Ausgangspunkt von Exners Untersuchung bildet die Feststellung, dass Forderungen nach „sozialer Integration“ oder „Integration in die Gesellschaft“ in den letzten Jahrzehnten zu Allgemeinplätzen im vom Autor so bezeichneten „Behindertenbereich“ geworden sind, dem Gesamt der Professionen, Disziplinen und Organisationen, die das soziale Phänomen der Behinderung haupt- oder nebensächlich bearbeiten. Trotz der erstaunlichen Karriere und des inflationären Gebrauchs der beiden Begriffe „Gesellschaft“ und „Integration“ stehe eine gründliche soziologische Klärung der Verwendung dieser Begriffe im Behindertenbereich nach wie vor aus. Gleiches gelte für die Frage, wie Gesellschaft „im Hinblick auf Integration funktionier[e]“ (8). Die mit dem „Integrationsparadigma“ verbundenen Begriffe und Handlungskonzepte seien daher einer eingehenden Prüfung hinsichtlich ihrer Plausibilität und ihrer Anwendungsfolgen zu unterziehen.
Im ersten Kapitel zeichnet Exner nach, wann und wie der Integrationsbegriff im Behindertenbereich dominant wurde und unterzieht dessen Gebrauch sowie hieraus abgeleitete Konzepte bereits einer eingehenden Kritik. Als prägende Disziplin des Behindertenbereichs habe die Sonderpädagogik seit Beginn der 70er Jahre die Karriere des Begriffs befördert. Katalysator dieser Entwicklung sei die Gesamtschuldiskussion der (frühen) 70er Jahre gewesen, mithin ein schulreformerisches Anliegen. Dass nicht der von der Behindertenbewegung präferierte Begriff der „Emanzipation“ zur zentralen Leitidee wurde, führt Exner im Wesentlichen darauf zurück, dass die Behindertenbewegung nicht stark genug gewesen sei, sich gegen Eltern und die Disziplinen und Organisationen des Behin-dertenbereichs durchzusetzen. Wie der Rehabilitationsbegriff sei auch der Integrationsbegriff von nichtbehinderten Expert/innen geprägt worden. Als Handlungskonzept stelle „Integration“, so wie sie konzipiert und betrieben werde, lediglich eine leicht revidierte Form der Intervention bei Behinderung dar, bei der behinderte Menschen in der Rolle von Objekten einer pädagogischen Interventionen verblieben, deren Erteilung zudem oftmals vom Grad und der Art der Beeinträchtigung abhängig gemacht werde. Bezugsrahmen und Ziel der Intervention bleibe ferner die „Welt der Nichtbehinderten“; dies zeige unter anderem die pauschale Rede von „sozialer Isolierung“, wenn behinderte Menschen nur mit anderen behinderten Menschen zusammen seien. Ferner werde im Integrationsparadigma an einer Zwei-Gruppen-Theorie mit zu integrierenden „behinderten“ und (vorgeblich) integrierten „nichtbehinderten“ Menschen festgehalten. Positionen in der Behindertenbewegung, die unter anderem auf den mit bestehenden Integrationskonzepten einhergehenden Anpassungszwang verwiesen, wurden nach Exner in der „Integrationsbewegung“ nicht aufgegriffen. Der Autor wirft in diesem Zusammenhang die Frage auf, ob nicht „gerade das auf ‚Behinderte’ ausgerichtete Integrationsparadigma für ‚Nichtbehinderte’ dazu dient, ihre Angst vor Behinderung zu bändigen, indem das Phänomen „Behinderung“ in überschaubare und nachvollziehbare Bahnen gelenkt wird“ (31). Insgesamt betrachtet sei die Rede von der Integration im Behindertenbereich diffus, verlaufe in argumentativer Beliebigkeit und sei zugleich moralisch in höchstem Masse überfrachtet.
Im zweiten Kapitel („Der Gesellschaftsbegriff als Voraussetzung der gesellschaftlichen und sozialen Integration behinderter Menschen“) wendet sich der Autor Luhmanns systemtheoretischer Gesellschaftstheorie zu mit dem Ziel, der „Frage nach der Genese, der Struktur und den Inhalten der Beziehungen ‚Behinderter‘ in der Gesellschaft nachzugehen“ (13). Wegen ihres hohen Abstraktionsgrades und ihres Verzichts auf normative und moralische Grundannahmen sei die Systemtheorie gut geeignet, die Beziehung zwischen Behinderten und Gesellschaft zu untersuchen. Nach einer ausführlichen Darstellung zentraler Inhalte und Begriffe der Systemtheorie geht Exner auf die „Konsequenzen der Luhmannschen Gesellschaftstheorie für die Integrationsfrage in bezug auf behinderte Menschen“ ein. Die entscheidende Folgerung, die Exner aus seiner Luhmann-Exegese zieht, ist die, dass behinderte Menschen nicht ausserhalb der Gesellschaft stehen und daher die Rede von der Notwendigkeit einer „gesellschaftlichen Integration“ behinderter Menschen verfehlt ist. Behinderte Personen seien immer dabei, wenn durch Kommunikation Gesellschaft erzeugt werde; für das Geschehen von Kommunikation sei es unerheblich, wo sich psychische Systeme treffen – „ob z.B. in der Regel- oder Sonderschule oder in der Familie oder im Wohnheim für behinderte Menschen“ (131). Daher lasse sich „nicht mehr argumentieren, dass z.B. ‚Sondereinrichtungen für Behinderte’ aus dem Gesamtsystem Gesellschaft ausgegliedert wären und dazu beitragen könnten, ‚Behinderte’ aus diesem Gesamtsystem auszugliedern“ (143). Sondereinrichtungen ‚für Behinderte’ seien am Vollzug von Gesellschaft ebenso beteiligt wie von behinderten Personen gegründete und geleitete Organisationen; gemeinsam sei beiden die Fixierung auf Behinderung im Hinblick auf Mitgliederentscheidungen und Programme.
