EWR 9 (2010), Nr. 2 (MĂ€rz/April)

Andreas Hoffmann-Ocon
Schule zwischen Stadt und Staat
Steuerungskonflikte zwischen stÀdtischen SchultrÀgern, höheren Schulen und staatlichen Unterrichtsbehörden im 19. Jahrhundert
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(278 S.; ISBN 978-3-7815-1656-4; 34,00 EUR)
Schule zwischen Stadt und Staat Die Verstaatlichung der Schule gilt nach wie vor als Basisprozess der Entwicklung des deutschen Bildungswesens im 19. Jahrhundert. Auch wenn zunehmend Zweifel an einer linearen Erfolgsgeschichte angemeldet werden, liegen bislang erst wenige Untersuchungen vor, die Kommunikations- und Interaktionsprozesse zwischen lokaler und gesamtstaatlicher Schulverwaltung aus der Perspektive vor Ort behandeln. Die Göttinger Habilitationsschrift von Andreas Hoffmann-Ocon analysiert das VerhĂ€ltnis von kommunalen SchultrĂ€gern und staatlicher Unterrichtsverwaltung, oder knapper gesagt: zwischen Stadt und Staat im höheren Schulwesen des Königreichs und der spĂ€teren preußischen Provinz Hannover auf der Basis gedruckter und ungedruckter Quellen.

Die Wahl der Region erweist sich in zweifacher Hinsicht als lohnend: Zum einen trĂ€gt die Studie dazu bei, die lange vorherrschende Preußenzentrierung der Schulgeschichte zugunsten eines differenzierten Blicks auf die Vielfalt an BildungsrĂ€umen in Deutschland zu modifizieren. Sie folgt damit einer in der bildungshistorischen Forschung zum 19. Jahrhundert seit einiger Zeit zu beobachtenden Tendenz. Zum anderen eröffnet der Umstand, dass Preußen das Königreich Hannover 1866 annektierte, die Möglichkeit, unterschiedliche Formen und Auswirkungen staatlichen Handelns im Schulwesen auf lokaler Ebene zu beobachten und zu vergleichen. Der Untersuchungszeitraum erstreckt sich dementsprechend von der Einrichtung der ersten landesweiten Schulaufsichtsbehörde in Hannover 1830 bis in die 1880er Jahre.

Die Arbeit ist in einen „Rekonstruktionsteil“ und einen „Analyseteil“ gegliedert. Den ersten Teil ordnet Hoffmann-Ocon zunĂ€chst chronologisch, wobei die Annexion Hannovers 1866 die Trennlinie bildet. FĂŒr die Periode hannoverscher EigenstĂ€ndigkeit (1830-1866) und fĂŒr die preußische Zeit (1866- ca. 1880) schildert er parallel in jeweils zwei Kapiteln zunĂ€chst die schulpolitischen und insbesondere verwaltungsorganisatorischen Rahmenbedingungen, bevor er drei StĂ€dte als Fallbeispiele vorstellt. Die Auswahl von Stade, Hannover und MĂŒnden erfolgte unter dem Gesichtspunkt, unterschiedliche Muster von KonfliktverlĂ€ufen zwischen Stadt und Staat darzustellen. Diese Absicht ist plausibel umgesetzt; in der GegenĂŒberstellung der drei unterschiedlichen Konstellationen wird das breite Spektrum an Handlungsmöglichkeiten und -spielrĂ€umen von lokalen SchultrĂ€gern und staatlicher Unterrichtsverwaltung deutlich.

