In Unterricht und Schule, in der Aus- und Weiterbildung treten hochkomplexe Situationen auf, an der viele Personengruppen beteiligt sind. Handlungsrezepte greifen dann oft zu kurz. Das pädagogische Handeln bietet keine Gelingensgewissheit. In diesem Kontext erscheint gerade für angehende bzw. zukünftige Praktiker die theoriebasierte Auseinandersetzung mit authentischen Fällen gewinnbringend. Dabei geht es nicht nur um das Finden angemessener Problemlösungen, vielmehr sollen die erarbeiteten Handlungsoptionen auch unter Rückgriff auf wissenschaftsorientiertes Wissen begründbar und erklärbar sein.
In der akademischen Ausbildung spielt die Bearbeitung von Fällen besonders in Medizin und in Jura schon lange eine grundlegende Rolle. Aber auch in der Lehrerausbildung wird zunehmend fallbasiertes Lernen angewendet. Reale Einzelvorkommnisse aus Schule und Unterricht werden durch Vereinfachung, Reduzierung, Strukturierung so zugeschnitten, dass Lernende mit größtmöglicher Selbständigkeit die den Fall inkohärenten Aufgaben lösen können [1]. Beim Lernen anhand von Fällen soll anhand authentischer Probleme, die unter multiplen Perspektiven analysiert werden, komplexes Wissen erworben werden. Befürworter fallbasierten Lernens gehen davon aus, dass Ausbildungsinhalte auf diese Weise schneller und sicherer in der Praxis angewandt werden und dass der Transfer des Gelernten wahrscheinlicher wird [2].
Die Autoren der beiden vorliegenden Arbeitsbücher sind an verschiedenen Universitäten in Bayern als Hochschullehrer tätig. Sie stellen einmal 40 Fälle aus der Schulpraxis und einmal 37 Fälle speziell aus dem Referendariat vor, die zum einen angeleitetes Lernen ermöglichen, aber auch ein selbstgesteuertes Bearbeiten von Fällen initiieren sollen. Die Rohfälle aus der Praxis wurden von Lehrern, Seminarrektoren und Referendaren zusammengetragen. Experten aus verschiedenen Bereichen der Lehrerbildung wurden dann in die Auswahl der Fälle, in deren redaktionelle Bearbeitung und Interpretation einbezogen.
In beiden Büchern erfolgt die Anordnung der Fälle entlang der fünf Kompetenzbereiche aus den Standards für Lehrerbildung (Unterrichten, Erziehen, Beraten, Beurteilen, Innovieren). Der konstruktive Umgang mit den einzelnen Fällen wird dann durch Leitfragen sowie ein passendes Angebot an Theoriewissen, Konzepten oder empirischen Befunden zur Falldeutung unterstützt. Ferner werden auch Problemlösungen oder Handlungsoptionen vorgeschlagen. In den einleitenden Kapiteln der beiden Bücher erhält der Leser zunächst Hinweise zur Arbeit mit dem Buch und zum Umgang mit den Fällen.
(I) Herausfordernde Situationen in der Schule
Der Titel des Vorworts „Erkennen, was der Fall ist – beurteilen, was möglich ist“ (7) ist zugleich Anspruch des gesamten Buches. Zuerst erfolgt eine theoretische Einführung, in der zentrale Probleme der Lehrerbildung andiskutiert werden und postuliert wird, dass mittels fallbasierten Lernens in der Lehrerbildung eine berufsfeldbezogene Reflexion und eine theoriebasierte Auseinandersetzung mit der beruflichen Praxis möglich ist (19). Die wissenschaftstheoretischen Grundlagen des fallbasierten Lernens werden erörtert, wobei auf verschiedene Ansätze des Soziokonstruktivismus (u.a. Anchored Instruction) verwiesen wird. Der Aufbau der Arbeit wird unter Rückgriff auf die Cognitve-Loads-Theorie von Sweller [3] und Überlegungen der logischen Propädeutik von Kamlah & Lorenzen [4] begründet und erläutert.
In jedem Arbeitskapitel gibt es – nach kurzer Einführung in den jeweiligen Kompetenzstandard der Lehrerbildung – zehn Fälle zur Bearbeitung. Im Bereich „Unterrichten“ geht es z.B. um Probleme bei der Unterrichtsplanung oder um Unterrichtsstörungen, im Bereich „Erziehen“ u.a. um den Umgang mit rassistischen Äußerungen und um Cybermobbing, im Bereich „Beraten und Beurteilen“ etwa um das Scheitern der Präsentation eines Schülers sowie im Bereich „Innovieren“ beispielsweise um die Einführung neuer Unterrichtsmethoden oder um die Problematik eines innerlich gespaltenen Kollegiums.
