Endlich gibt es eine vollständige Ausgabe der beiden schulpädagogischen Hauptschriften von Adolf Reichwein, die den üblichen editorischen Ansprüchen genügt: der Bücher „Schaffendes Schulvolk“ von 1937 und „Film in der Landschule. Vom Schauen zum Gestalten“ von 1938. Bis heute verstehe ich nicht, warum 20 Jahre zuvor die bald nach dem Kriege und – damals vielleicht noch verständlich – politisch unanstößig gemachten Nachkriegsversionen neuerdings auf den Markt gebracht werden mussten [1]. Was die Bedeutung der beiden Bücher angeht, so fasse ich mich kurz und verweise im Übrigen auf meine Einführung [2].
„Mit dieser Schrift [sc. Schaffendes Schulvolk] lege ich nicht einen Plan vor oder einen Vorschlag, wie es gemacht werden sollte, sondern den Bericht einer Wirklichkeit. […] die Gestalt einer verwirklichten, einer bereits geleisteten Arbeit“ (26). Die „Wirklichkeit“: Das waren eine einklassige Schule in einem 300-Seelen-Dorf nahe Berlin, etwa 40 Schüler, 6–14–Jährige; dazu der aus seiner PH-Professur beurlaubte, übrigens nicht formell zum Lehrer ausgebildete Reichwein, und zwar in den Jahren 1933–1939. Das in einem wohltuend unprätentiösem Stil geschriebene und auch dort anregende Buch, wo keine der Randbedingungen mit unserer Schul- und Unterrichtswelt überein stimmen, leistet das Angekündigte und leistet es auch nicht: Einerseits vermag man sich nach der Lektüre ein sehr anschauliches Bild von der Arbeit in jener Dorfschule zu machen (zumal wenn man, wie der Rezensent in seiner frühen Jugend, eine solche besucht hat). Nicht nur der Bericht „Wie wir es machen“, auch die Abschnitte „Von der Gestaltung“ (er enthält Reichweins didaktische Prinzipien) und „Von den Gründen“ sind gesättigt mit anschaulichen Beschreibungen. Ich könnte mir zum Beispiel gut vorstellen, dass ein Reichwein gewidmetes Seminar als ein Vorhaben konzipiert wird, in dem jene Schule bastelnd als ein Modell rekonstruiert würde. Dabei praktizierte man gleichzeitig eines der charakteristischen Stücke der Reichweinschen Didaktik und Unterrichtspraxis, eben das „Vorhaben“.
Auf der anderen Seite berichtet Reichwein nicht nur, vielmehr verspricht er zugleich sich und seinen Lesern Gelingen. Das ist charakteristischer Stil didaktischer Rede. Erwartungen und erhoffte Ergebnisse werden im Indikativ formuliert, als wäre das Versprochene bereits eingetreten, ich nenne das den „didaktischen Indikativ“. Allerdings erlaubt Reichwein einen Blick auch auf das Ergebnis seiner Arbeit. Dort, wo er über „die große Fahrt“ der Oberstufenschüler berichtet, fügt er „einige Stellen aus dem Gemeinschaftsbericht ein […], den die Gruppe […] nach der Reise niederschrieb“ (103). Diese Stellen darf der Interpret als Ausdruck der Kluft zwischen den Erwartungen des Autors einerseits und den Effekten andererseits lesen: Die Kinder sahen durchaus nicht alles, was sich ihr Lehrer versprochen hatte. Mir gibt der Schülerbericht einen weiteren Zugang zu jener „Wirklichkeit“, zusätzlich zu Reichweins eigenen Perspektiven. Ebenso lese ich seine Berichte – im „Film in der Landschule“ – über die Vorhaben, die er um Unterrichtsfilme herum organisierte. Jene Kluft war Reichwein also bewusst, was man von heutigen Didaktikern nicht immer sagen kann. Jedenfalls würde ich die Berichte nicht mit den Herausgebern einfach so abtun, dass hier „der Erfolg der pädagogischen Absicht durch die Schülerberichte nicht bestätigt“ werde (509). Damit bin ich bei der Arbeit der Herausgeber; zuvor aber noch ein paar Hinweise auf die anderen Texte.
Der „Film in der Landschule“ ist eine, wie ich finde, bis heute nicht überholte didaktische Reflexion der Möglichkeiten eines damals gänzlich „neuen Mediums“ und der Voraussetzungen, die zu seiner sinnvollen Nutzung erfüllt sein müssen. Reichwein geht bis ins alltägliche, organisatorische Detail auf die Technik ein; er ergänzt die anthropologischen Erwägungen zum Sehen aus dem „Schaffenden Schulvolk“ und führt, in einer Reihe von schönen Beispielen dargestellt, den Unterrichtsfilm in seine „Vorhaben“ ein. Mit dem Film musste man damals im Unterricht erst einmal Erfahrungen sammeln, zumal in kleinen Landschulen mit ihren sehr eng begrenzten finanziellen Mitteln. Und so verstand er seine Versuche ausdrücklich als Muster für ähnliche Schulen.
