Im November 2008 fand im Georg-Eckert-Institut für Internationale Schulbuchforschung zusammen mit dem VdS Bildungsmedien e.V. eine Tagung zum Schulbuch statt, in der aus unterschiedlichen Perspektiven – der Wissenschaft, der Schulbuchverlage, der Schulbuchautoren, der Schulaufsicht, der Schulleitung – die aktuelle Situation des Schulbuchs und seiner Erforschung beleuchtet wurde. Aus dieser Tagung ist der zu besprechende Band entstanden.
Die Herausgeber konstatieren in ihrem Vorwort zu Recht, dass in Deutschland das Schulbuch und die Schulbuchforschung zu wenig Beachtung fänden und vor allem in der Erforschung der Entstehung, der Zulassung, der Nutzung und der Wirkung von Schulbüchern wissenschaftliche Desiderate zu verzeichnen seien. Sie wollen mit ihrem Band jedoch nicht nur weitere Forschungen zum Schulbuch anregen, ihr Anspruch ist vielmehr auch ein praxisorientierter: „Die Herausgeber haben sich bemüht, den unterschiedlichen Aufgabenbereichen und Perspektiven Rechnung zu tragen, die für die Entwicklung hochwertiger Schulbücher und für ihren pädagogisch intelligenten Einsatz im Unterricht zusammenspielen müssen“ (8).
Wie versuchen sie das nun konkret einzulösen? Der erste Teil des Bandes ist mit „Bestandsaufnahme“ überschrieben und nimmt diese aus erziehungswissenschaftlichen Perspektiven vor. Er beginnt mit einem Beitrag von Uwe Sandfuchs zu „Schulbücher(n) und Unterrichtsqualität“. Sandfuchs zeigt den Zusammenhang zwischen Schulbüchern und der Qualität des Lernens zunächst an historischen Beispielen. Auch für die Gegenwart unterstreicht er jenen Konnex und weist auf die Notwendigkeit einer differenzierten Aufgabenkultur in Schulbüchern hin. Er beendet seinen Beitrag mit der Forderung nach einer praxisorientierten empirischen Schulbuchforschung.
Der zweite Beitrag von Eckhardt Fuchs widmet sich einer ganz anderen Thematik, der Frage nach der Internationalität von Schulbüchern. Er analysiert direkte und indirekte Internationalisierungsprozesse, direkte seien etwa durch vom Völkerbund eingerichtete Komitees zur Schulbuchrevision initiiert worden, daneben fänden sich bei den nationalen Schulbüchern strukturelle und inhaltliche Verallgemeinerungsprozesse im Kontext der Globalisierung (indirekte Internationalisierung).
Als dritter Beitrag folgt ein an Sandfuchs anknüpfender grundlegender Text von Joachim Kahlert, der die unverzichtbaren Funktionen des Schulbuchs für den Unterricht herausarbeitet, plastisch die Vernachlässigung des Schulbuches in der Erziehungswissenschaft deutlich macht und den wissenschaftlichen Anspruch der Erstellung eines Schulbuches unterstreicht.
Der zweite Teil des Bandes ist mit „Rahmenbedingungen und Nutzerorientierung“ betitelt und behandelt diese Aspekte aus der Perspektive von Verlagsvertretern, Schulaufsicht, Schulleitung und Geschichtsdidaktik. Er wird eingeleitet durch eine Lobeshymne von Michael Bense auf das aktuelle Schulbuch, das als „Lehrwerkfamilie“ zu verstehen sei, deren „Erfolg [...] die kompetente Schülerin und der kompetente Schüler“ sei (61).
Deutlich sachlicher und differenzierter wendet sich anschließend Andreas Baer dem Schulbuchmarkt zu und beschreibt einige zentrale Herausforderungen und Probleme, etwa das föderale Bildungssystem, die fehlende Aufstockung der Budgets für Lehrmittel bei Bildungsreformen und den Zeitdruck bei der Erstellung neuer Lehrmittel.
Peter Wendt widmet sich der Schulbuchzulassung in Deutschland, konstatiert hierbei eine „nicht unerhebliche Unübersichtlichkeit“ (89) und verweist auf die Problematik der länderspezifischen Zulassung für die Verlage. Er beschäftigt sich zudem mit der Frage, ob die Umsetzung einheitlicher Bildungsstandards zu einer Vereinfachung der Zulassungsverfahren führen wird.
Karin Hechler berichtet über die Auswahlpraxis von Schulbüchern an ihrer Schule, wobei für sie das Schulbuch einen „Qualitätsbereich schulischen Handelns“ (97) darstellt.
Anschließend folgt ein Beitrag Bodo von Borries zur Wirkung von Geschichtsschulbüchern, in dem er – unter Bezug auf empirische Untersuchungen – die fehlende Verständlichkeit jener Schulbücher betont und Kompetenz- und Methodenorientierung statt stofflicher Überfrachtung fordert. In diesem Kontext sei eine verstärkte Verstehensforschung zu Schulbüchern unerlässlich.
Karl Heinrich Pohl setzt unter der Überschrift „Wie evaluiert man Schulbücher“ andere Akzente als von Borries, wenn er zum einen die komplexen Ansprüche, die an Schulbücher gestellt werden, problematisiert und zum anderen den aktuellen Geschichtsschulbüchern eine durchaus hohe Qualität attestiert. Mit der Nennung der Evaluationskriterien „Fragehorizont der Schüler“, „Transparenter Wertebezug“, Vermittlung methodischer Kompetenzen der Text- und Quellenanalyse (124ff) und seiner Forderung der Stärkung von Rezeptions- und Wirkungsforschung ist er dann aber wieder nahe bei von Borries.
