Europaweit steigt die Jugendarbeitslosigkeit dramatisch an. Als Gründe dafür werden u. a. steigende Anforderungen an die Fachkräfte und damit veränderte Erwartungen der Betriebe an die Auszubildenden genannt. Auch nimmt die Zahl derjenigen Ausbildungsplätze ab, deren Anforderungen von gering qualifizierten Jugendlichen erfüllt werden können. Dies führt dazu, dass v.a. Schülerinnen und Schüler der Hauptschule bereits auf dem Weg zur Berufswahl in besonderer Weise mit Nachteilen für ihre Lebensplanung konfrontiert sind. Diesem Problem widmet sich das vorliegende Buch.
Ursula Queisser stellt in ihrer Untersuchung zum Übergang von der Schule in den Beruf Handlungs- und Orientierungsmuster von Hauptschülerinnen und Hauptschülern vor. Bereits im Zeitraum von 2002-2004 hat sie mit Hilfe empirisch-qualitativer Forschungsmethoden, wie etwa der dokumentarischen Methode der Interpretation nach Bohnsack aus Gruppendiskussionen, Befragungen während der schulischen Berufsvorbereitungsmaßnahmen und qualitative Kurzinterviews Informationen zur Lebensplanung und Berufsorientierung von 39 Schülerinnen und Schülern einer süddeutschen Hauptschule erhoben. Die gewonnenen Daten nutzt die Verfasserin zur Rekonstruktion von Mustern, die die Entscheidungen der Jugendlichen im Übergang von der Schule in den Beruf beeinflussen.
Das Buch ist in elf Kapitel gegliedert. Kapitel eins leitet mit Informationen zum Übergang von Schule in den Beruf ein. Ausgehend vom dreigliedrigen Schulsystem, das durch frühe Selektion und geringe Durchlässigkeit zwischen den Bildungsgängen gekennzeichnet ist, werden das Duale System und parallele Instanzen für diejenigen, die den Übergang nicht bewältigen, als Anschlussmöglichkeit für die berufliche Bildung kritisch betrachtet und Zugangsbeschränkungen (Bildung, Geschlecht, Herkunft, regionale Unterschiede) analysiert. Queisser beschreibt ihre Herangehensweise wie folgt: „Um das Zusammenspiel zwischen individuell-biografischen und institutionellen Entwicklungsprozessen in den Blick nehmen zu können, wird die Beschreibung von Entwicklungsprozessen in der Jugendphase und dem Bourdieu´schen Begriff des Habitus als Komplementärkonzepte nach Hericks (2006) als theoretische Grundlage […] angewendet“ (16).
Im zweiten Kapitel werden bezogen auf Geschlecht und Geschlechterverhältnis der Jugendlichen zentrale Fragestellungen herausgearbeitet: Auf welchen Orientierungsmustern basieren Zukunftsentscheidungen der Jugendlichen? Werden Geschlechterbilder wahrgenommen und kritisch auf die zukünftigen Rollen in der Arbeits- und Berufswelt bezogen? Gibt es Kenntnisse über reproduktive und produktive Arbeit und werden diese vorausschauend reflektiert? Gibt es bereits so etwas wie Verantwortung für die biografischen Entscheidungen? Kapitel drei stellt auf der Basis des (zum Zeitpunkt des Entstehens der Arbeit) aktuellen Forschungsstandes schulische Konzepte der Berufs- und Arbeitsorientierung exemplarisch am Beispiel der Hauptschule in Baden-Württemberg vor. Das vierte Kapitel dient der Darstellung der Grundkonzeption der Studie. Es folgen Ausführungen zu forschungsmethodologischen Grundlagen und zur Anlage der Studie in Kapitel fünf und die darauf bezogenen empirischen Teile „Fragebogen“ (Kap. 6) und „Einzelinterviews“ (Kap.7). Beide Kapitel enden nach Auswertung von Praktikumserfahrungen, Zukunftsplänen, Berufswunschvorstellungen der Schülerinnen und Schüler, die auch die Vereinbarkeit von Familie und Beruf sowie daraus resultierende Geschlechterungleichheiten betreffen, mit der Zusammenfassung der überaus interessanten Ergebnisse. Daraus ergeben sich neue Fragen beispielsweise zum Einfluss der Eltern auf Bildungsentscheidungen und deren eigene Motivation sowie zur Rolle der Hauptschule in diesen Prozessen, die im empirischen Hauptteil (Kap.8) mit Hilfe der „Gruppendiskussionen“ und „Fallanalysen“ erforscht werden. Aus den Daten gewonnene Orientierungs- und Handlungsmuster stehen jeweils als Zwischenfazit am Ende jeder Beschreibung eines „Eckfalls“ und werden am Ende des Kapitels zusammengefasst. Der gelingende Übergang von der Schule in den Beruf wird im Zusammenhang mit der Qualität und Bedeutung des Betriebspraktikums, der Schlüsselrolle der Lehrkraft, der Bedeutung familiärer Beziehungen und sozialer Kategorien wie Geschlecht und Migrationshintergrund im Hinblick auf die Bildungsmotivation der Interviewten in Kapitel neun betrachtet und untersucht.
