EWR 9 (2010), Nr. 2 (März/April)

Andrea Strachota / Gottfried Biewer / Wilfried Datler (Hrsg.)
Heilpädagogik: Pädagogik bei Vielfalt
Prävention – Interaktion – Rehabilitation
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009
(180 S.; ISBN 978-3-7815-1620-5; 19,00 EUR)
Heilpädagogik: Pädagogik bei Vielfalt Der vorliegende Band ist die schriftliche Überarbeitung der Plenarvorträge des 17. Internationalen Heilpädagogischen Kongresses „Pädagogik bei Vielfalt. Prävention, Interaktion, Rehabilitation“, der im Mai 2008 im Kongresszentrum Hofburg von der Heilpädagogischen Gesellschaft Landesgruppe Wien gemeinsam mit dem Institut für Bildungswissenschaft der Universität Wien ausgerichtet wurde. Die Gesellschaft für Heilpädagogik ist ein gemeinnütziger, parteiungebundener Verein, der sich die Förderung der heilpädagogischen Fortbildungs- und Forschungsarbeit in medizinischer, pädagogischer und psychosozialer Sicht zum Ziel gesetzt hat.

Der Titel des Buches „Heilpädagogik: Pädagogik bei Vielfalt“ hat Aufforderungscharakter: Aufforderung zur Neudefinition? Aufforderung zum Umbruch? Aufforderung zur Revolution? Tatsächlich gestaltet sich zusehends ein Umbruch einer integrierenden Heilpädagogik zu einer inklusiven Pädagogik. Eine inklusive Pädagogik, deren Anspruch, die Anerkennung jedes Menschen als selbstverständliches Mitglied der Gemeinschaft ist. Sie fußt in den Menschenrechten, explizit formuliert in der im Dezember 2005 von der UN verabschiedeten Konvention zum Schutz und zur Förderung der Rechte behinderter Menschen, einem internationalen Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, das allen Menschen das gleiche volle Recht auf individuelle Entwicklung und ihrer sozialen Teilhabe zusichert, ungeachtet der persönlichen Unterstützungsbedürfnisse. Der gesellschaftliche und pädagogische Auftrag ist, dies zu gewährleisten.

Der vorliegende Band wird seinem Untertitel „Prävention – Interaktion – Rehabilitation“ vor allem durch die angeführten Praxiskonzepte gelungener Anerkennung eigener Lebensgestaltung und dem Medium des gemeinsamen Dialogs im Hinblick auf die ersten beiden Aspekte gerecht. Der Bereich der Rehabilitation bleibt scheinbar unberücksichtigt, wäre doch eine Wiederherstellung in der zielformulierten Situation der inklusiven Pädagogik in einer Gesellschaft voll gleichwertiger Differenzen nicht mehr notwendig, da die gesellschaftliche Stellung des Subjekts dadurch nicht ins Wanken gerät. Dennoch sind aktuell mögliche Wege der Herstellung der gesellschaftlichen Stellung in einer zukünftigen inklusiven Gesellschaft Diskussionspunkte der vorgestellten Plenarvorträge.

Aktuelle schul- und arbeitsmarktpolitische, soziale und ökonomische Entwicklungen erfordern eine Thematisierung heilpädagogischer Notwendigkeiten in allen Lebensbereichen und Lebensphasen von Menschen, vom Individuum zur Gesellschaft, aufbauend auf dem individuellen Lebenslauf im Bezugssystem Familie und Freunde, in der Erweiterung dessen zur schulischen Gemeinschaft bis zum Umbruch in der Gesellschaft. Dieser verfassten Herausforderung widmen die Herausgeber den Band und diesem Verständnis entsprechend ist der Aufbau gegliedert: Heilpädagogik im Lebenslauf, Heterogenität und Schule und Gesellschaft im Umbruch. Die Heilpädagogik im Lebenslauf umfasst die Frühförderung, die berufliche Bildung und Integration in das Arbeitsleben und die Begleitung und Unterstützung alternder Menschen mit Behinderung. Der Lebensabschnitt der Schule wird im zweiten Abschnitt „Heterogenität und Schule“ in den Bereichen Heterogenität und Vielfalt im Kontext pädagogischer Theorien, Konzepte pädagogischer Umsetzung, Lern- und Verhaltensstörungen und soziale Benachteiligung und Migrationshintergrund aufgearbeitet.

