Die Forderung nach mehr empirischer Forschung trat seit der letzten Jahrhundertwende in den Vordergrund. Diese Tendenz ist auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung deutlich zu beobachten, verstärkt seit den aus deutscher Sicht als katastrophal bewerteten Ergebnissen der PISA-Studie. „Bildungspolitik und -verwaltung bieten“, nach der eher kritischen Schilderung der zwei Herausgeber des hier zu besprechenden Bandes, „einen fruchtbaren Boden für empirische Bildungsforschung, da die Qualität von Bildung und Ausbildung geradezu zu einem Dogma für die Beurteilung der Zukunftsfähigkeit der Deutschen aufgestiegen ist“ (7). Trotz der Zunahme der Aufmerksamkeit für die empirische Methode auch in der erziehungswissenschaftlichen Forschung gab es aber wenige Versuche zur Historiographie empirischer Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Um diese Lücke zu füllen, fand im September 2008 in Berlin in der Bibliothek für Bildungsgeschichtliche Forschung eine wissenschaftliche Tagung zur „Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft“ statt, die diesem Sammelband zugrunde liegt. Er besteht aus dreizehn chronologisch angeordneten Beiträgen von fünfzehn Autorinnen und Autoren. Ihre Reichweite erstreckt sich – historisch – vom späten 18. Jahrhundert bis zur Gegenwart und – geografisch – von Deutschland (West und Ost) über Frankreich, die Niederlande, die Schweiz bis in die USA.
M. Depaepe, ein Vorläufer der historischen Erforschung der empirischen Erziehungswissenschaft, legt zu Beginn allgemeine historische, theoretische und methodologische Betrachtungen zur Historiographie angewandt auf die historische Erforschung der empirischen Erziehungswissenschaft vor, die er in zehn Punkte unterteilt, um vor dem Hintergrund seiner langjährigen wissenschaftlichen Überlegung und Erfahrung auf z.B. die Bedeutung inhaltlicher, chronologischer und räumlicher Abgrenzungen oder das Problem des Standpunktes gegenüber dem Forschungsgegenstand aufmerksam zu machen.
Der eigentliche Thementeil beginnt mit dem Aufsatz von H. Diele und P. Schmid. Die Pädagogik im 18. Jahrhundert stellt sich in der Frühphase empirischer Kinderforschung als Handlungs- und Erfahrungswissenschaft dar, die sich als eine Wissenschaft verstand, die zu Aussagen über Körper und Seele des Menschen und ihren Zusammenhang gelangen wollte. Dieses Programm kam aber mit Beginn des 19. Jahrhunderts zum Niedergang. Die Autorinnen sehen den Grund dafür darin, dass einerseits das Stufenmodell – erst Empirie, dann Theorie – tendenziell unabschließbar blieb und andererseits die philanthropische Pädagogik als eine Triebkraft dieses Programms im Laufe der Zeit an Einfluss verlor.
Im Vergleich zur eher allgemeinen Skizze des Zeitraums im vorhergehenden Beitrag begrenzt J. Brachmann seine Untersuchung auf K. Ph. Moritz. Moritz edierte seit 1783 zehn Jahre lang das „Magazin zur Erfahrungsseelenkunde“ und schrieb dort selbst insgesamt 37 pädagogische Abhandlungen. Er bemühte sich, Daten von pädagogischer Bedeutung zu sammeln, systematisch zu archivieren und sachgemäß zu deuten. Brachmann zieht aus Moritz’ Überlegungen das Fazit, dass die Pädagogik nur eine begleitende Funktion habe, die „Hilfestellung bei der Bestimmung des Humanen wie beim Ausloten der Optionen seiner Verwirklichung“ bietet (91).
F. Osterwalder richtet seinen Blick auf die empirische Forschung in Frankreich, wo sie im 18. Jahrhundert eine hohe Blüte erreichte. Im Zentrum der Untersuchung Osterwalders stehen die sciences morales et politiques und sciences de l´homme, die am Beispiel des Institut National dargestellt werden. Osterwalder betont, dass die französische empirische Erforschung des Menschen und der Gesellschaft in unmittelbarem Zusammenhang mit den Bestrebungen zur politischen Reform stand. Ihr Kern „sollte auf der Beobachtung sozialer Verhältnisse und Ereignisse und der Berechnung der Wahrscheinlichkeit ihres Eintretens beruhen“ (104).
