Vor vielen Jahren habe ich Ähnliches gemacht: „(Struktur-)Merkmale pädagogischer Interaktion im Unterricht beobachtbar und diskutierbar machen“ (10), und dazu in Seminaren an Unterrichtsdokumenten gearbeitet. Was hat sich inzwischen getan?
In einem ersten Teil des Buches erörtern die Autorinnen [1], welche Bedeutung die Arbeit an Fällen in der Lehrerausbildung haben kann; klären, was Unterricht ist; und legen dar, wie sie methodisch bei der Interpretation ihrer Dokumente vorgehen.
„Der Fall im Lehrerstudium“ (Kap. 1) kann auf zwei Weisen gesehen werden: Fälle können „als Beispiele für eine gute Praxis oder auch eine schlechte“ dienen, eine didaktische Perspektive. Und sie können Material bereit stellen, „an dem eine bestimmte Art zu sehen und zu deuten, zu reflektieren als Spezifikum pädagogischer Arbeit geschult werden kann“, eine unterrichtstheoretische also (17). Die Autorinnen halten sich zunächst beide Optionen offen.
Auf das Fazit zur Funktion von Fallstudien folgt im 2. Kapitel eine Antwort auf die Frage: „Was ist Unterricht?“. Denn erst vor dem Hintergrund eines Allgemeinen – hier: Unterricht – kann man ein Spezifikum ausmachen – hier: Interaktion im Unterricht. Die Details kann man übergehen. Es reicht, wenn man sich das Ergebnis merkt: Unterricht ist eine soziale Situation, „innerhalb derer die gemeinsame Herstellung von Bedeutungen und das gemeinsame Generieren von Wissen durch die Beteiligten gelingen oder auch scheitern kann“ (39).
Nach ein paar Erläuterungen zur Datengrundlage handelt das Kapitel 3 vom methodischen Vorgehen bei der Interpretation. Die Autorinnen orientieren sich an der Methode der Objektiven Hermeneutik, die es auf „sogenannte latente Sinnstrukturen oder objektive Bedeutungsstrukturen“ abgesehen hat, „die unabhängig von subjektiven Sinnstrukturen gelten“ (47). Unter Inanspruchnahme von Worten des Erfinders dieser Methode, Ulrich Oevermann, geht es „um die unverstellte Wirklichkeit – um die Sprache des Falls – operiert wird dabei ausschließlich mit Bezug auf die lesbaren, hörbaren und sichtbaren Zeichen und Markierungen des je zu rekonstruierenden Protokolls“(48) [2]. – Die Erörterung von „methodischen Ansätzen“ sowie ausdrückliche „Hinweise für das Interpretieren“ sollen der Arbeit in Seminaren dienen (43).
Im zweiten Teil des Buches werden dann in je einem Kapitel „Unterrichtsanfänge“, die „Ko-Konstruktion von Themen im Gespräch und schwierige Verständigungsprozesse“ und schließlich „Gespräche über Unterricht“ behandelt – die Schwerpunkte, die die Autorinnen aus dem weiten Feld der Möglichkeiten für Fallstudien herausheben. Die Kapitel sind so aufgebaut, dass zunächst die Auswahl dieser Schwerpunkte begründet wird. Dann folgen die Fälle, jeweils bestehend aus
• einem „Transkript“ oder einem „Beobachtungsprotokoll“: Auszüge aus umfangreicheren Dokumenten von sehr unterschiedlicher Länge: zwischen neun Zeilen und zwei Seiten mit vorweg wenigen Sätzen zu seiner Herkunft;
• einer Interpretation im Umfang von knapp einer bis zu fünf Seiten (eine Ausreißerin umfasst nur drei Zeilen – weil es ausnahmsweise mal ein Fall von „guter Praxis“ ist?); und
• am Ende der Interpretation durchweg ein paar Fragen: „untersucht werden könnten anhand dieses Falles folgende Fragen“ (passim), gedacht als Anleitungen fürs (Selbst-)Studium.
Ein Fazit am Ende des Buches, nach dem Durchgang durch die Analysen, gibt es nicht.
