EWR 11 (2012), Nr. 3 (Mai/Juni)

Petra Flieger / Volker Schönwiese (Hrsg.)
Menschenrechte – Integration – Inklusion
Aktuelle Perspektiven aus der Forschung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(256 S.; ISBN 978-3-7815-1793-6; 19,90 EUR)
Menschenrechte – Integration – Inklusion Die Menschenrechte haben den Inklusionsdiskurs erreicht. Das ist gut so, denn aller empirischen Forschung und unterschiedlichen theoretischen Positionen zum Trotz hat die Inklusionspädagogik nie zu einem Modell von Bildungsgerechtigkeit gefunden – versinnbildlicht im Modell einer Schule für alle –, das eine allgemeine Gültigkeit und Reichweite beanspruchen kann. Zuletzt hatte in dieser Hinsicht der Berliner Erziehungswissenschaftler Bernd Ahrbeck [1] in der FAZ Ende letzten Jahres ein wütendes Pamphlet gegen Inklusion und die Befürworter einer Einheitsschule veröffentlicht. Einzelnen Apologeten der Inklusion warf er darin wissenschaftliche Unredlichkeit sowie einen überhöhten moralischen Impetus vor.

Nun muss sich die Inklusionspädagogik in der Tat dem komplizierten Verhältnis von Gleichheit und Verschiedenheit stellen. Dass Behinderung dabei nur eine mögliche Differenzlinie ist, die ins Verhältnis zu sozialer Lage und anderen Möglichkeiten des Verschiedenseins zu setzen ist, hat sich mittlerweile in der fachlichen Diskussion als nicht länger hintergehbare Einsicht durchgesetzt. Wie also kann gesellschaftliche Teilhabe als Zielmarke gelten, wenn Ausschluss in und durch Bildung gesellschaftliche Praxis im Umgang mit Verschiedenheit ist?

Vor allem mit der UN-Behindertenrechtskonvention von 2006 haben sich die Menschenrechte als eindeutiger Referenzrahmen durchgesetzt, um eine diskriminierungsfreie Teilhabe in den unterschiedlichsten Lebensbereichen von Menschen mit Behinderungen zu gewähren. Auf diese neue Leitidee greifen auch die einzelnen Beiträge in dem von Petra Flieger und Volker Schönwiese herausgegebenen Sammelband – mehr oder weniger explizit – zurück. Die vorliegende Publikation gibt eine Annäherung an vielfältige Fragen wieder, die sich aus dem Zusammenhang der UN-Konvention und der Forschung und Lehre im Feld von Behinderung, Partizipation und Menschenrechte ergeben. Diese Fragen wurden auf der 24. Jahrestagung der Integrations- und Inklusionsforschung in Innsbruck artikuliert. Flieger und Schönwiese verstehen die UN-Konvention als eine Herausforderung für die Integrations- und Inklusionsforschung. In ihrem Beitrag sehen sie Inklusion nicht mehr nur auf die Gruppe von Menschen mit Behinderung bezogene Strategie der Teilhabe: Ziel von Inklusion ist vielmehr eine „Selbstbestimmung in sozialer Kohäsion, die einer Vorstellung der Neugestaltung der Umwelt als inklusive Gemeinschaft folgt“ (30). Dies benötige in der Konsequenz eine reflexive Kritik, Transdisziplinarität und die Einbeziehung nicht-akademischen Wissens von Personen mit Behinderungserfahrungen. Ihre im Einleitungsbeitrag formulierte These bezüglich der methodischen Schwierigkeiten einer partizipativen und inklusiven Forschung ist schlüssig, greift jedoch zu kurz, wenn diese Schwierigkeiten alleine auf der psychodynamischen Ebene verhandelt werden.

Gleichwohl wird der Horizont weit abgesteckt mit anregenden Fragen und es ist interessant zu sehen, wie diese in den insgesamt 29 Beiträgen in den vier Themenfeldern:

  1. Aspekte inklusiver Gemeinschaft
  2. Aspekte Inklusiver Schule
  3. Aspekte Inklusiver Forschung
  4. Arbeiten mit dem Index für Inklusion


aufgegriffen und beantwortet werden.