A. D. Vincenti-Schwab analysiert drei Schulumfragen in der Schweiz des ausgehenden 18. Jahrhunderts, deren Anlass sie in ökonomischer Effizienzsteigerung in kameralistischen und physiokratischen Kontexten verortet. Die „Erhebungen [hatten] zwei Funktionen und einen unintendierten Nebeneffekt: Sie generierten Wissen, das die Politik leiten sollte, und gleichzeitig legitimierten sie den politischen Gestaltungswillen der Obrigkeiten. Im Zuge dieser Bearbeitung des Raumes verfestigten sich die Raumvorstellungen in den Köpfen der Akteure“ (128).
Begriffliche Beziehungen zwischen der Natur und der Pädagogik im 19. Jahrhundert werden von E. Fuchs thematisiert. Die Hochblüte der sich an Natur und Naturwissenschaften orientierenden Methoden war in verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen ab dem zweiten Drittel des 19. Jahrhunderts zu sehen. Die Pädagogik bildete dabei keine Ausnahme, sie setzte mehr oder weniger eine Unterscheidung zweier Seiten der menschlichen Natur voraus: die äußere physische und die innere geistige. Die Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur und die den natürlichen Gesetzen entsprechende Erziehung bildeten eine Grundlage der Pädagogik bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts.
P. Dreweks Beitrag widmet sich der Frühgeschichte der empirischen Pädagogik in Deutschland exemplarisch anhand der experimentellen Pädagogik vor und nach dem Ersten Weltkrieg. Er analysiert ihre Geschichte im universitäts- und wissenschaftsgeschichtlichen sowie bildungspolitischen Kontext. Der Niedergang der experimentellen Pädagogik nach dem Krieg beruhte nach Drewek nicht auf wissenschaftlichen Kontroversen oder vermeintlichen Forschungsdefiziten, sondern auf der Veränderung ihres Umfelds, was bisher eher außer Acht geblieben sei.
Die Genese der empirischen Erziehungswissenschaft seit 1890 untersucht H.-E. Tenorth mit seinen Projektmitarbeitern anhand einer thematisch und zeitlich strukturierten Stichprobe von Publikationen auf der Basis zeitgenössischer Bibliographien, die aus den Jahren 1890 und 1930 stammen (insgesamt 1.869 Abhandlungen und Monografien). Aus dieser Untersuchung zieht er den Schluss, dass sowohl der theoretische als auch der praxisbezogene Typus der Reflexion von Fragen der Bildung und Erziehung im Laufe der Zeit an Bedeutung verlor und zugunsten einer eindeutig empirischen Reflexionsform überwunden wurde.
D. Tröhler beginnt seine Untersuchung mit der These, dass v. a. die unterschiedlichen „protestantischen Denominationen“ das deutsche und amerikanische Verständnis des wissenschaftlichen Gegenstandes bzw. der Wissenschaft maßgeblich prägten, so dass das Bild einer Parallelentwicklung der Pädagogiken in den USA und in Deutschland eine Täuschung sei. Der Grund für die unterschiedlichen Entwicklungslinien des Konzepts des Experiments in den Pädagogiken beider Länder nach dem Ersten Weltkrieg – weitgehende Durchsetzung in den USA, Verschwinden in Deutschland – war in ihrer differierenden Mentalität und Kultur zu finden.
Der historische Entwicklungsprozess des Instituts Jean-Jacques Rousseau in Genf ist der Untersuchungsgegenstand von R. Hofstetter und B. Schneuwly. Diese Entwicklung wird von den beiden Autoren in zwei Phasen (1912-29 und 1930-48) eingeteilt. Das mit experimentell-pädagogischer Schwerpunktsetzung gegründete Institut hat im Laufe der Zeit, besonders nach seiner Eingliederung in die Universität, immer mehr entwicklungs- und intelligenzpsychologischen Charakter angenommen.