Wenn man irgendwo in einfacher Sprache und Begrifflichkeit lernen will, dass ein „Medium“ im Unterricht ein spezifisch, hier als Film, gestaltetes Bild der Wirklichkeit ist, in der die Schüler leben und die ihnen als Sinnzusammenhang erschlossen werden soll, dann hier. Mich fasziniert in dieser Hinsicht auch die nun wirklich auf wenige Sätze gebrachte Fassung, die ich in einigen Bildern der Fotoserien finde, die in beide Bücher integriert sind. Das mir lieb gewordene Eulenbild stammt übrigens nicht aus dem Original, wie ich jetzt sehen muss [3].
Außer den beiden Hauptwerken gibt es in dem Band noch eine Reihe von sachlich flankierenden Texten. Ich entnehme ihnen, wie intensiv Reichwein sich mit den Sachen auseinandergesetzt hat, die er in den Unterricht brachte: seinem Steckenpferd, der Luftfahrt, und einer Reihe von volkskundlichen Themen. Und ich finde schöne Exemplare der Literaturgattung „Begleitheft“ zu Filmen der Reichsstelle für den Unterrichtsfilm (Vorgängerin der heute noch wohl bekannten FWU). Dazu kommen Dokumente, u. a. ein Inspektionsbericht des zuständigen Schulrats, ein Gutachten für den NSLB, und die Dokumentation einer Reise nach England im Jahre 1938, in deren Rahmen Reichwein über „Rural Education in Germany“ vortrug. Unklar ist mir, welche Funktion drei eher allgemein (wirtschafts-)politische Zeitschriftenaufsätze haben, außer dass sie in dem Zeitraum erschienen sind, den der Titel eingrenzt.
Nun also zu den Bearbeitungen bzw. Kommentaren der Herausgeber (473–577, immerhin ein Sechstel des ganzen Bandes). Sie enthalten zunächst einmal hilfreiche Informationen, die den Texten selbst nicht entnommen werden können – zu den Randbedingungen, die die positive Aufnahme der Bücher seinerzeit verstehen lassen, oder dem Entstehungszusammenhang der Unterrichtsfilme, auch etwas zu den Personen, die im Text vorkommen.
Die Herausgeber bemühen dankenswerterweise den Topos von Reichwein als dem „Widerstandskämpfer“ nicht, vielmehr nehmen sie den Schulpädagogen und Didaktiker in den Blick und lassen ihn zur Sprache kommen. Sie deuten an, dass sich ein reformpädagogisch orientierter Autor „nicht im Klartext äußern“ konnte (12). Denn das hätte wohl die Publikation eines Berichts über eine Erziehungswirklichkeit gefährdet, die „auf einem Konzept relativer pädagogischer Autonomie basierte“ (16). Sie gehen allerdings noch weiter: Reichwein habe „eine subtile Tarnsprache“ benutzt, „die geeignet erschien, die Zensurbehörden zu täuschen, zugleich aber kundigen Lesern die Chance bot, die tatsächlichen Auffassungen des Schreibers zu entschlüsseln“ (12). Dies und eine Reihe ähnlicher Behauptungen unterstellen ein planmäßig subversives Vorgehen, für das ich in den hier vorliegenden Texten keine Indizien und zu den Behauptungen der Herausgeber keine Belege finde. Ich sehe da Reste einer fürsorglichen Entschuldigung, die die Nachkriegsbearbeitungen geleitet hat, die Reichwein heutigen Lesern gegenüber nun wirklich nicht nötig hat.
Der weitaus größte Teil der „Anmerkungen“ sind – keine Anmerkungen, sondern Interpretationen. Und die finde ich ganz und gar nicht hilfreich: Bei Reichwein wird im Unterricht gearbeitet, das Ergebnis ist ein Werk. Die Herausgeber hingegen schreiben, vermutlich allein des Reimes willen, mal von „Reichwein“, mal vom „Tiefenseer Lehrer“ oder manchmal auch dem „Reformpädagogen“ – Person, Rolle, Teil einer virtuellen Gruppierung? Das ist doch nicht dasselbe? Sodann das heute offensichtlich unvermeidliche „schulische Lernen“ (481) oder der „Lernprozess“ (483), auch die in denselben theoretischen, nämlich lerntheoretischen Kontext gehörenden „Lernfähigkeiten und -interessen“ (ebd.). Wo die Herausgeber „Lern-„ sagen, finde ich bei Reichwein, wie gesagt, in gut reformpädagogischer Tradition nur den „Unterricht“ und die „Arbeit“, und das ist beileibe nicht dasselbe. Die Planung einer „in sich geordnete[n] Reihe von Einzelvorhaben“ zum Beispiel (36) ist kein „Lern-“ (so die Herausgeber, 483), sondern ein Arbeitsprozess. Der im Übrigen von den Herausgebern durchaus geschätzte Zusammenhang mit der Reformpädagogik fällt hier dank der modischen Sprache der Interpreten unter den Tisch.