Die Abschnitte zu den einzelnen Fällen haben eine feste Struktur. Zunächst wird der ausgewählte Fall dargestellt. Dann erfolgt die „Bearbeitung“ in vier Schritten: Identifizieren, Interpretieren, Bewerten, mögliche Handlungsschritte.
Das zur Fallbearbeitung angebotene „Hintergrundwissen“ aus Pädagogik und Psychologie umfasst in der Regel zwischen zwei und drei Seiten; zudem werden Lösungsvorschläge (einige Sätze zu jeder Frage an den Fall) präsentiert. Doch nicht immer werden die Fälle so ausführlich behandelt. Stück für Stück wird die Hilfe zum Umgang mit den Fällen zurückgenommen, bis die Fallbearbeitung nur noch mittels Fragen angeregt wird. Am Ende werden auch diese Fragen weggelassen, und der Leser muss die Fragen an den Fall nun selbst formulieren.
Am Fall 2 im Bereich „Unterrichten“ mit dem Titel „Stationentraining“ (50 ff) soll die Fallbearbeitung exemplarisch verdeutlicht werden: Zuerst wird die Situation geschildert – ein geplanter Sinnesparcours im Sachunterricht läuft nicht so wie geplant. Danach wird der Fall detaillierter beschrieben und die aufgetretenen Probleme (u.a. unterschiedliches Arbeitspensum an den Stationen, kein geordneter Stationenwechsel) werden benannt. Nun folgt die Fallbearbeitung in den entsprechenden Stufen (s.o.). Hier bekommt der Leser u.a. folgende Fragen zur Bearbeitung: „Wie bewerten Sie die Unterrichtsgestaltung der Lehrkraft?“, „Wie könnte offener bzw. handlungsorientierter Unterricht in dieser Situation alternativ gestaltet werden?“ (51f) Im Abschnitt zum „Hintergrundwissen“ wird das Lernarrangement eines Offenen Unterrichts und die Methode des Stationenlernens beschrieben; dazu werden Quellen zur Vertiefung der Lektüre angegeben. Im abschließenden vierten Schritt geben die Autoren eine Beispiellösung vor (Schüler entwickeln selbst Aufgaben für einen Sinnesparcours zum „Tag der offenen Tür“) und benennen die entsprechenden Vor- und Nachteile dieser Lösung (55).
(II) Kritische Situationen im Referendariat bewältigen
Während sich das Buch I sowohl an die Lernenden in der 1. und 2. Phase wendet, richtet sich dieser Band vorwiegend an Referendare bzw. Lehramtsanwärter. Im 1. Kapitel wird über den Kulturübergang von Universität zum Referendariat referiert. Dabei wird u.a. der „Cultural Assimilator“ als fallbasierte Trainingsmethode vorgestellt und es wird auf kritische Interaktionssituationen, die im Vorbereitungsdienst auftreten, eingegangen. Anschließend wird im Kapitel 2 die Unsicherheit pädagogischen Handelns in unterschiedlichen „Möglichkeitsräumen“ (31) diskutiert. Die Autoren stellen dazu in Anlehnung an Helsper [5] ein Drei-Dimensionen-Modell reflexiver Begründung vor, in dem die Kategorien Ego / Alter, Sicherheit / Unsicherheit und Heteronomie / Autonomie als entscheidende Pole im Umgang mit strukturellen Unsicherheiten pädagogischen Handelns unterschieden werden (vgl. 33).
Darüber hinaus gibt es noch ein Kapitel mit Fällen, die speziell die Ausbildungssituation betreffen. Die geschilderten Fälle beziehen sich auf Probleme mit einzelnen Schülern, mit Schülergruppen, mit Klassen, mit Eltern, mit Mentoren, mit Mitreferendaren, mit Seminarleitern sowie mit der Schulleitung. Dabei handelt es sich oft um Entscheidungen in antinomischen Handlungsstrukturen, oft auch um Dilemma-Situationen wie z.B. bei Fall 3 im Standardbereich Innovieren: Verletzung der Aufsichtspflicht (262).
Auch hier ist die Struktur der Fallbearbeitung zu allen Fällen gleich aufgebaut, im Gegensatz zum Buch I gibt es aber keine gestufte Rücknahme der Hilfe. Eine weitere Besonderheit dieses Bandes liegt darin, dass im zweiten Bearbeitungsschritt, der Fallinterpretation, konsequent verschiedene Deutungsperspektiven eingenommen werden (ich – ich, ich – Schüler, Schüler – ich, ich – andere Person, andere Person – ich, Fachwissen – ich).
