mögliches Vorbild vorhanden sein. Für Studierende mit viel Lese-Langmut könnte ein Modell zum Synthetisieren von Informationen aus nationaler und internationaler Forschung zum Förderthema geschaffen sein.


Für das Gesamtwerk ist es schade, dass die Zusammenstellung der einzelnen Kapitel zwar logisch erklärbar, aber in ihrer Funktionalität immer wieder in den Hintergrund tritt. Ich hätte gewünscht, mehr die Autorin in ihrer Untersuchung zu finden und ihren eigenen Gedanken folgen zu können, als von einem Feuerwerk anderer Ergebnisse geblendet, die Implikationen der aktuellen Untersuchung zu suchen. Das Werk ist als Steinbruch vieler Ideen dabei trotzdem sehr weiterzuempfehlen.
Astrid Neumann (Lüneburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Astrid Neumann: Rezension von: Rechter, Yvonne: Bedeutung individueller Lernförderung als Unterstützung schulischen Lernens, Einfluss auf die Selbstwirksamkeitserwartung, die Einschätzung der Lernfreude und die fachliche Leistung von Schülerinnen und Schülern in der Grundschule. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151816.html