Bei einer kurzen Einschätzung der Qualitätsmerkmale der Gesamtdarstellung sowie ihrer Teilbeiträge lässt sich bereits das Fazit ziehen, dass diese einer Tradition historiographischer Institutionsgeschichte entspringen. Hierbei lassen sich grob fünf Darstellungsarten differenzieren und diesen die einzelnen Teilbeiträge zuordnen:
- Eine knappe Einführung, in welcher eine Lebenslaufperspektive als Ordnungs- und Auswahlprinzip der Darstellung der damaligen Erziehungsverhältnisse angegeben und in Ansätzen begründet wird (Klaus-Peter Horn und Jörg-W. Link).
- Eine einführende Darstellung zum Nationalsozialismus als Gegenstand bildungshistorischer Forschung (Jeanette Bair).
- Eine Darstellung der Erziehungsverhältnisse während der NS-Zeit, die mit der Zeit vor der Einschulung und dem intendierten Zugriff der nationalsozialistischen Jugendorganisationen ein bestimmtes Lebensalter zum Ausgangspunkt der Analyse nimmt (Klaus-Peter Horn).
- Bildungshistorische Organisations- bzw. Institutionsdarstellungen der Hitler-Jugend (Kathrin Kollmeier), der Volksschule (Jörg W.-Link), der Höheren Schule (Heidemarie Kemnitz und Frank Tosch), der NS-Ausleseschulen (Anke Klare), der Sonderschule (Gabriele Kremer), des Arbeitsdienstes (Kiran Klaus Patel), der Universität (Peter Chroust), der Berufsausbildung (Manfred Wahle), der Sozialen Arbeit (Stefan Schnurr und Sven Steinacker), der Erwachsenenbildung (Wolfgang Seitter), des Lagers als Methode, aber zugleich auch als Vollzugsort nationalsozialistischer Erziehung (Andreas Kraas) sowie einer knappen Darstellung der Tätigkeit des Reichsministeriums für Wissenschaft, Erziehung und Volksbildung im NS-Herrschaftssystem, die nicht mehr nur der Perspektive, sondern auch der Fragestellung nach rein institutionsgeschichtlich ausgerichtet ist (Armin Nolzen und Marnie Schlüter).
- Eine Entwicklungsskizze der Erziehungswissenschaft als Disziplin während der NS-Zeit (Carsten Heinze und Klaus-Peter Horn).
Wie oben bereits angedeutet, wurde als verbindendes Auswahl- und Ordnungsprinzip der Beiträge eine Lebenslaufperspektive gewählt. Leider fehlt in der gesamten Publikation weitgehend eine Berücksichtigung der Zeitzeugenperspektive und somit ein wesentlicher Bestandteil der Innenansicht der dargestellten Institutionen. Erfahrungsberichte Betroffener auf der Erzogenen-Seite kommen – im Unterschied zu den häufiger eingebundenen konzeptionellen und legitimierenden Argumentationen der staatlichen und institutionellen Planer und Praktiker – nur selten vor, meist als stummer Teil eingestreuter Belegstudien. Angesichts dessen ist die eingangs aufgerufene Perspektive des Lebenslaufs zwar das Auswahl-, nicht aber das innere Ordnungsprinzip der Beiträge des Bandes.
Im Folgenden sollen aus ausgewählten Teilbeiträgen des Bandes einige wenige Aspekte kurz skizziert werden, die für eine abschließende Bewertung desselben in besonderem Maße hervorzuhebende Eigenschaften aufweisen.
Schon im Beitrag Bairs findet sich eine beachtliche und gleichsam Überblick sowie ein Bewusstsein für bestehende Desiderate verschaffende Systematisierungsleistung (16 ff). Kritisch anzumerken wäre diesbezüglich lediglich, dass Bair den Aspekt der bewertenden Rezeption einzelner Studien oder Forschungsansätze durch die Erziehungswissenschaft zumeist allein an einzelnen Rezensionen zu diesen festmacht. Die einmalig geäußerten Stellungnahmen einzelner Vertreterinnen und Vertreter der Disziplin erscheinen so mitunter übergewichtet. Abschließend spricht Bair einige bildungshistorische Desiderate bezüglich des Gesamtthemas an. Hierbei wäre ihrem Hinweis auf die konfessionelle Bildung als Exempel unter der NS-Diktatur abgewerteter Bildungsprozesse noch jenes der jüdischen hinzuzufügen, insbesondere der Bemühungen jüdischer Einzelpersonen oder Kleingruppen, durch die Inszenierung von Bildungserfahrungen der nationalsozialistischen Repression ein Lebenszeichen entgegenzusetzen. Ihrer Forderung nach mehr epochenübergreifender Forschung wäre zudem hinzuzufügen, dass dies auch für die Zeit nach 1945 gilt und eine weitere Untersuchung der Anknüpfbarkeit einer Hitlerjugend-Sozialisation an eine Funktionsübernahme in der Freien Deutschen Jugend (FDJ) zu begrüßen wäre.