Die interpretierten Dokumente entstammen unterschiedlichen Kontexten: Forschungsvorhaben der Autorinnen, Unterrichtsbeobachtungen aus Praktika von Studenten, und sind Stücke aus Wort- und Gedächtnisprotokollen, Berichten, Interviewtexten. Sie sind dem entsprechend inhaltlich und formal sehr heterogen. Dass die Dokumente dank ihrer Herkunft jeweils unterschiedlich vorinterpretiert sind, ist den Autorinnen zwar bewusst (44ff). Sie machen von dieser Einsicht bei ihren eigenen Interpretationen allerdings so gut wie keinen Gebrauch. Wir müssen die Texte also nehmen, wie sie sind, und sehen, wie die Autorinnen aus ihnen Theorien gewinnen, Theorien über „(Interaktions-)Zusammenhänge […], die den jeweils Handelnden nicht ohne Weiteres zugänglich sind“ (49).
Durchaus in Übereinstimmung mit einer in der Erziehungswissenschaft verbreiteten Praxis steht die Methodik der Interpretation im Vordergrund, die von mir im bildlichen Sinne als unterrichtstheoretisch etikettierte Sicht auf die „Fälle“. Die Autoren nehmen, wie gesagt, dezidiert die Methodik der objektiven Hermeneutik in Anspruch, so dezidiert, dass sie eine bestimmte Version von „Interaktionsanalysen“ trotz gewisser Ähnlichkeiten mit ihrem Verfahren ausdrücklich nicht berücksichtigen (59). In einem merkwürdigen Gegensatz zu dieser Option steht allerdings ein ziemlich großzügiger Umgang mit der gewählten Methode:
Wörtlich nehmen die Autorinnen ihre Texte schon, und sie folgen ihnen auch Wort für Wort. Aber etwa „extensiv, soviel wie sinnvoll mögliche, Lesarten“ entwickeln (54)? Man mag zu bedenken geben, dass das den Rahmen einer Anleitung für die Arbeit in Seminaren sprengte und letztlich das Ergebnis zähle. Aber das Buch zielt erklärtermaßen auf die Bildung von Interpretationskompetenz in der Arbeit an “Fällen“. Die Methodik müsste demnach im Vordergrund stehen. Ich habe aber den Eindruck, dass die Autorinnen über weite Strecken ihr eigenes Programm der Produktion und Erörterung von Lesarten verlassen haben und stattdessen Ergebnisse vorlegen. Wie die zustande gekommen sind, kann man gegebenenfalls erschließen, wird aber nicht demonstriert. So sieht es aus, als würden nur aus einfachen Vermutungen einfache Schlussfolgerungen gezogen. Das aber ginge auch ohne objektive oder Objektive Hermeneutik.
Ich komme auf den Unterricht zurück, den ich anfangs links liegen gelassen hatte. Bemerkenswert ist nämlich, dass er im ganzen zweiten Teil aus der Perspektive einer didaktischen Theorie erscheint, derjenigen, die für die Ausbildung von Lehrern funktional ist. Nichts spricht dagegen in einem Buch, das ausdrücklich „für die Lehrerbildung“ gedacht ist – außer der Tatsache, dass diese Theorie implizit bleibt. Wo man ihre Ausführung erwartete, im 2. Kapitel, wird man nicht fündig. So sieht es zunächst aus, als hingen die Begründungen für die Auswahl der Fälle in der Luft; als seien und vor allem blieben die unterschiedlichen Lesarten beliebig (im Text als Fragen markiert oder unter dem verschwenderisch gebrauchten „offenbar“ verborgen); als seien die Fragen zur Weiterarbeit beliebig. Dem ist nicht so.
Es sprengte den Rahmen einer Rezension, wenn ich die implizite oder Alltagsdidaktik der Autorinnen rekonstruierte. Möglich ist das. Denn der Subtext des ganzen Textes ist Didaktik, und das ist auch beabsichtigt (109). So folgt die Auswahl der Schwerpunkte der Artikulation des Unterrichts: Anfang – Arbeit – Reflexion nach seinem Ende; ebenso die der einzelnen Dokumente. Und im Anschluss an ihre Interpretationen sind es Lehrerbildnerinnen, die fragen und auf das Handwerkszeug angehender Lehrer zielen, insbesondere deren Beobachtungskompetenz ansprechen: „Wie reagieren die Schüler auf die Fragen des Lehrers?“ (126). Es gibt aber auch weiter gehende Fragen: „Wird für die Schüler das methodische Vorgehen des Lehrers überhaupt deutlich?“ (ebd.). Oder es geht direkt zur Sache, zum Beispiel hier: „Mit zweifelhaftem Abfragen beginnt die abschließende Sequenz […]. Die Redeweise der Lehrperson führt zu einer Raterei auf Schülerseite, anstatt einen […] Zugang zu einem modernen Musical“ zu schaffen. (102) Das ist ein klares Urteil über die didaktische Qualifikation des Lehrers und klar ein Urteil, unerheblich, ob es gerechtfertigt ist oder nicht. Kurz: Allemal unterliegt den Fragen eine didaktische Konzeption von Unterricht.
