Adolf Reichwein ist sicherlich eine der eigenständigen Persönlichkeiten, die in der Erwachsenenbildung während der Weimarer Republik aktiv und mitprägend waren. Stichwortartig stehen dafür: seine Berufsfunktionen als Geschäftsführer des „Ausschusses der deutschen Volksbildungsvereinigungen“ (1921-23) und damit als Mitarbeiter von Robert von Erdberg, als Geschäftsführer der Volkshochschule Thüringen (1923-1925), Leiter der Volkshochschule Jena (1925-1929), seine eigenständigen praktischen Ansätze der Volkshochschularbeit: u. a. die Gründung eines Volkshochschulheims, die Arbeiterbildung, internationale Ausrichtung der Arbeit, seine allgemeineren schriftstellerischen und fachwissenschaftlichen Beiträge, z.B. welt- und volkswirtschaftliche Studien. Allein diese Aufzählung rechtfertigt ein besonderes Interesse an der vollständigen Publikation seines „schriftstellerischen“ Schaffens zur Erwachsenenbildung.
Unbenommen davon sind für die wissenschaftliche Bewertung der hier zu besprechenden zwei Bände, die sich mit der Erwachsenenbildung befassen, Prüfkriterien anzulegen, die im Folgenden unter den Fragestellungen untersucht und beantwortet werden sollen: 1. Sind sie notwendig? 2. Sind sie handwerklich gut gemacht? 3. Befördern sie eine noch zu schreibende Geschichte der Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik?
Zu 1.: Die Adolf-Reichwein Literatur ist verglichen mit der über andere Erwachsenenpädagogen der Weimarer Republik – wie z.B. Franz Mockrauer, Gertrud Hermes oder auch Paul Epstein – gut aufgestellt. Es lässt sich im Gegensatz zu diesen anderen von einer Adolf-Reichwein-Forschung sprechen. Wobei sich bislang diese Forschung vergleichsweise wenig auf seine Praxis und seine Theorieansätze in der Erwachsenenbildung bezieht. Für die relativ gute Rezeption in der Geschichtswissenschaft und der allgemeinen Pädagogik sind die Gründe insbesondere auch wirkungsgeschichtlich und zeithistorisch begründet. Zentral hierbei seine herausragende politische Zivilcourage, die ihn 1944 sein Leben kostete. Sicherlich spielt dabei auch eine Rolle, dass er als ein exponierter Vertreter des sozialdemokratischen Widerstands gelten kann und für die geschichtspolitischen Debatten um die „innere Emigration“ unter dem nationalsozialistischen Regime eine wichtige positive, eher selten auch eine fragwürdige Rolle spielt. Mit seiner Lebens- und Werkgeschichte eröffnen sich Optionen, Anknüpfungspunkte für Kontinuitätslinien der Weimarer Republik nach 1945 zu entwickeln, insbesondere auch für die andauernden Debatten um die Reformpädagogik.
Ein anderer Grund für die herausragende Stellung von Adolf Reichwein war die Vielfalt seiner pädagogischen Berufskarrieren – denn nachdem er in der Erwachsenenbildung tätig war, wurde er kurzzeitig Pressereferent im Reichsministerium für Wissenschaft, Kunst und Volksbildung, danach bis 1933 Professor an einer Pädagogischen Hochschule in der Lehrerbildung, danach Volksschullehrer an der von ihm konzipierten Modellschule in Tiefensee, und zuletzt Referent für Museum und Schule am damaligen „Staatlichen Museum für deutsche Volkskunde“. In all diesen Tätigkeitsfeldern war er praxisbezogen und modellbildend aktiv. Hinzukam sein transdisziplinärer Analysehorizont als Geograph und Staatswissenschaftler und die spezifische Spannung von Pädagogik und Politik, die er als entscheidend für die pädagogische Arbeit annahm.
Diese kursorische und pointierte Auflistung verdeutlicht, wie notwendig – sprich aufklärend – eine Auseinandersetzung mit Adolf Reichweins Werk auch heute ist. Allein dies könnte als Begründung für die Notwendigkeit der Werkausgabe schon ausreichen.
