Der 2007 im Verlag Klinkhardt erschienene Sammelband „Pflegeabhängigkeit und Körperbehinderung“ befasst sich mit der komplexen Lebenssituation von aufgrund einer Körperbehinderung pflegeabhängigen Menschen. Diese Problematik wurde in der Vergangenheit, so die Herausgeber Karl-Joseph Faßbender und Martina Schlüter, wissenschaftlich kaum beachtet und nur selten untersucht. Die gängigen Debatten zum Thema Pflegeabhängigkeit stellen unter dem Stichwort „demographischer Wandel“ auf eine Pflegebedürftigkeit ab, die altersbedingt ist und von der in den kommenden Jahren vermutlich eine wachsende Anzahl von Menschen betroffen sein wird. Vor dem Hintergrund dieses Diskurses werde die Thematik Pflegeabhängigkeit und körperliche Behinderung in der politischen wie wissenschaftlichen Auseinandersetzung üblicher Weise auf einen Nebenschauplatz verwiesen.
Die Autorinnen und Autoren machen es sich zur Aufgabe, dem entgegen zu wirken und das schwierige Verhältnis zwischen Pflegeabhängigkeit einerseits und Lebensautonomie und Selbstbestimmung auf der anderen Seite unter unterschiedlichen Blickwinkeln zu beleuchten. Dabei werden ökonomische und soziale ebenso wie juristische, psychologische und ethische Aspekte in den Blick genommen. Unter anderem analysieren die Aufsätze spezifische Problemlagen in den Bereichen Wohnen, Berufstätigkeit, Sexualität und Gender. Auf den 224 Seiten des Bandes finden sich neben Fachbeiträgen auch Lebensberichte von betroffenen Menschen.
Gleichzeitig körperbehindert und pflegeabhängig zu sein, bedeutet nicht nur, sich der alltäglichen Benachteiligung in Hinblick auf die Partizipation am gesellschaftlichen Leben (bauliche Barrieren und Barrieren in den Köpfen) erwehren zu müssen. Vielmehr haben sich die Betroffenen auch, das macht der Sammelband deutlich, mit restriktiv agierenden Sozialverwaltungen, dem Ringen um die eigene Selbstbestimmung, mit struktureller und individueller Fremdbestimmung, mit wechselndem Pflegepersonal und den unterschiedlichen Kompetenzen der Pflegekräfte auseinander zu setzen.
Auf zwei der insgesamt 13 Beiträge möchte ich im Folgenden näher eingehen. Sven Jennessen nimmt sich des Themas Gender und Pflege an. „Pflegerische Situationen sind niemals abstrakt, sondern immer unmittelbar an die konkrete Körperlichkeit der Interaktionspartner gebunden und somit nicht zu trennen von dem sozialen Geschlecht und den damit konnotierten, mehr oder minder verbindlichen Geschlechterrollen, Lebensbedingungen und individuellen Biographien von Pflegenden und Gepflegten“ (158). Die Auseinandersetzung mit der geschlechtssensiblen Pflege sei jedoch, so Jennessen, eine neue Perspektive der Pflegewissenschaften und aus sonderpädagogischer Perspektive ein noch völlig unbearbeitetes Themengebiet. Ein überraschender Befund immerhin, weil bis in die 1990er Jahre, dies sei hier angemerkt, körperbehinderte, selbstbestimmt in der eigenen Wohnung lebende Frauen mit hohem Pflegebedarf gezwungen waren, sich von Männern im Alltag unterstützen zu lassen. Denn obwohl Pflegetätigkeit damals wie heute eine typisch weibliche Angelegenheit war bzw. ist (im Pflegebereich liegt der Anteil der weiblichen Pflegekräfte und -personen bei 90 %), beruhte das damalige System der „Individuellen Schwerstbehindertenbetreuung“ – vor allem aus Kostengründen – auf dem Einsatz von (männlichen) Zivildienstleistenden.
Jennessen beschäftigt sich in besonderer Weise mit der Problematik der Intimpflege. Er weist darauf hin, dass eine häufig schon frühe pflegerische Abhängigkeit körperbehinderter Menschen zur Folge haben kann, „dass die Entwicklung der geschlechtsspezifischen Identität nicht unproblematisch verläuft. Der permanente Eingriff in die leibliche Integrität [...] geht häufig mit einer unmittelbaren situativen oder andauernden Pflegeabhängigkeit einher. Die frühzeitige Erfahrung des Objektseins kann somit für die betroffenen Menschen bezüglich der Entwicklungsaufgabe Herausbildung einer Geschlechtsidentität besondere Entwicklungserschwernisse beinhalten“ (169). Der Autor thematisiert in diesem Zusammenhang auch mögliche Probleme für die Pflegekräfte und -personen.