Die performativen Transformationsprozesse als gesellschaftlicher Wandel und für die Heilpädagogik relevante, wenn auch nicht immer zentrale Aspekte werden auf Basis einer „Gesellschaft im Umbruch“ im dritten und letzten Abschnitt des Buches mehrperspektivisch behandelt, durch den Philosophen Konrad Paul Liessmann, durch den Soziologen Anton Amann und durch den Theologen Adolf Holl.

Im einführenden Aufsatz „Vielfalt und die Bedeutung von Anerkennung“ nimmt Andrea Strachota die Schlussfolgerung vorneweg, dass eine Pädagogik der Vielfalt untrennbar verknüpft ist mit Wertschätzung und Anerkennung von Vielfalt und damit auch von Differenzen. (10)

Das bewusst gewählte Kongressthema „Pädagogik bei Vielfalt“ ist angelehnt an Annedore Prengels „Pädagogik der Vielfalt“, die sie in der Allgemeinen Pädagogik der Vielfalt konzipiert [1]. Der Begriff der Vielfalt nach Prengel beruht auf der Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit des Differierenden, einer intersubjektiven Anerkennung zwischen gleichwertig Verschiedenen [2] und somit einer Pädagogik für alle. Strachota zeigt in ihrem Aufsatz schlüssig auf, dass der anerkennungstheoretische Zugang die einzige Möglichkeit einer zu realisierenden Gleichberechtigung und Gleichwertigkeit auch sog. Schwerstbehinderter ist, ohne in die Formen der Missachtung aufgrund geringer Wertschätzung zu geraten. Denn jede Theorie und jedes Konzept hat sich an der Personengruppe der Menschen mit schwerer Behinderung zu beweisen. Diese Personengruppe benötigt keinen ‚eigenen‘ Bildungsbegriff sondern Anerkennung und Antworten auf ihre Selbst- und Lebensgestaltung, um die Einlösung der Forderungen der Leitprinzipien wie Integration/Inklusion, Empowerment und Teilhabe, Selbstbestimmung und Autonomie zu ermöglichen. Es geht nicht darum, die jeweiligen Theorien anzupassen, sondern eine neue Verantwortung und Achtung im Denken zum Anderen zu erlangen, von der Idee des wahren Menschseins in seiner denkenden, sinnlichen und leiblichen Funktion als Nächster immer als ein unvordenklicher Anderer zu begreifen.

Die nachfolgenden Plenarvorträge versuchen die Umsetzung in praktische Anerkennung um ihrer selbst willen, Anerkennung der Gleichwertigkeit mit den dafür notwendigen (radikalen?) Umbrüchen in den individuellen Lebensbereichen, in institutionellen Bildungseinrichtungen sowie in der Gesellschaft.

Wilfried Datler nimmt in seinem Aufsatz „Frühförderung als Beziehungsförderung. Zur Bedeutung mentaler Prozesse für heilpädagogisches Handeln“ den Bereich der Intervention auf, zeigt die Frühförderin (ohne männliche Entsprechung) im Dreieck mit den Eltern und dem Kind als Begleiterin in der Beziehungsarbeit um die Anerkennung des realen Kindes zum Gelingen zu bringen.

Mathilde Niehaus und Daniela Julia Jäger thematisieren in „Ausbildungsreife und Beschäftigungsfähigkeit“ gelingende Konzepte zur Erreichung und zum Erhalt beruflicher Handlungsfähigkeit am Übergang Schule – Beruf für Jugendliche mit Behinderung. Sie zeigen zwei notwendige Strategien für die Zielerreichung auf: Die Verbesserung der individuellen Beschäftigungsfähigkeit durch die Begleitung der Lernprozesse und early work experience, im Aufgabenfeld der Schule und der Lehrenden sowie der Erhalt der Beschäftigungsfähigkeit durch die Entwicklung hin zu beschäftigungsfähigen Unternehmen, das nur über die Erschließung des gesamten Arbeitskräftepotentials ermöglicht wird.

„Chancengleichheit für alternde Menschen mit intellektueller Behinderung“ von Germain Weber zeigt neben grundsätzlichen Perspektiven zur Sicherstellung von Lebensqualität im Alter eine mögliche praktische Umsetzung für den Erhalt der Selbstbestimmung und Selbstvertretung geistig behinderter alter Menschen durch formal installierte Mentoren, die die Eltern ablösen, auf.

Ernst Berger gelingt in seinem zusammenfassenden Kommentar der Spagat zwischen dem Austausch von Individuum und Gesellschaft und den Veränderungen der Bedingungen in einem „sowohl als auch“ abschließend festzuhalten und die Erweiterung des Blicks als Notwendigkeit für den Fortschritt der Pädagogik zu installieren.