Den Ausgangspunkt des „Rekonstruktionsteils“ bildet die Einrichtung des Oberschulkollegiums 1830 als Zentralbehörde zum „Zweck der oberen Leitung aller höheren Unterrichtsanstalten des Königreichs“ (Patent vom 2.6.1830; 47). Gemeinsam mit der Verabschiedung des MaturitĂ€tsprĂŒfungsgesetzes (1829) und eines Examens fĂŒr Schulamtskandidaten (1831) demonstrierte es den staatlichen Anspruch auf Aufsicht und Gestaltung des höheren Schulwesens. Dieser kollidierte mit den herkömmlichen, mancherorts in den Stadtverfassungen des frĂŒhen 19. Jahrhunderts erneut festgeschriebenen Kompetenzen der StĂ€dte. Auslöser und Gegenstand konkreter Konflikte waren teils die Besetzung von Lehrerstellen, teils Unterrichtsinhalte und Bildungsziele einzelner Anstalten. WĂ€hrend Stade eine Politik der Obstruktion und „Fundamentalopposition“ (99) betrieb und das Oberschulkollegium grundsĂ€tzlich nicht als vorgesetzte Instanz anerkannte, betrachtete Hannover es zumindest als beratende, wenn auch nicht verfĂŒgende Behörde und versuchte es in Auseinandersetzungen mit dem Schuldirektor fĂŒr die eigenen Interessen einzusetzen. In MĂŒnden schließlich, dessen Fall sehr ausfĂŒhrlich geschildert wird, herrschte eine diffuse Schulpolitik vor, die durch uneinheitliche Positionen in den stĂ€dtischen Gremien charakterisiert war.

Konflikte zwischen Stadt und Staat im höheren Schulwesen waren keine hannoversche SpezialitĂ€t, sondern traten ĂŒberall in Deutschland auf. Hoffmann-Ocon weist darauf hin, indem er durchgĂ€ngig Preußen und an einigen Stellen weitere Staaten wie Kurhessen in vergleichender Perspektive heranzieht. Inwiefern die Periodisierung, die den zeitlichen Schwerpunkt der Auseinandersetzungen im VormĂ€rz vor allem in den frĂŒhen 1830er Jahren verortet und nach der Jahrhundertmitte von einem geringeren Konfliktpotential ausgeht, auf andere deutsche Regionen ĂŒbertragbar ist, bleibt – auch angesichts des derzeitigen Forschungsstandes – eine offene Frage. Das gilt ebenfalls fĂŒr die EinschĂ€tzung, welche Bedeutung die GrĂ¶ĂŸe, Struktur und Funktion der jeweiligen Stadt fĂŒr den Verlauf und das Ergebnis der Interaktionen zwischen kommunalen und staatlichen Behörden hatten. Die Position einer Residenzstadt wie Hannover etwa war vermutlich von vornherein eine andere als die von MĂŒnden, wo in den 1840er Jahren nur rund 4.000 Einwohner lebten.

Das zeigte sich auch nach der Annexion von 1866, als sich das Verhalten der StĂ€dte teilweise deutlich verĂ€nderte. Hannover beispielsweise nahm in preußischer Zeit eine wesentlich obstruktivere Haltung ein als zuvor und wehrte als „Verhandlungsverweigerer“ (192) Einflussversuche des Staates erfolgreich ab. In Stade hingegen verlief die Entwicklung umgekehrt und fĂŒhrte schließlich 1874 zu einer staatlichen Übernahme des Gymnasiums unter dem Verlust jeglicher kommunaler Mitspracherechte. Die höhere Schule MĂŒndens bĂŒĂŸte ihren gymnasialen Charakter ein. Sie blieb zwar eine stĂ€dtische Anstalt, doch beschrĂ€nkte sich dies auf ihren formalen Status, nicht auf die tatsĂ€chlichen Einflussmöglichkeiten, die de facto beim Staat lagen.