Der Beitrag von Horn setzt die kindliche Sozialisation unter der NS-Herrschaft in den Mittelpunkt und widmet sich schwerpunktmäßig der Familie als primärer Sozialisationsinstanz. Dargestellt werden in diesem Rahmen sowohl die intendierte Einflussnahme des Regimes auf die Familie als Erziehungs- und Reproduktionsinstitution, als auch die – keineswegs gänzlich gleichgeschalteten – familiären Erziehungspraxen zwischen 1933 und 1945. Hervorzuheben ist überdies, dass Horn anhand der Verteilung ökonomischer Förderungselemente durch den NS-Staat anschaulich werden lässt, dass selbiger der Umsetzung der Ziele, wie sie aus seiner Rasseideologie entsprangen, deutlich Priorität einräumte gegenüber jeder sozialen Ideologie (34). Als Bestätigung dessen lässt sich auch der Beitrag Peter Chrousts lesen mit seiner Darstellung der erkennbaren Widersprüche zwischen geschlechterstereotyper Propaganda sowie tatsächlicher Hochschulpolitik und den damit verbundenen Erfahrungen damaliger weiblicher Studierender. Als übergreifendes sowie planungs- und handlungsleitendes Prinzip wird die hier angedeutete Prioritätensetzung auch im Beitrag von Stefan Schnurr und Sven Steinacker zur Sozialen Arbeit deutlich, der die vom Regime angestrebte Umwandlung von einer Wohlfahrtspflege zu einer (politischen) Volkspflege als deren wesentliches Grundmuster herausarbeitet.
Der Beitrag Horns zeigt überdies auf, dass die („deutsche“) Familie im NS-System vor allem eines hatte und haben sollte: Eine Funktion. Dieser Befund bleibt bestehen, wenngleich zu konstatieren ist, dass das Regime bei seinen Versuchen, die Familie zu instrumentalisieren und zugleich ihre Privatheit zu kontrollieren, merklich an Grenzen stieß (33 ff). Da Horn bei seiner Analyse zudem die Institution des Kindergartens und deren Entwicklung während der NS-Zeit mit berücksichtigt, vermittelt sein Beitrag ein repräsentativeres, da institutionenübergreifendes Bild unterschiedlicher Faktoren der Erziehungsverhältnisse im Nationalsozialismus als die anderen Beiträge des Bandes.
Die angesprochenen Brüche zwischen politischer Intention und Umsetzungswirklichkeit werden unter anderem auch im Beitrag Kathrin Kollmeiers zur Hitler-Jugend als Kennzeichen nationalsozialistischer Formationserziehung charakterisiert. So werden u.a. auch die „Widersprüche der HJ-Sozialisation“ (Arno Klönne) deutlich, wie sie sich aus den ideologischen und machtpolitischen Zielsetzungen einerseits sowie deren konkreten Umsetzungsversuchen inklusive ungewollter Nebeneffekte (wer alle Jugendlichen erfassen will, der erfasst eben auch Unwillige und Widerspenstige usw.) andererseits generierten.
Demgegenüber wird aber auch das einseitig funktionalistische Interesse, mit welchem sich das Regime dem Nachwuchs der „Volksgemeinschaft“ widmete, in Kollmeiers Beitrag deutlich, wenn sie zutreffend darauf verweist, dass beispielsweise ausgegrenzte und öffentlich diffamierte Bevölkerungsgruppen, wie „Mischlinge“ oder körperlich Behinderte, zum Dienst herangezogen bzw. zugelassen wurden, so lange ihnen eine Nützlichkeit für die Umsetzung der politischen Ziele attestiert wurde (61 und 65). Im Gegensatz zu dieser widersprüchlichen Instrumentalisierung findet sich im Umgang mit der Mehrheitsjugend vor allem die Struktur einer propagandistischen Verklärung ihres Wertes bei gleichzeitiger Ausbeutung ihres Nutzens im Sinne einer Umsetzung rasse- und herrschaftspolitischer Ziele. Dies wird unübersehbar im Verlauf ihrer ansteigenden und zunehmend rücksichtslosen Heranziehung zu Kriegsdiensten während des Zweiten Weltkrieges (72 f).