Kritisch lässt sich einzig gegen die Werkausgabe seiner erwachsenenpädagogischen Schriften einwenden: ist sie trotz der schon vorhandenen bisherigen Präsenz seines Werkes angemessen und entsteht durch die Werkausgabe eine neue Qualität, wie zum Beispiel eine Verdichtung und/ oder größere Transparenz seiner Arbeit? Die Reichwein-Kenner und auch die Bildungshistoriker allgemein könnten sagen, dass, wenn auch verstreut und vielleicht schwerer zugänglich, alle schriftlichen Ausarbeitungen von Adolf Reichwein schon veröffentlicht vorliegen bzw. gefunden werden können. Sei es auf der Basis von Bibliographien, Briefeditionen bis hin zum Reprint der „Blätter der Volkshochschule Thüringen“, in denen viele der Beiträge von A. Reichwein zu finden sind, oder als immer wieder kehrende Abdrucke von Teilsammlungen und Einzeltexten.
Für das bildungs- und zeithistorisch interessierte Publikum, insbesondere Studierende und ihre Lehrer, ist die Werkausgabe auf jeden Fall sehr hilfreich, weil sie einen schnellen und wirklich umfassenden Zugriff auf Originaltexte und wenn notwendig das Nachschlagen sachlicher Kurzkommentare des Herausgebers ermöglicht. Darüber hinaus wird auch in bislang unbekannter Intensität seine zeitgenössische Rezeption durch verschiedene Textsorten wie biografische Berichte oder Rezensionen dokumentiert. Neu und hilfreich ist die Zusammenstellung seines Schaffens ausschließlich unter dem Titel der „Erwachsenenbildung“. Aber sie ist noch viel mehr, sie schafft eine dichte Beschreibung seines Vorstellungshorizonts und seiner intellektuellen Tätigkeitsfelder, die eine Geschlossenheit und einen inneren Zusammenhang annehmen lassen, von dem es sich zu lohnen scheint, ihn systematisierend zu beforschen
Zu 2.: Die formale Buchqualität, Hardcover, Schriftgröße, das einwandfreie Lektorat und auch der ausführliche Anmerkungsapparat, das umfangreiche Quellen- und Literaturverzeichnis, das Siglenverzeichnis und das Personenregister stehen für die hohe editorische Präzision der Werkausgabe und rechtfertigen auch den Preis von 60 Euro pro Band.
Kritisch anzumerken ist: so hilfreich die pro Band mehr als 80 Seiten umfassenden Anmerkungen des Herausgebers zum besseren Hintergrundsverständnis sind, so verweisen sie doch auf ein Problem, das sich an vielen Verkürzungen der biografischen Angaben, z.B. über Theodor Bäuerle, Robert von Erdberg oder Leonard Nelson zeigt.
Die in der Werkausgabe vorgenommenen Anmerkungen zu Personen fallen damit weit hinter den Stand zurück, den ein kurzer Hinweis auf das Biografische Handwörterbuch der Erwachsenenbildung von Wolgast und Knoll oder auf vorliegende grundlegende Arbeiten, z.B. der Bäuerle-Studie von Christel Pache, ermöglicht hätte. Im Zeitalter des Internet wäre ein Anmerkungsapparat im Online-Format, mit interaktiven Optionen und auch um notwendige Überarbeitungen einzufügen, sicher empfehlenswert.
Zu 3.: Die chronologische Gliederung der Schriften ist jeweils nach den beruflichen Stationen zusammengefasst. Der am Schluss eines jeden Bandes angefügte Dokumententeil, in dem jeweils der Rahmen für die Texte bzw. zentrale Belege der zeitgenössischen Rezeption dargestellt werden, erlaubt einen konzisen Zugriff auf die Arbeiten in ihrem Entwicklungs- und Wirkungszusammenhang.