Im Vergleich zu dem anderen Band sticht der Abschnitt „Entwicklungsaufgaben“ im Sinne von Hericks [6] hervor, in dem nicht nur pädagogisches und psychologisches Erklärungswissen zur Fallbearbeitung angeboten wird, sondern dem Referendar auch „Möglichkeiten einer Weiterentwicklung der aufgelisteten Kompetenzen durch praktisches Können und Üben“ (36) aufgezeigt werden.
Insgesamt können beide Bücher durch den angeleiteten Umgang mit ausgewählten Fällen die Entwicklung der Reflexionskompetenz von (angehenden) Lehrpersonen unterstützen. Die geschilderten Fälle umfassen ein breites Spektrum schulischer Problemsituationen. In der Fallbearbeitung werden einschlägige pädagogische und psychologische Theorien und Konzepte verwendet, und es werden hilfreiche Fragen und Anregungen zum Weiterdenken gegeben. Ob allerdings beim individuellen Lesen der Fälle und anschließender angeleiteter Fallbearbeitung schon selbständiges und gewinnbringendes Lernen erfolgt, ist zu bezweifeln. Erst wenn die Fälle in Seminaren diskutiert werden, erfolgt ein interaktiver Austausch, der reflexives Lernen anregen und entwickeln kann. In einem letzten Schritt kommt es dabei darauf an, eigene Problemsituationen in Schule und Ausbildung zu identifizieren und entsprechend der vorgestellten Arbeitsschritte gemeinsam aufzuarbeiten. Die beiden Bände erscheinen deshalb eher als Arbeitsbücher für universitäre Lehrveranstaltungen oder Ausbildungsseminare als nur für das individuelle Studium geeignet.
[1] Vgl. PeterĂźen, W. H. (1999): Kleines Methodenlexikon. MĂĽnchen, 92.
[2] Vgl. hierzu Zumbach, J., Haider, K. & Mandl, H. (2008). Fallbasiertes Lernen. In Zumbach, J. / Mandl, H. (Hrsg.):Pädagogische Psychologie in Theorie und Praxis:Ein fallbasiertes Lehrbuch. Göttingen, 1-11.
[3] Sweller, J. (2005): Implications of cognitive load theory for multimedia learning. In: Mayer, R. E. (ed.): The Cambridge Handbook of Multimedia Learning. New York, 19-30; Sweller, J. (2006): How the Human Cognitive System Deals with Complexity. In: Elen, J. / Clark, R. E. (eds.): Handling Complexity in Learning Environments: Theory and Research. Amsterdam, 13-24.
[4] Kamlah, W. / Lorenzen, P. (1973): Logische Propädeutik oder Vorschule des vernünftigen Redens. Mannheim.
[5] Helsper, W. (2000): Antinomien des Lehrerhandelns und die Bedeutung der Fallrekonstruktion – Überlegungen zu einer Professionalisierung im Rahmen universitärer Lehrerausbildung. In: Cloer, E. / Klika, D. / Kunert, H. (Hrsg.): Welche Lehrer braucht das Land? Notwendige und mögliche Reformen der Lehrerbildung. Weinheim / München, 142-177.
[6] Hericks, U. (2006): Professionalisierung als Entwicklungsaufgabe. Rekonstruktionen zur Berufseingangsphase von Lehrerinnen und Lehrern. Wiesbaden.
EWR 11 (2012), Nr. 6 (November/Dezember)
Sammelrezension Arbeitsbücher für angehende Lehrkräfte
Herausfordernde Situationen in der Schule
Ein fallbasiertes Arbeitsbuch
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(224 S.; ISBN 978-3-7815-1799-8; 18,90 EUR)
Kritische Situationen im Referendariat bewältigen
Ein Arbeitsbuch für angehende Lehrkräfte
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(271 S.; ISBN 978-3-8252-3544-4; 19,90 EUR)
Barbara Kranz (Dresden)
Zur Zitierweise der Rezension:
Barbara Kranz: Rezension von: Ewald, Kiel, / Joachim, Kahlert, / Ludwig, Haag, / Thomas, Eberle,: Herausfordernde Situationen in der Schule, Ein fallbasiertes Arbeitsbuch. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151799.html
Barbara Kranz: Rezension von: Ewald, Kiel, / Joachim, Kahlert, / Ludwig, Haag, / Thomas, Eberle,: Herausfordernde Situationen in der Schule, Ein fallbasiertes Arbeitsbuch. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 6 (Veröffentlicht am 28.11.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151799.html