Ein weiteres übergreifendes Thema des Bandes wird im Beitrag von Jörg-W. Link am Beispiel der Volksschule konkretisiert. Er weist differenziert auf die vielfältigen Anbindungen hin, welche die Volksschulpolitik nach 1933 didaktisch und methodisch an reformpädagogische Strömungen nahm. Anhand dieser Ausführungen wird exemplarisch die grundsätzliche Erkenntnis der Kontinuitätsdebatte deutlich, dass pädagogische Methoden für sich genommen kaum eindeutig politisch oder ideologisch zuzuordnen sind. Entscheidend sind der politische Kontext und das Ausmaß, mit welchem sie in diesem instrumentalisiert werden. Überdies macht der Beitrag Links jedoch auch den Mangel an Erfahrungsberichten Betroffener im gesamten Band deutlich (95 ff). Link gibt zumindest einen Erfahrungsbericht eines Zeitzeugen wieder. Dieser verdeutlicht schnell und augenscheinlich die themenspezifische Notwendigkeit zur Differenzierung sowie die vorhandenen Brechungen zwischen ideologischem Anspruch, propagandistischen Verklärungen und der Realität des Unterrichts (96) – und damit zugleich die forschungs- und darstellungsimmanente Sinnhaftigkeit der Nutzung solcher Quellen.
Anke Klare widmet sich in ihrem Beitrag den nationalsozialistischen Ausleseschulen (153). Dieser Beitrag ist schon insofern begrüßenswert, als er angesichts einer wenig umfänglichen und verstreuten Forschung zum Thema einen durchaus präzisen und informativen Überblick über den aktuellen Forschungsstand liefert. Am Beispiel der Ausleseschulen zeigt sich eine übergreifende Struktur der Inklusionsbestrebungen des Regimes recht deutlich. Die hier angestrebte ganzheitliche Gemeinschaftserziehung sollte ihre Kontrollaufgaben mittels einer Doppelstrategie erfüllen: Fremdkontrolle durch die anwesenden Lehrer sowie Selbstkontrolle der Gemeinschaft durch die Kohäsionskräfte der formierten und formierenden „Kameradschaft“ (142). Zudem verdeutlicht der Beitrag exemplarisch die Kurzsichtigkeit einer Ineinssetzung der NS-Propaganda und der tatsächlichen Umsetzungsrealität auch erziehungspolitischer Vorhaben. So ergab sich trotz aller proklamierten rassistischen Selektion letztlich an den Eliteschulen mehrheitlich eine andauernde schichtspezifische Zusammensetzung der Schülerschaft, bei welcher Beamtensöhne deutlich in der Überzahl waren.
Der Beitrag von Gabriele Kremer ist in dieser Rezension deshalb zu erwähnen, da er mit der Sonderschule einen Bereich der Erziehung während der NS-Zeit darstellt, welcher in besonderem Maße uneinheitlich und schwer zu fassen, daher – wie auch die Rolle der Berufsausbildung – bislang noch keineswegs hinreichend erforscht ist und in Konsequenz dessen gegenwärtig noch immer recht kontrovers beurteilt wird. Insgesamt ist es diesbezüglich erfreulich, dass Kremer bei der Bewertung der Rolle der Hilfsschule während der NS-Zeit eine Position einnimmt, die sich nicht scheut, massive Kritik zu üben am Verhalten einzelner damaliger Vertreter und Vertretungen der Profession (167 ff). Lediglich der – von Dagmar Hänsel wiederholt angemahnte – problematische Umgang mit einigen Primärquellen innerhalb der themenspezifischen Forschung hätte zumindest einer deutlichen Erwähnung bedurft.