Der dritte Teil des Bandes trägt die Überschrift „Schulbücher im Bildungsalltag“ und umfasst Annäherungen aus der Perspektive einer empirischen Lehr- und Lernforscherin, von Fachdidaktikern und der Direktorin des Georg-Eckert-Instituts. Als erstes beschäftigt sich Cornelia Gräsel mit dem Verhältnis von Schulbüchern und Unterrichtsforschung und postuliert eine Schlüsselstellung der Schulbücher innerhalb einer empirischen Unterrichtsforschung. Allerdings gäbe es bisher sehr wenige einschlägige Studien, wovon sie einige, etwa zum Schulbuchnutzerverhalten von Chemielehrern, vorstellt. Am Ende ihres Beitrags weist sie auf die Notwendigkeit der Qualifizierung der Lehrenden für den Umgang mit Schulbüchern hin.
Jürgen Kurtz setzt sich mit Lehrmitteln im Englischunterricht auseinander. Er stellt unterschiedliches Nutzerverhalten von Lehrkräften vor und plädiert für eine Unterstützung der Lehrkräfte bei einem differenzierten, situationsbezogenen und reflektierten Einsatz der Lehrwerke.
Annette Graf skizziert individuelle Fördermöglichkeiten von Schülern mit Hilfe aktueller Schulbücher für den Deutschunterricht und benennt zugleich individuelle Lernangebote als Qualitätskriterium von Lehrmitteln. Entscheidend sei auch die Vermittlung lernbereichsspezifischer Arbeitstechniken.
Ähnliche Akzente wie Graf setzen auch Claudia Crämer und Kathrin Walcher-Frank in ihrem Beitrag „Von der Fibel als Leselehrwerk zum differenzierten Schreib- und Leselernmaterial“. Sie beschreiben die Auswirkungen aktueller didaktisch-methodischer Ansätze zum Schriftspracherwerb auf die Konzeption von Lehrwerken
Der dritte Teil des Bandes wird abgeschlossen durch einen ausgezeichneten Grundlagenartikel von Simone Lässig, der sich mit den gesellschaftlichen und politischen Dimensionen des Mediums Schulbuch, den Selektionsmechanismen und Zulassungspraktiken sowie aktuellen Herausforderungen für die Schulbuchforschung befasst.
Der vierte Teil des Bandes, „Schulbuchproduktion konkret – Autoren und Verlag“, beginnt mit einem Beitrag Wolfgang Menzels, der sehr anschaulich über seine Erfahrungen mit dem Schreiben von (Deutsch-) Schulbüchern und die damit verbundenen einzelnen Arbeitsschritte berichtet. Ulrike Jürgens nennt Rahmenbedingungen der Schulbuchentwicklung für die Verlage. Volkmar Dietrich beschreibt, wie er sich den Einsatz seines (Chemie)Schulbuches im Unterricht vorstellt; er möchte es verstanden wissen als Lern-, Arbeits-, Merk- und Prüfungsbuch. Gerd-Dietrich Schmidt stellt abschließend aus Verlagsperspektive einige Möglichkeiten der Erprobung von Schulbüchern vor, benennt aber auch die Grenzen, vor allem den Zeitdruck bei der Erstellung von Schulbüchern.
Die Kurzvorstellung der Beiträge sollte gezeigt haben, wie facettenreich der Band ist. Durch die Zusammensetzung der Autoren ist es selbstverständlich, dass nicht alle Beiträge über denselben wissenschaftlichen Anspruch verfügen – aber das tut der Qualität des Bandes insgesamt keinen Abbruch. Gemeinhin schwierig bei – vor allem weitgehend aus Tagungen hervorgegangenen – Sammelbänden ist immer die Untergliederung; hier ist sie alles in allem gelungen; lediglich der Beitrag von Simone Lässig scheint mir falsch platziert zu sein; er hätte gut als Abschluss gepasst und (so man die Beiträge des Bandes hintereinander liest) dann auch noch einige Rückbezüge auf die vorangegangenen Beiträge mit der Herausarbeitung von gemeinsamen Argumentationsrichtungen und Problematisierungen ermöglicht.
Es ist zu hoffen, dass der Band viele Leserinnen und Leser findet und somit zum einen die (Schulbuch-) Forschung einen Ansporn bekommt, um sich der in den Beiträgen immer wieder genannten Desiderate anzunehmen, und zum anderen die Lehrkräfte zu einem reflektierten Umgang mit dem Schulbuch ermuntert werden.
EWR 10 (2011), Nr. 3 (Mai/Juni)
Schulbuch konkret
Kontexte – Produktion – Unterricht
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(254 S.; ISBN 978-3-7815-1775-2; 18,90 EUR)
Eva Matthes (Augsburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eva Matthes: Rezension von: Fuchs, Eckhardt / Kahlert, Joachim / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Schulbuch konkret, Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151775.html
Eva Matthes: Rezension von: Fuchs, Eckhardt / Kahlert, Joachim / Sandfuchs, Uwe (Hg.): Schulbuch konkret, Kontexte – Produktion – Unterricht. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 3 (Veröffentlicht am 22.06.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151775.html