Was sich im Detail der Sprache versteckt, drängt sich Seite für Seite der Anmerkungen immer, ja, penetranter auf: eine Interpretation, die Reichweins Texte an den Mainstream heutiger Didaktik anzuknüpfen bemüht ist. Wann irgend sich ein Begriff anbietet, den Reichwein benutzt, findet man eine Anmerkung mit einer Paraphrase des Textes von Reichwein sowie Erläuterungen in – sozusagen – unserer Sprache oder einer, die für uns wohl verständlicher sein soll als die Reichweins. Dazu kommt, dies unterstreichend, regelmäßig ein „Vgl.“ oder „Zur Diskussion“, welchem Imperativ man wohl im didaktischen Seminar folgen soll, mit Verweisen auf solche Literatur, die die Didaktik der Herausgeber umschreibt.
Auf derartige Hilfen der Herausgeber würde ich gerne verzichten, und zwar zum Beispiel zugunsten eines Sachregisters. Das wäre heutzutage technisch ganz einfach herzustellen gewesen, und ich bedaure gerade hier, dass es fehlt. Die Entnazifizierung der Hauptschriften nach dem Krieg hatte nicht zuletzt anstößige Begriffe zum Gegenstand wie das „Volk“‚ „deutsch“, auch „Soldat“ oder „Front“. Ein Register hätte es mir erlaubt, recht einfach in einem ersten Zugang aus dem Text selbst zu erschließen, was Reichwein darunter verstand, und erst in einem zweiten Schritt nach erhellenden Kontextinformationen zu suchen. Das könnte ich natürlich auch jetzt – allerdings nur mit den zeitaufwändigen und überholten Methoden aus meiner akademischen Jugend und, vor allem, immer gestört durch die Interpretationen der Herausgeber.
Das Verfahren der Herausgeber ist, methodisch gesehen, nicht gegen eine Eklektik gesichert, die durch die Interessen der Herausgeber begrenzt ist. Ein Gegenstück dazu finde ich bei Heinz Schernikau. Der „baut die Reformarbeit Reichweins in eine umfangreiche Rekonstruktion der geistes- und gesellschaftsgeschichtlichen Wurzeln der Reformpädagogik ein“ [4] und spannt dafür ein breites Tableau von Bezügen auf, die er dann für seine Reichwein-Interpretation nutzen kann. Wenn man ihm im Einzelnen auch nicht immer folgen mag: Methodisch überzeugt mich sein Vorgehen eher als das der Herausgeber hier.
Aus der Perspektive des akademischen Lehrers gesprochen: Reichweins Texte, dazu auch die zu „Schule und Hochschule sowie die Volks- und Arbeiterbildung“ des ersten Bandes der Werkausgabe, sind für erziehungswissenschaftliche Lehrveranstaltungen unerlässlich. Die Interpretation anzuleiten, würde ich eher als meine Aufgabe ansehen, wobei ich mich gewiss auch der Informationen und Wegweiser der Herausgeber bediente – neben den vielen anderen Informationen über „Adolf Reichweins Tiefenseer Schule und die sie begründende Schulpädagogik und Didaktik“, „eines der eindrucksvollsten Beispiele, die aus der reformpädagogischen Bewegung hervorgegangen sind“ [5].
[1] Adolf Reichwein (1993): Schaffendes Schulvolk – Film in der Schule. Die Tiefenseer Schulschriften. Kommentierte Neuausgabe. Hrsg. von Wolfgang Klafki. u. a. Weinheim und Basel: Beltz. – Der Mitherausgeber Ullrich Amlung übrigens war an diesem Unternehmen beteiligt.
[2] Menck, Peter (1999): Geschichte der Erziehung. 2. Aufl. Donauwörth: Auer, S. 33–46, insb. 44–46.
[3] Adolf Reichwein (1993), S. 41 gegenĂĽber S. 41 der zu rezensierenden Ausgabe.
[4] Siehe zu dessen Reichwein-Interpretation http://www.klinkhardt.de/ewr/978340725510.html
[5] Klafki, Wolfgang, in: Adolf Reichwein (1993), S. 10.
EWR 10 (2011), Nr. 4 (Juli/August)
Pädagogische Schriften
Tiefenseer Schulschriften 1937-1939
Band 4
Band 4
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(600 S.; ISBN 978-3-7815-1714-1; 60,00 EUR)
Peter Menck (Siegen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Peter Menck: Rezension von: Reichwein, Adolf: Pädagogische Schriften, Tiefenseer Schulschriften 1937-1939 Band 4. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151714.html
Peter Menck: Rezension von: Reichwein, Adolf: Pädagogische Schriften, Tiefenseer Schulschriften 1937-1939 Band 4. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 4 (Veröffentlicht am 30.08.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151714.html