Die Kommunikationsprozesse zwischen lokalen und staatlichen Schulbehörden fanden nach dem Ende der EigenstĂ€ndigkeit Hannovers unter neuen Rahmenbedingungen statt. Preußen wollte die höheren Unterrichtsanstalten der annektierten Gebiete an die eigenen Standards anpassen und so das Schulwesen in den alten und neuen Provinzen vereinheitlichen. Zu diesem Zweck ersetzte man zunĂ€chst 1867 das Oberschulkollegium durch ein Provinzialschulkollegium. In der personellen Besetzung dieser Behörde spiegelten sich die allgemeinen Tendenzen preußischer Schulpolitik gegenĂŒber den 1866 einverleibten Staaten wider. ZunĂ€chst nahm man RĂŒcksicht auf deren regionale, traditionelle Eigenheit und beließ Einheimische in leitenden Verwaltungspositionen; im Fall Hannovers wurde Schulrat Schmalfuß aus dem OSK in das Provinzialschulkollegium ĂŒbernommen. Mit dem Amtsantritt von Kultusminister Adalbert Falk 1872 Ă€nderte sich diese Haltung grundsĂ€tzlich. KĂŒnftig gehörte der Behörde kein Hannoveraner mehr an und mit Hilfe verschiedener Normierungen wie etwa dem Normaletat fĂŒr die Besoldung und den Instruktionen fĂŒr Gymnasiallehrer und -direktoren machte Berlin deutlich, dass gesamtstaatliche Vereinheitlichungsprozesse Vorrang vor der RĂŒcksichtnahme auf regionale Besonderheiten hatten.

Die Resultate des „Rekonstruktionsteils“ bereitet Hoffmann-Ocon im zweiten Teil der Arbeit systematisch in Form einer steuerungstheoretischen Analyse auf. Mit diesem methodischen Ansatz gelingt es ĂŒberzeugend, die eingangs formulierte Fragestellung zu beantworten und zu neuen Ergebnissen zu kommen. Ausgehend von der Systemtheorie, deren Potentiale und Grenzen fĂŒr bildungshistorische Untersuchungen reflektiert werden, definiert der Verfasser schulpolitische Steuerung als „operative und kontextuelle Lenkung von stĂ€dtischen Gymnasien“ (214). Bei den der staatlichen Schulaufsicht als auch den lokalen SchultrĂ€gern zur VerfĂŒgung stehenden Steuerungsmedien unterscheidet er Macht, Recht, Geld und Wissen. Sie wurden nicht im gleichen Maße eingesetzt und waren unterschiedlich effektiv. WĂ€hrend „Wissen“ eine eher untergeordnete Rolle spielte und „Macht“ sich als ambivalent erwies, kam „Geld“ als Steuerungsmittel zentrale Bedeutung zu. Es war sogar wichtiger als das ĂŒblicherweise stark betonte „Recht“, das erst in preußischer Zeit, dann aber in der Regel in Kombination mit „Geld“ vom Staat stĂ€rker genutzt und wirksam wurde.

Insgesamt konstatiert die Arbeit einen Verstaatlichungsprozess im höheren Schulwesen Hannovers, der in eine „Semi-Staatlichkeit der stĂ€dtischen höheren Schulen“ (248) mĂŒndete. Einen wesentlichen Schub erhielt die Verstaatlichung nach 1866 mit der preußischen Strategie, als Gegenleistung fĂŒr Finanzzahlungen staatliche Compatronate in den lokalen Schulaufsichtsbehörden einzurichten. Verhandlungen zwischen Stadt und Staat sowie die Suche nach konsensualen Lösungen, das betont Hoffmann-Ocon, prĂ€gten demnach die Entwicklung, nicht einseitige Weisungen „von oben“. Die explizite Abgrenzung von der traditionellen, linearen Erfolgsgeschichte staatlicher Steuerung im 19. Jahrhundert fĂŒhrt allerdings zum einen dazu, als Negativfolie ein zu einfaches Bild hierarchischer Verwaltungsstrukturen in „monarchistisch-spĂ€tfeudalen Regierungsformen“ (235) zu zeichnen. Zum anderen wird auch im Hinblick auf aktuelle Schulentwicklungsdiskussionen der Verlust stĂ€dtischer Kompetenzen allein negativ konnotiert. Doch fallen diese Bemerkungen angesichts der QualitĂ€t der Studie im Ganzen nicht ins Gewicht. Ihr sind viele Leserinnen und Leser zu wĂŒnschen.
Sylvia Kesper-Biermann (Gießen/Paderborn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Sylvia Kesper-Biermann: Rezension von: Hoffmann-Ocon, Andreas: Schule zwischen Stadt und Staat, Steuerungskonflikte zwischen stĂ€dtischen SchultrĂ€gern, höheren Schulen und staatlichen Unterrichtsbehörden im 19. Jahrhundert. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151656.html