Kremers Beitrag vermittelt zudem einen guten Eindruck davon, wie unmittelbar die Aufwertung einer Erziehungsmaßnahme und ihres institutionellen Vollzugsortes im NS-Kontext abhing von deren Funktionalisierbarkeit hinsichtlich ideologischer Ziele. Zugleich wird deutlich, welch ausgeprägtes Engagement seitens der Praktiker ein damit einhergehendes Aufwertungsangebot auslösen konnte. Die hier skizzierte Grundstruktur findet eine weitere themenspezifische Bestätigung im bereits genannten Beitrag zur Sozialen Arbeit.
Der Beitrag Wolfgang Seitters zur Erwachsenenbildung während der NS-Zeit lässt sich als Auflistung einzelner kompensatorischer Funktionen dieser Disziplin im Rahmen der angestrebten Umerziehung der erwachsenen „Volksgenossinnen“ und „Volksgenossen“ lesen (281 ff). Lediglich die ebenfalls erwähnten Bemühungen der jüdischen Selbsthilfe stehen quer zu dieser Struktur. Somit liefert der Beitrag über sein konkretes Thema hinausgehend einen deutlichen Hinweis darauf, dass eine kompensatorische Funktion einer pädagogischen Maßnahme allein noch nicht für deren Förderlichkeit hinsichtlich einer Emanzipation ihrer Teilnehmer garantiert.
Der Beitrag von Andreas Kraas zeichnet in hoher systematisierender Qualität die spezifische Eignung der Lagererziehung im Kontext der angestrebten Inklusion der unterschiedlichen avisierten Bevölkerungsgruppen nach. Bedauerlich ist hierbei lediglich die strukturelle Einseitigkeit der Institutionenauswahl, denn durch die Reduzierung auf die „Integrationslager“ geraten die zur Abweichungskorrektur durchgeführten Lager aus dem Blick. Für eine umfassende Analyse der mit dem Lager verbundenen Erziehungsintentionen des Regimes hätte es einer zusätzlichen Miteinbeziehung der Repressionslager, zu denen unter anderem die „Jugendkonzentrationslager“ gehörten, bedurft. Dies wäre freilich nicht zwingend innerhalb des Beitrages von Kraas zu erbringen, sondern hätte ebenso gut in einem eigenen Beitrag bearbeitet werden können.
Insgesamt liegt mit dem Band über die Erziehungsverhältnisse während der NS-Zeit ein lesenswertes und erkenntnisförderndes Sammelwerk zum Thema vor. Lediglich eine stärkere Einbeziehung der Erfahrungsperspektive sowie eine Berücksichtigung bestimmter, vom NS-Regime als solche vorgesehener erziehender Einflüsse des Dienstes in Organisationen wie der SS oder der Wehrmacht wären wünschenswert gewesen. Hier wird das oben skizzierte Auswahlprinzip des Bandes nicht ganz konsequent durchgehalten. Während einerseits dem weitgefassten Erziehungsbegriff des Regimes gefolgt wurde, folgte die konkrete Auswahl der dargestellten Institutionen andererseits zumindest teilweise einem nicht funktionalisierenden und formierenden Erziehungsverständnis, das sich dagegen sträubt, repressive Maßnahmen („Jugendkonzentrationslager“) oder den Dienst in Organisationen der gewaltsamen Machtsicherung und Herrschaftserweiterung als solche anzuerkennen. Wünschenswert wäre zudem eine Berücksichtigung der Entwicklung abweichenden Verhaltens gewesen – zumindest, wenn es durch die subjektive Erfahrung einer zunehmend repressiven NS-Erziehung oder aber durch vorangegangene oder gleichzeitige anderslautende Sozialisationseinflüsse bedingt war. Bedauerlich ist schließlich auch, dass neben den zumeist dichten und lesenswerten Institutionenbeschreibungen aus dem Komplex der damaligen Inklusionsbestrebungen des Regimes die eindeutigen Exklusionsmaßnahmen gegenüber Unerwünschten nur innerhalb einzelner Beiträge Erwähnung, nicht aber für sich genommen systematische Berücksichtigung im Kontext der Gesamtdarstellung finden. Hierzu hätte es beispielsweise eines Kapitels bedurft, in welchem die vielfältigen jüdischen Selbsthilfemaßnahmen im Bereich der Bildung dargestellt und systematisiert worden wären. Wenn nicht zum Bereich der nationalsozialistischen Inklusionsstrategien, so gehören diese beachtenswerten Bemühungen doch durchaus zu den – titelgebenden – Erziehungsverhältnissen im Nationalsozialismus.