Bereichernd für die Historiographie der Erwachsenenbildung ist es, dass der transdisziplinäre Denkhorizont von Adolf Reichwein durch den Abdruck seiner internationalen sozialgeographischen und ökonomischen Studien ergänzt wird. Sie verdeutlichen insbesondere seine internationalen Perspektiven, die er in seine Praxis in der Erwachsenen- und Arbeiterbildung einbrachte und in seinen Auslandsreisen mit Teilnehmenden seiner Kurse als Teil der angestrebten Bildungsprozesse sicherlich verstärkte.
Beide Bände enthalten ein umfangreiches Editorial, welches in dieser historiographisch objektivierenden Weise bisher einmalig ist. Es erlaubt ein zusammenhängendes Verständnis der Produktionen und beruflichen Entwicklungen und ordnet sie chronologisch in die Lebensgeschichte von Adolf Reichwein ein. An einigen wenigen Stellen scheinen die Interpretationen in den Editorials selbst noch erklärungsbedürftig. So ist zu fragen, was ein „undogmatischer Sozialismus“ (Bd. 1, 42) oder „eine volkssozialistische Ordnung“ (Bd. 2, 33) als gesellschaftspolitisches Ziel für Adolf Reichwein darstellten bzw. ob es Begriffe sind, die vom Herausgeber nachträglich an Reichweins Denken herangetragen wurden – und auch so erklärungsbedürftig sind.
Wie schon erwähnt, leisten die zwei hier zu besprechenden Bände zur Erwachsenenbildung einen notwendigen Schritt zur Historisierung des Lebenswerks von Adolf Reichwein. Gleichzeitig und implizit nehmen sie eine Kanonisierung der Bedeutsamkeit des Wirkens von Persönlichkeiten in der Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik vor. Der Herausgeber schafft es zumindest in den Editorials der beiden hier besprochenen Bände nicht, Adolf Reichweins Wirken vergleichend einzuordnen und auf die Forschungslücken hinzuweisen, die bezogen auf den Einfluss der Reformpädagogik und auch bezogen auf Reste „ständischer“, paternalistischer Gesellschaftsauffassung in den Theorie- und Praxisansätzen der die Weimarer Republik unterstützenden Erwachsenenbildung bestanden. Hier ist zu hoffen, dass der noch nicht erschienene Band 5 Abhilfe bietet bzw. zumindest vertiefend darauf hinweist.
Nach diesem Abwägen von Pro und Contra der Werkausgabe wird deutlich, dass diese zwei Bände summa summarum notwendige, handwerklich gelungene und den aktuellen Forschungsstand, eben auch mit seinen Schwächen, widerspiegelnde Produkte sind. Zu wünschen bleibt, dass dieser Werkausgabe weitere Editionsvorhaben zum Werk anderer bedeutender ErwachsenenpädagogInnen der Weimarer Republik folgen. Sie könnten die notwendige Voraussetzung einer vergleichend systematisierenden Bearbeitung der Erwachsenenbildung in der Weimarer Republik bilden.
EWR 10 (2011), Nr. 6 (November/Dezember)
Sammelrezension zu Adolf Reichwein: Schriften zur Erwachsenenbildung
Frühschriften zur Erwachsenenbildung, 1920 – 1925
Pädagogische Schriften, hrsg. v. Ulrich Amlung, Bd. 1
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(536 S.; ISBN 978-3-7815-1711-0; 60,00 EUR)
Schriften zur Erwachsenen- und Arbeiterbildung, 1925 – 1929
Pädagogische Schriften, hrsg. v. Ulrich Amlung, Bd. 2
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011
(496 S.; ISBN 978-3-7815-1712-7; 60,00 EUR)
Klaus Heuer (Bonn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Klaus Heuer: Rezension von: Reichwein, Adolf: Frühschriften zur Erwachsenenbildung, 1920 – 1925, Pädagogische Schriften, hrsg. v. Ulrich Amlung, Bd. 1. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151711.html
Klaus Heuer: Rezension von: Reichwein, Adolf: Frühschriften zur Erwachsenenbildung, 1920 – 1925, Pädagogische Schriften, hrsg. v. Ulrich Amlung, Bd. 1. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2011. In: EWR 10 (2011), Nr. 6 (Veröffentlicht am 14.12.2011), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151711.html