Im ersten Themenfeld werden einige Forschungslücken und Defizite hervorgehoben: So macht etwa Natalia Postek in ihrem Beitrag deutlich, dass politische Bildung für Menschen mit Lernschwierigkeiten kein Thema war; Bettina Brettländer und Ulrike Schildmann plädieren für die Einbindung von sozialer Arbeit in inklusive Bildungsprozesse; Imke Niedieck macht auf das Fehlen von empirischen Untersuchungen und theoriegeleiteten Analysen im Bereich der individuellen Hilfeplanung aufmerksam und Kirsten Puhr und Wolfgang Rathke werfen einen skeptischen Blick auf das Persönliche Budget, das sie als gesellschaftliche Praxis der Ein- und Ausschließung betrachten.

Auch im zweiten Themenfeld werden einige Desiderata deutlich: Forschungslücken im Hinblick auf eine inklusive Didaktik und fehlende professionalisierungsbezogene Erkenntnisse zur Entwicklung eines inklusiven Unterrichts bemängeln Natascha Korff und Katja Scheidt; eine plausible Kritik an individualisierendem Unterricht liefern Bernadette Hörmann und Stefan T. Hopmann in ihrem Beitrag über „Marginalisierung bei ‚School-Accountability‘ Maßnahmen“, der einmal mehr ein fatales Verständnis von Gleichheit problematisiert; Reinhard Markowetz schildert ein interessantes Projekt inklusiver Schule in Burkina Faso, dabei beruft er sich explizit auf menschenrechtliche Standards aus den aktuellen UNESCO-Policy Papieren und dem internationalen Aktionsplan zur „Bildung für alle“.

Der Beitrag von Oliver Koenig, Tobias Bucher und einer Gruppe von Forscherinnen und Forschern mit und ohne Lernschwierigkeiten ist bezüglich der Aspekte inklusiver Forschung interessant und hervorzuheben, da er ein anschauliches Beispiel partizipativer Forschung liefert. Die Bedeutung der Erforschung von (Lebens-) Geschichten wird eindrücklich geschildert und als ultimativer Ausdruck partizipativer und inklusiver Forschung verstanden. Dazu können sicherlich die Kriterien inklusiver Forschung hilfreich sein, die in dem Beitrag entwickelt werden und die in der Tat eine wesentliche Rolle bei der Beforschung der Umsetzung der UN-Konvention spielen können. Gleichwohl ist die Idee der Aktionsforschung alles andere als neu und hatte bereits in den 1970er Jahren in der Ethnologie ihren Ursprung. Neutralisieren ließ sich bis heute nicht die prinzipielle Ungleichheit der Interessen von akademisch Forschenden und nicht akademisch Forschenden. Aber vielleicht gilt es in dieser Hinsicht wirklich erst den „Soul“ der Disability Studies zu entdecken, der sich aus der Dualität von tragfähigen Beziehungen und Enttarnung diskriminierender Strukturen ergibt (148) – also wieder eine Aufgabe für die in der Einleitung geforderte reflexive Kritik.

Die Arbeiten mit dem Index für Inklusion werden in zehn Beiträgen im letzten Abschnitt geschildert und machen den größten Teil der diskutierten Themenfelder aus. Neben Praxisbeispielen von Ines Boban und Andreas Hinz aus Sachsen-Anhalt, Schleswig-Holstein und anderen Regionen, die sich auf den Weg zur Entwicklung regionaler Verantwortungsgemeinschaften für inklusive Bildung gemacht haben, gibt es auch weitere (ermutigende) Beispiel aus Südtirol und Österreich. Diese Beiträge zeigen auf, dass es bezüglich der Entwicklung inklusiver Strukturen auf eine gelungene Mischung von top-down und bottom-up Prozessen ankommt, wenn das bestehende lokale Bildungssystem verändert werden soll.