Festgestellte Mängel fließen in die Diskussion von Konsequenzen im Folgekapitel ein. Für Queisser greift die bisherige schulische Berufsorientierung zu kurz. Sie fordert die Hauptschule zu verändern, zitiert den „Spagat zwischen Leistungsforderung und Fürsorge“ (290), regt zu verstärkter Biografieplanung an und wünscht sich zur Unterstützung des Übergangs in Ausbildung, Arbeitsplatz oder auch für die weitere Beschulung eine verstärkte Entwicklung von Bezugsnetzwerken zwischen Schule, Elternschaft und außerschulischen Partnern.
Das lesenswerte Buch endet mit einem Resümee (Kapitel elf) und der aus Rezensentensicht zentralen Erkenntnis, dass die untersuchte gängige Praxis der schulischen Berufsvorbereitung den Jugendlichen zu wenige Möglichkeiten zur persönlichen Entwicklung bietet. Die vorliegende Studie macht deutlich, dass erhebliche Unklarheit über das Übergangsgeschehen herrscht und trägt zu einer Verbesserung der Datenlage bei, die hoffentlich wiederum Voraussetzung für qualitative Veränderungen sein wird.
Einen besonderen Wert gewinnt das Buch schon durch die Tatsache, dass die Hauptschule in den Blick genommen wird, die in der Öffentlichkeit und von den Betrieben oft nur noch als „Restschule“ angesehen wird. Diese Tatsache erschwert es den Absolventinnen und Absolventen dieser Schulform deutlich, ihre Wege in die Berufstätigkeit zu finden. Hinzu kommt, dass sich die Situation dieser Mädchen und Jungen am Übergang Schule – Beruf sehr unterschiedlich gestaltet: Jungen erscheinen in der Schule leistungsschwächer als Mädchen, sind aber trotzdem beim Übergang in die Berufswelt erfolgreicher. Mädchen hingegen nutzen ihre besseren Schulabschlüsse nicht immer zu erfolgreicheren Lebensplanungen, sondern lassen sich bezogen auf berufliche Orientierungen von Vorurteilen, Geschlechterstereotypen und tradierten Rollenmustern (ver-)leiten. Beachtung findet auch die Benachteiligung Jugendlicher mit Migrationshintergrund, deren Chancen z.B. durch Ausgrenzungen bei Besetzungsverfahren aber auch durch familiäre und soziokulturelle Einflüsse erschwert werden.
Weil Bildung eine zentrale Ressource für Lebenschancen ist, sind Kenntnisse zum Thema Schülerinnen und Schüler am Übergang Schule - Beruf notwendige Voraussetzungen, um eine optimale Förderung und Beratung zu ermöglichen. Dies setzt wiederum entsprechendfortgebildete Lehrkräfte und schulische Arrangements voraus, die Kompetenzerleben und Selbstwirksamkeitserfahrungen ermöglichen, denn gerade Hauptschülerinnen und Hauptschüler schaffen es nur mit Hilfe und in langwierigen Entwicklungsprozessen, eigene Lebensentwürfe zu gestalten. Der Schule kommt die Aufgabe zu, durch optimierte Betreuung und Begleitung, durch Kooperationen mit der Berufsberatung sowie durch verbesserte Praktika und vernetzte Förderangebote Chancen für Jugendliche zu entwickeln.
Ursula Queisser hat in ihrem Buch auf zentrale Schnittstellen und Potenziale aufmerksam gemacht. Wie Schülerinnen und Schüler ihren Lebensweg planen und ob sie diese Pläne verwirklichen können, hängt sehr davon ab, ob es gelingt, passgenaue Förderprofile zu schaffen und Unterstützung zu geben. Es bleibt zu wünschen, dass der Band breit rezipiert wird.
EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)
Zwischen Schule und Beruf
Zur Lebensplanung und Berufsorientierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(360 S.; ISBN 978-3-7815-1757-8; 36,00 EUR)
Norbert Möhle (Braunschweig)
Zur Zitierweise der Rezension:
Norbert Möhle: Rezension von: Queisser, Ursula: Zwischen Schule und Beruf, Zur Lebensplanung und Berufsorientierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151757.html
Norbert Möhle: Rezension von: Queisser, Ursula: Zwischen Schule und Beruf, Zur Lebensplanung und Berufsorientierung von Hauptschülerinnen und Hauptschülern. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151757.html