Auch im dritten Kapitel werden zunächst soziologische Theorien grosser Reichweite – hier zur Sozial- und Systemintegration – referiert und in einem zweiten Schritt auf die Situation behinderter Menschen angewandt. Mit ähnlichen Ergebnissen: Es lasse sich, so Exner, „ohne Schwierigkeiten zeigen, dass beide Integrationsformen auch auf behinderte Menschen zutreffen und ihr Integriertsein aus soziologischer Perspektive somit grundsätzlich nicht in Frage steht“ (169). Auch in Sonderschulen befinde man sich mitnichten „weitab vom gesellschaftlichen Leben“ (172), und auch Sonderschulerfahrungen seien Beziehungserfahrungen. Behinderte Menschen seien – wie alle anderen Menschen auch – im Verhältnis zu fast allen Organisationen Nichtmitglieder und je nach Lebenslage in verschiedene Sozialsysteme eingebunden. Der Vorgang etwa des Ausgeschlossenwerdens von der Regelschule und des Eingeschlossenwerdens in die Sonderschule ist nach Exner „als Integrationserfahrung zu begreifen“ (177), eben als eine, die für behinderte Kinder und Jugendliche „mit einer schädigungs- oder beeinträchtigungsspezifischen Rollenzuweisung einhergeht und damit eine Positionierung im gesellschaftlichen und sozialen Beziehungsgeflecht bewirkt“. Der Integrationsdiskurs im Behindertenbereich ignoriere konsequent den Sachverhalt, „dass sich soziale Integration grundsätzlich aus sozialen Beziehungen und nicht aus – auf der Grundlage bestimmter auf Personen gerichteter Merkmale oder Bedingungen – speziell definierten Beziehungskonstellationen ableitet“ (179).
Abschliessend resümiert Exner, die zentrale Bedeutung und die normative Aufladung des Integrationsbegriffs im Behindertenbereich beruhten nicht auf einer sorgfältigen Rezeption soziologischer Gesellschafts- und Integrationstheorien, sondern vor allem auf schulreformerischen Absichten. Die nicht von behinderten Menschen selbst bestimmte Leitidee der Integration sieht Exner als Teil einer Legitimationsmaschinerie, die zur Verfestigung bestehender Rollenverteilungen zwischen Integrationsspezialist/innen sowie „gebenden“ Integrierenden auf der einen Seite und nehmenden, mit einem (zugeschriebenen) Integrationsdefizit behafteten behinderten Menschen auf der anderen Seite beitrage. Die soziale Integration behinderter Menschen bleibe so an die Anwesenheit nichtbehinderter Menschen geknüpft. Demgegenüber gelte es, Prozessen der sozialen Positionierung in allen Lebenszusammenhängen behinderter Menschen in der Forschung erhöhte Aufmerksamkeit zu widmen. Als Leitidee sei Integration abzulösen durch die der Emanzipation; dies schon allein deshalb, weil Emanzipation „keines kategorisierenden Zuschreibungsprozesses bedarf“ (190).
Zwei zentrale Vorwürfe sind es, die der Autor „dem Behindertenbereich“ als Ergebnis seiner Studie macht: Zum einen würden hier Begriffe nicht „richtig“ verwendet, zum anderen tradierten Handlungskonzepte, die sich an diesen Begriffen orientierten, bestehende Machtverhältnisse und Rollenverteilungen sowie die Zwei-Gruppen-Theorie. Beide Vorwürfe beruhen auf Setzungen. Die erste lautet, es gebe so etwas wie eine „richtige“, soziologische Begriffsbestimmung und -verwendung von „Integration“, die sich eindeutig festlegen lasse und an der sich verwandte Disziplinen, zumal die Pädagogik, zwingend zu orientieren haben. Die zweite lautet, dass die kritisierten Konsequenzen der geschilderten Handlungskonzepte kausal auf die Verwendung eines bestimmten Begriffs zurückzuführen sind. Beide Setzungen sind nicht oder nicht vollständig plausibel. Gleichwohl liefert Exners Studie eine gründliche, facettenreiche und insgesamt anregende Reflexion des Gebrauchs von Begriffen und hieraus abgeleiteter Handlungskonzepte im Behindertenbereich.
EWR 8 (2009), Nr. 2 (März/April)
Kritik am Integrationsparadigma im ‚Behindertenbereich’
Von der Notwendigkeit soziologischer Theoriebildung
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007
(208 S.; ISBN 978-3-7815-1563-5; 29,80 EUR)
Kai Felkendorff (Zürich)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kai Felkendorff: Rezension von: Exner, Karsten: Kritik am Integrationsparadigma im ‚Behindertenbereich’, Von der Notwendigkeit soziologischer Theoriebildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151563.html
Kai Felkendorff: Rezension von: Exner, Karsten: Kritik am Integrationsparadigma im ‚Behindertenbereich’, Von der Notwendigkeit soziologischer Theoriebildung. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 2 (Veröffentlicht am 27.03.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151563.html