Alle Beiträge aus diesem Themenfeld machen das Potenzial (aber auch die Grenzen) des Index für Inklusion deutlich, das vor allem in einer strikten Orientierung auf Partizipation liegt. Partizipation ist in diesem Sinne auch viel weiter zu konzeptualisieren als nur Teilhabe, denn Partizipation umfasst auch und vor allem den politischen Prozess. Im letzten Beitrag dieses Themenfeldes thematisieren Andrea Platte und Christian-Peter Schultz inklusive Strukturen an der Hochschule. Unter Rekurs auf die vier menschenrechtliche Strukturelemente von Availability (Verfügbarkeit), Access (Zugänglichkeit), Acceptability (Annehmbarkeit) und Adaptability (Adaptierbarkeit) zeigen Platte und Schultz auf, dass Hochschulen als Orte der Zukunftsgestaltung firmieren können, wenn sich dort inklusive Kultur und Strukturen etablieren und vor allem Partizipation herstellen lässt (was unter den Bedingungen der Lehre nach dem Bologna-Prozess allerdings einer unmöglichen Aufgabe gleichkommt).

Diese menschenrechtliche Strukturelemente (auch bekannt als 4 A-Schema) wurden bereits 1999 von Katharina Tomaševski, der früheren UN-Sonderberichterstatterin (1998-2004) über das Recht auf Bildung, als Analyseschema entwickelt. Eine breite Rezeption fand dieses differenzierte Analyse- und Indikatorenmodell für das Recht auf Bildung [2] innerhalb der deutschsprachigen Erziehungswissenschaft aber nie.

In der aktuellen Policy der UNESO wird Inklusion nun als Menschenrechtsthema verstanden. Das bedeutet, dass das Menschenrecht auf eine diskriminierungsfreie und den Strukturelementen entsprechende Bildung als universaler Maßstab gilt. Das vorhandene Problem ist definiert als Diskriminierung und Ungleichheit im Zugang zu Bildung, der Maßstab dazu sind die Menschenrechte. Damit gewinnt das Analysemodell an Durchschlagskraft. In dieser Hinsicht haben wir es – um auf die Kritik von Ahrbeck zurückzukommen – nicht mit einem moralisch überschüssigen Inklusionskonzept zu tun, das einen Absolutheitsanspruch erhebt. Vielmehr geht es um die Begründung und um ein universal einsetzbares Analyseschema, das im Hinblick auf die Verschiedenheit des Menschen und seiner möglichen Ausdrucksgestalten für alle einen gleichen Zugang zum (Menschen-) Recht auf die Teilhabe an qualitativ hochwertiger Bildung einfordert.

In diesem Sinne liefert der von Petra Flieger und Volker Schönwiese herausgegebene Band in der Tat aktuelle Perspektiven aus der Forschung und zeigt einmal mehr auf, dass Inklusion als Menschenrechtsprinzip sehr komplex gedacht werden muss und als Analyseschema für Teilhabe, Partizipation und Inklusion empirisch klar überprüfbare Indikatoren zu formulieren sind. So bleibt die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen – wie von Flieger und Schönwiese akzentuiert – eine Herausforderung für die Integrations- und Inklusionsforschung. Aber diese Herausforderung ist durchaus spannend und sie wird leicht zu bewältigen sein, wenn die menschenrechtlichen Strukturelemente des Rechts auf Bildung Eingang in die fachliche Diskussion finden.

[1] Ahrbeck, Bernd (2011): Das Gleiche ist nicht für alle gleich gut. Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 8.12.2011.
[2] http://www.right-to-education.org/
Sven Sauter (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sven Sauter: Rezension von: Flieger, Petra / Schönwiese, Volker (Hg.): Menschenrechte – Integration – Inklusion, Aktuelle Perspektiven aus der Forschung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 11 (2012), Nr. 3 (Veröffentlicht am 31.05.2012), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151793.html