Die rechtlichen Grundlagen der Hilfe zur Pflege erörtert Carl-Wilhelm Rößler. Breiten Raum findet dabei die Darstellung der Pflegeversicherung und der Sozialhilfestrukturen. Rößler beschreibt die Entstehungsgeschichte der Pflegeversicherung vor dem Hintergrund unterschiedlicher politischer und ökonomischer Interessen. Ein durchaus spannendes Kapitel deutscher Sozialstaatsgeschichte, denn mit dem elften Sozialgesetzbuch (SGB) ergänzte der Gesetzgeber 1994 das deutsche Sozialversicherungssystem zum ersten Mal seit der Weimarer Republik und nach einer jahrzehntelangen Debatte um eine neue, fünfte „Säule“. Darüber hinaus bezieht sich Rößler ausgiebig auf die seit ihrer Etablierung umstrittenen Aspekte der Pflegeversicherung. Stichworte sind hier: der unzulängliche Pflegebedürftigkeitsbegriff im SGB XI sowie die Probleme bei der Begutachtung durch den medizinischen Dienst der Krankenkassen und bei der Pflegestufenzuordnung.
Da die Leistungen der Pflegeversicherung in ihrer Höhe gedeckelt sind, müssen pflegeabhängige Menschen mit Körperbehinderung in aller Regel auf andere Ressourcen zur Finanzierung der notwendigen Pflege zurückgreifen. Für die meisten Betroffenen bedeutet dies, auf die Fürsorgeleistungen des Sozialhilfesystems angewiesen zu sein. Im Gegensatz zur Pflegeversicherung sind aber die Leistungen der Sozialhilfe einkommens- und vermögensabhängig. Rößler kritisiert in diesem Zusammenhang die Einkommens- und Vermögensgrenzen der entsprechenden Hilfen des SGB XII. „Insbesondere die vorrangige Heranziehung von Einkommen und Vermögen des Pflegebedürftigen und seinen Angehörigen führt auch nach Einführung der Pflegeversicherung zu unbilligen Härten und wird von vielen behinderten Menschen als besonders diskriminierend empfunden“ (146). Allerdings ließen sich die diskriminierenden Mechanismen für die Betroffenen aufgrund der ungünstigen sozialhilferechtlichen Einkommens- und Vermögensanrechnung detaillierter darstellen. So unterliegen selbst erwerbstätige Menschen, wenn sie auf Hilfe zur Pflege nach SGB XII angewiesen sind, hinsichtlich ihrer Möglichkeiten, kleinere Geldbeträge anzusparen, ähnlichen Restriktionen wie Hartz IV-Empfänger/innen. Darüber hinaus ist aufgrund der rigiden Einkommensanrechnung der Anreiz, einer Erwerbstätigkeit nachzugehen, für die betroffenen Personen denkbar gering.
Das Buch „Pflegeabhängigkeit und Körperbehinderung“ zeichnet in bemerkenswerter Weise unterschiedliche Schwierigkeiten der Lebenssituation mit Pflegeabhängigkeit nach. Die Lebensberichte betroffener Menschen bekräftigen und verdeutlichen das theoretisch Ausgearbeitete. Der Band ist besonders geeignet als Einstieg in das Thema Pflegeabhängigkeit und Körperbehinderung.
EWR 8 (2009), Nr. 1 (Januar/Februar)
Pflegeabhängigkeit und Körperbehinder
Theoretische Fundierungen und praktische Erfahrungen
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007
(224 S.; ISBN 978-3-7815-1551-2; 19,80 EUR)
Naxina Wienstroer (Marburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Naxina Wienstroer: Rezension von: Faßbender, Karl-Josef / Schlüter, Martina (Hg.): Pflegeabhängigkeit und Körperbehinder, Theoretische Fundierungen und praktische Erfahrungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151551.html
Naxina Wienstroer: Rezension von: Faßbender, Karl-Josef / Schlüter, Martina (Hg.): Pflegeabhängigkeit und Körperbehinder, Theoretische Fundierungen und praktische Erfahrungen. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2007. In: EWR 8 (2009), Nr. 1 (Veröffentlicht am 04.02.2009), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151551.html