Der große Abschnitt einer jeden Lebensbiografie – der Abschnitt des schulischen Lernens – widmet der Band das zweite Kapitel „Heterogenität und Schule“. Gottfried Biewer eröffnet mit „Heterogenität in der Pädagogik“ und der neuen Aufgabe der Heilpädagogik und Inklusiven Pädagogik die Beschreibung von Problemlagen positiv zu konnotieren und gleichzeitig streng darauf zu achten, dass die Ressourcenzuweisung an die Bedürftigen erfolgt. Dafür ist ein System der differenzierten Beschreibung der pädagogischen Heterogenität zu entwickeln.

Im Beitrag „Multiperspektivität – eine Qualität der inklusiven Schulen der Vielfalt.“ weitet Ines Boban den inklusiven Blick auf Genderfragen, auf sexuelle Orientierung und auf Fatism (Diskriminierungsformen aufgrund der Abweichung von einem normierten Richtwert des Body-Mass-Index), und bietet mögliche Entwicklungsfelder entlang des Index für Inklusion in drei Dimensionen an: der Dimension der inklusiven Kultur, der Entwicklung inklusiver Strukturen und der Etablierung inklusiver Praktiken, entlang denen Forderungen an die Heil- und Sonderpädagogik gestellt werden für einen erweiterten Fokus auf den Abbau von Barrieren für Lernen und Teilhabe in einem erweiterten Raum der (Bildungs-)Institutionen.

Kerstin Merz-Atalik schließt mit ihrem Beitrag „Inklusive Pädagogik im Kontext mehrsprachiger, multikultureller Lerngruppen“ die noch ausstehenden Bereiche der schulischen Heterogenität in Bezug auf Sprache und Kultur ein. Ihr gelingt es anschaulich den negativen und positiven Kreislauf von Zuschreibungen, daraus resultierenden Förderkonzepten hin zu inklusiven Konzepten individueller Bildungsverläufe aufzuzeigen.

In ihrem Kommentar „Paradoxien der Inklusion“ analysiert Ulrike Greiner die Beträge über drei Zugänge: der Mehrdimensionalität der Begriffe, der empirischen Erforschung der Praxis unter den Bedingungen des Bildungssystems und der Weiterentwicklung der Schulen. Die theoretischen Bemühungen der neuen ausdifferenzierten Kategorien Differenz und Heterogenität im Bildungssystem bleiben, so Greiner, mit „relativ hoher Folgenlosigkeit für die Praxis“, während Bildungsmanagement und Schulentwickler Paradoxien allzu oft ignorieren müssen, was die Erziehungswissenschaft in eine verantwortungsvolle Pflicht ruft: Der Explizitmachung der Aporien in einer praxisrelevanten, möglichst kasuistisch angelegten Auseinandersetzung mit dem täglichen Umgang mit Heterogenität (125). Greiner gelingt die stringente Beweisführung der aporetischen Grenzen zwischen Selbstdefinition und Selbst-Kategorisierung der Subjekte und dem notwendigen Partizipationsprozess für kollaboratives Handeln – bei gleichzeitigem unwiderruflichem ethischem Anspruch des Konzepts einer inklusiven Schule – und die Darstellung der Paradoxien der aktuellen Heterogenitätsdebatte zwischen Individualität und Gleichheit. Hierbei geht es um eine Gleichheit im Sinn der Berücksichtigung von allen in gleichem Maß und eine Gleichheit im Sinn der Beteiligung eines jeden als grundverschiedenes Individuum.

Angestrebte gelingende individuelle Lebensläufe und eine notwendige inklusive Schulentwicklung fordern die persönliche Umgebung, fordern die Gesellschaft und führen zu gesellschaftlichen Umbrüchen, die aus der Perspektive eines Philosophen, eines Soziologen und eines Theologen im dritten Teil des Bandes dargestellt werden.

Der Philosoph Konrad Paul Liessmann beschreibt in seiner Darstellung „Die letzte Aufgabe unseres Daseins“ den Übergang zur Wissens- und Informationsgesellschaft und der damit einhergehenden Deformation der Bildung bei gleichzeitigem diffusem Bildungsbegriffes in diesem Zeitalter. Endabsicht und Sinngebung der Bildung sei Selbsterkenntnis und Freiheit (139), Unbildung der Verzicht darauf, überhaupt verstehen zu wollen. Der Anspruch besteht in der Suche nach Schaffung von Möglichkeiten und Räumen dieser Muße des Verstehen-Wollens. Der Soziologe Anton Amann thematisiert die Gesellschaft im Umbruch aus der Perspektive des gesellschaftlichen Stellenwerts des Altersstrukturwandels. Konstruktionen – so Amann – bilden Gegensätze heraus, entsprechen den Interessen jener Gruppen, die sie konstruiert haben und zeigen sich in Zeiten des Umbruchs als ambivalente Konstruktionen, die an der Grundfrage des Verhältnisses der Menschen zueinander rühren. Adolf Holl, Theologe, macht in seinem Beitrag „Sinngebung des Sinnlosen“ den gesellschaftlichen Transformationsprozess aus der Interpretationsperspektive der sinngebenden Geschichtsschreibung fest.