Die Geschichte der empirischen Pädagogik in der DDR wird von G. Geißler anhand dreier Themen kategorisiert: Unterrichtsforschung, Jugendforschung und Untersuchungen zur Schuljugend. Die Pädagogik in der DDR, wo besonders in Leipzig und Jena – aufbauend auf bereits vor 1933 vorhandene soziologische und empirische erziehungswissenschaftliche Ansätze – empirische pädagogische Forschung betrieben wurde, entwickelte sich im paradigmatischen Rahmen des Marxismus-Leninismus Stalinscher Prägung zu einer Erziehungswissenschaft nach dem Vorbild sowjetischer Pädagogik, in der die Überprüfung von Hypothesen von weniger großer Bedeutung war als die Bestätigung doktrinär vorgegebener Theoreme.
Daran anschließend beschreibt H. Fend die drei Phasen der Entwicklung der empirischen Bildungsforschung in der Bundesrepublik Deutschland: (1) 1965-1985 als die Phase der Bildungsforschung im Kontext der Bildungsreform (Öffnung des Bildungswesens, Vergrößerung der Chancengleichheit, Stärkung der Leistungsfähigkeit des Bildungswesens, Veränderung der Lehrinhalte, didaktische Innovationen und Veränderung der pädagogischen Kultur), (2) 1985-1995 als die Phase der Bildungsforschung im Kontext der pädagogischen Innenwendung (Weiterentwicklung und Fixierung der veränderten Bildungsforschung) und (3) 1995-2008 als neue Hochphase der empirischen Pädagogik (Bildungsforschung im Kontext der internationalen und nationalen empirischen Leistungsstudien der Schüler). Insgesamt sieht er diese Entwicklung als eine „Erfolgsgeschichte für die Erziehungswissenschaft“ (292) an.
Im Kontrast zur Darstellung Fends widmet M. v. Saldern sich der Geschichte der wissenschaftlichen Kontroverse im Prozess der Disziplinbildung der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Er nutzt dabei das AGIL-Schema von T. Parsons für eine systemtheoretische Analyse der Stellung der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft im Wissenschaftssystem, wobei er vier Subsysteme unterscheidet: das Verhaltenssystem, das persönliche System, das soziale System und das kulturelle System. In allen diesen Subsystemen werden nun Einbezug oder Ausgrenzung der empirischen Erziehungswissenschaft dargestellt, wobei Saldern Defizite feststellt, die ihn zu dem Gesamtfazit führen, dass die „Geschichte der Empirischen Erziehungswissenschaft […] noch nicht geschrieben“ (324) sei.
Dieses Desiderat wird mit dem vorliegenden Band zwar nicht behoben, aber er stellt doch den gelungenen Versuch dar, das Thema wieder auf die Tagesordnung zu setzen. Im Ganzen beinhaltet das Buch unterschiedliche wissenschaftliche Zugänge zum Thema. Die Beiträge setzen sich hauptsächlich mit Texten auseinander (referierend, diskutierend, vergleichend, in den Kontext stellend u. a.), z. T. werden auch empirische Analysen zur Geschichte der empirischen Erziehungswissenschaft durchgeführt (anhand der Anzahl der Publikationen), z. T. wird auf historische empirische Studien (zu Schulen, Lehrkräften, Studenten u. a.) rekurriert. Darüber hinaus werden die Beiträge durch die oben dargestellte Vielfalt an thematischen Schwerpunkten charakterisiert. Diese Vielfalt ist zwar einerseits ein Vorteil für die Entwicklung der wissenschaftlichen Auseinandersetzung mit diesem Thema, bleibt andererseits aber auch fragmentarisch. Zu erhoffen ist nun eine systematische Arbeit, die die verbliebenen Lücken nach diesem ersten Versuch füllen kann.
EWR 10 (2011), Nr. 1 (Januar/Februar)
Beobachten – Messen – Experimentieren
Beiträge zur Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010
(340 S.; ISBN 978-3-7815-1739-4; 24,90 EUR)
Atsushi Suzuki (Hyogo, Japan)
Zur Zitierweise der Rezension:
Atsushi Suzuki: Rezension von: Ritzi, Christian / Wiegmann, Ulrich (Hg.): Beobachten – Messen – Experimentieren, Beiträge zur Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151739.html
Atsushi Suzuki: Rezension von: Ritzi, Christian / Wiegmann, Ulrich (Hg.): Beobachten – Messen – Experimentieren, Beiträge zur Geschichte der empirischen Pädagogik/Erziehungswissenschaft. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2010. In: EWR 10 (2011), Nr. 1 (Veröffentlicht am 16.02.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151739.html