Leider fehlt auch Wesentliches. „Die Ko-Konstruktion von Themen“ finde ich nicht, wiewohl im 5. Kapitel ausdrücklich versprochen. Gemeint ist natürlich das, was in der Alltagsdidaktik die Sache heißt: „wie wird eine Sache, ein Inhalt zum Thema im Unterricht, zum Unterrichtsgegenstand?“ (99). Wo es mit den Begriffen derart durcheinander geht, darf man auch sonst nicht zu viel erwarten. Zwar kommt die gemeinsame Konstruktion in einigen der „Fälle“ auch irgendwie vor. Aber ein „Schwerpunkt“ des Kapitels (ebd.) ist sie nicht. Die „gemeinsame Herstellung von Bedeutungen und das gemeinsame Generieren von Wissen durch die Beteiligten“ (39) zu studieren, gibt es nahezu kein Material und schon gar keine Anleitung.
Begrifflich gänzlich unbestimmt bleibt die Interaktion des Buchtitels. Ein paar Erwähnungen, das ist alles – und etwas wenig, wenn man bedenkt, dass es schon in den 1960er und -70er Jahren in Deutschland eine umfangreiche und ergiebige Forschungsliteratur zu einer interaktionstheoretischen und soziolinguistischen Analyse von Unterricht gab, ganz abgesehen von der internationalen Diskussion, die seit mehr als 40 Jahren zum Beispiel in einem Journal of Classroom Interaction präsent ist. Die Autorinnen nehmen solche Arbeiten nicht in Anspruch.
„Mit diesem Buch kann in schulpädagogischen Seminaren gearbeitet werden“, heißt es auf der letzten Umschlagseite. Das täte ich nicht, denn Unterricht als pädagogische Situation kommt in den Textfragmenten allenfalls da vor, wo die durch didaktische Informationen und Kommentare vervollständigt werden. Ich legte vielmehr eine pädagogische Situation möglichst vollständig dokumentiert zugrunde, also eine Unterrichtsstunde: als Wortprotokoll, als Filmaufnahme; ebenso Transkriptionen von Interviews mit Beteiligten – selbst dann, wenn ich à la Oevermann ganz kleinschrittig vorginge. „[A]ber es kann auch genutzt werden, um sich im Selbststudium wichtige Strukturmerkmale unterrichtlicher Interaktion vor Augen zu führen“. Die Grammatik dieses Satzes hin und her: Nein! Das kann man vielleicht, aber davon würde ich abraten. Wer die Methode der Interpretation nicht kennt und nicht kann, wird mit einem Ineinander von Paraphrase, alltagsdidaktischer und methodisch anspruchsvoller Interpretation allein gelassen. – Und wer über die praktikumsbegleitende Didaktik hinaus nicht den Anspruch eines allgemeinen, unterrichtstheoretischen Zugangs zu Unterricht kennen gelernt hat, wird das Spezifikum eines interaktionstheoretischen Zugangs nicht erfassen. Hat man hingegen beides – Methodik und Unterrichtstheorie –, dann braucht man das Buch nicht unbedingt.
[1] In der Regel spreche ich vereinfachend von ‚den Autorinnen’, obwohl die einzelnen Kapitel jeweils unterschiedliche Autorinnen haben.
[2] Die Zitatschachtelung im Text gebe ich hier nicht wieder.
EWR 10 (2011), Nr. 2 (März/April)
Unterricht als Interaktion
Ein Fallbuch fĂĽr die Lehrerbildung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(168 S.; ISBN 978-3-7815-1742-4; 15,90 EUR)
Peter Menck (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Menck: Rezension von: Schelle, Carla / Rabenstein, Kerstin / Reh, Sabine: Unterricht als Interaktion, Ein Fallbuch fĂĽr die Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151742.html
Peter Menck: Rezension von: Schelle, Carla / Rabenstein, Kerstin / Reh, Sabine: Unterricht als Interaktion, Ein Fallbuch fĂĽr die Lehrerbildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.04.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151742.html