Im Kommentar „Kreuzungen, Berührungen, Differenzen im Blick auf gesellschaftliche Transformationsprozesse“ analysiert Ines M. Breinbauer die Gemeinsamkeit der Aufsätze zur Thematik der Gesellschaft im Umbruch in der Einigkeit der Grundidee des Humanismus und dessen Gefährdung durch alle historischen Epochen. Gesellschaftliche Umbrüche beschreibt Breinbauer als kontinuierliche gesellschaftliche Transformationsprozesse gekennzeichnet durch ihre irreversible Änderung, dem Zweifel am Wissen der Wissensgesellschaft und der Brisanz der Zeitordnung (172).

Über die Verschriftlichung des gesprochenen Wortes gelingt die Reflexion und nachhaltige Bildungswirkung sowie die Beeinflussung des gemeinsamen Dialoges. Die transkribierten Plenarvorträge realisieren durch die Positionierungen ihrer Autoren, die angeführten praktischen Bezüge, die multiperspektivische Detailsicht und den anstehenden Handlungsaufforderungen den Anspruch der Herausgeber an den vorliegenden Band.

Bei der Thematisierung und Problematisierung in allen (so die Herausgeber) Lebensbereichen und Lebensphasen vermisst man den Bereich der Freizeit, dessen Gestaltung jenseits bereits etablierter Institutionen und das soziale Bezugssystem der peer group. Zukunftsweisende Wohnkonzepte, Freizeitaktivitäten, notwendige dialogische Begleitungen werden in dem Band vergeblich gesucht. Bemerkenswert sind die kommentierten Stellungnahmen im Abschluss eines jeden Abschnittes, die eine Positionierung der Aufsätze in die aktuelle Debatte vornehmen, die sowohl die Gemeinsamkeiten als auch die unterschiedlichen Zugänge der Aufsätze beschreiben und weiterführende Fragen zur Entwicklung der Heilpädagogik stellen.

Es werden weitere mögliche Entwicklungslinien für die Heilpädagogik bei Vielfalt aufgezeigt – beispielsweise die praxisrelevante kasuistisch angelegte Auseinandersetzung und Dokumentation mit dem täglichen Umgang mit Heterogenität im Bildungssystem, aber auch fehlende Strukturen, die zu einer Überforderung der Verantwortungsträger im jeweiligen Kontext führen. Aporetische Grenzen und Paradoxien in Theorie und Praxis werden dargestellt und thematisiert.

Im umspannenden Bogen – und das gelingt den Autoren und Herausgebern des Bandes klar herauszuarbeiten – kann das Ziel in einem sowohl-als-auch formuliert werden: Sowohl der Notwendigkeit der Veränderung der individuellen Bedingungen im Rahmen des Gesellschaftsmanagements als auch in der dialogischen Begleitung des Individuums, konzentriert im Erfolg des Systems UND der Anerkennung des Einzelnen (124), fokussiert in einer emanzipierten Gesellschaft, in der die Versöhnung der Differenzen gelingt und der bessere Zustand gedacht wird, in dem man ohne Angst verschieden sein kann [3].

[1] Prengel, A. (2006): Pädagogik der Vielfalt. Verschiedenheit und Gleichberechtigung in Interkultureller, Feministischer und Integrativer Pädagogik. 3. Aufl., Wiesbaden.
[2] a.a.O. 62
[3] Adorno, T. W. (1995). Minima Moralia. Reflexionen aus dem beschädigten Leben. Frankfurt am Main. Suhrkamp.
Monika Dorner (Dornbirn)
Zur Zitierweise der Rezension:
Monika Dorner: Rezension von: Strachota, Andrea / Biewer, Gottfried / Datler, Wilfried (Hg.): Heilpädagogik: Pädagogik bei Vielfalt, Prävention – Interaktion – Rehabilitation. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2009. In: EWR 9 (2010), Nr. 2 (Veröffentlicht am 13.04.2010), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151620.html