EWR 7 (2008), Nr. 3 (Mai/Juni)

Irina Mchitarjan
Das "russische Schulwesen" im europÀischen Exil
Zum bildungspolitischen Umgang mit den pÀdagogischenInitiativen der
russischen Emigranten in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen (1918-1939)
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(270 S.; ISBN 978-3-7815-1473-7; 29,80 EUR)
Das "russische Schulwesen" im europĂ€ischen Exil Der – etwas langatmig formulierte – Titel der bereits seit 2006 vorliegenden Veröffentlichung verspricht eine spannende Analyse voller politischer Brisanz. Sie beruht auf der seit 2001 entstandenen und 2004 an der Ernst-Moritz-Arndt-UniversitĂ€t Greifswald angenommenen Habilitationsschrift der Autorin. Deren Ziel war es, „das russische Emigrantenschulwesen nach 1917 in ausgewĂ€hlten LĂ€ndern Europas zu rekonstruieren, ebenso wie die Schulpolitik dieser LĂ€nder gegenĂŒber den russischen Emigranten und damit ihren bildungspolitischen Umgang mit Migration und EthnizitĂ€t“ (11). Man ahnt das gewaltige Programm notwendiger Quellenforschung in mehreren LĂ€ndern, die zwingende Notwendigkeit von Sprachkenntnissen und die UnerlĂ€sslichkeit der Einarbeitung in den Forschungsstand mehrerer und auseinander liegender Bereiche. Zu letzteren gehören Erkenntnisse zum russischen Schulwesen vor 1917 und zur sowjetrussischen Bildungspolitik danach, mit deren jeweiligen Erscheinungen die Emigranten konfrontiert waren, gehört ihr VerstĂ€ndnis vom „russischen Schulwesen“, das sie in die ExillĂ€nder einbrachten, gehört das Spannungsfeld zwischen diesen Vorstellungen und dem Entwicklungsstand des Bildungswesens in den jeweiligen ExillĂ€ndern und gehört – so der Anspruch der Autorin – die PrĂŒfung des Zusammenhangs von Migration und EthnizitĂ€t.

Mchitarjan gliedert ihre Darstellung in sieben Hauptabschnitte. Die 270 Seiten umfassende Buchveröffentlichung befasst sich zunĂ€chst mit der Fragestellung, von der die Untersuchung ausgeht, und beschreibt dann die Quellen- und Literaturlage. Als â€žĂŒbergeordnete Fragestellung“ wird angegeben – was in Bezug auf den Buchtitel und den gewĂ€hlten historischen Ausschnitt etwas irritierend wirkt – zu untersuchen, „welche Auswirkungen die Einwanderung einer Minderheit auf die Bildungspolitik der Mehrheitsgesellschaft haben kann; und umgekehrt, wie sich die Bedingungen des Einwanderungslandes auf die bildungspolitischen und pĂ€dagogischen AktivitĂ€ten der eingewanderten Minderheit auswirken“ (17). Zur erklĂ€rten Programmatik der Darstellung gehört, „zwei bislang weitgehend unverbundene Forschungsgebiete“ (11) zusammenzufĂŒhren: die russische Emigration nach 1917 sowie Migration und EthnizitĂ€t und ihre Folgen fĂŒr die Bildung. Da jedoch gleichzeitig ein immenser Aufwand an archivalischer Aufarbeitung der historischen Erscheinungsbilder des „russischen Schulwesens“ bzw. des russischen Emigrantenschulwesens in drei LĂ€ndern notwendig war (Deutschland 1918 – 1933, Tschechoslowakei 1918 – 1938 und Polen 1918 – 1933), wirkt dieser Anspruch ĂŒberfrachtet und wird auch nur partiell eingelöst.

Der EinfĂŒhrung folgt ein knapper Überblick ĂŒber die russische Emigration in Europa nach 1917. Es wird davon ausgegangen, dass etwa 1,5 bis 2 Millionen Russen aus politischen oder wirtschaftlichen GrĂŒnden emigrierten bzw. nach Beendigung des Ersten Weltkriegs nicht nach Russland zurĂŒckkehrten. Hauptzentren der russischen Emigration waren Berlin, Paris, Prag, Belgrad, Sofia und Harbin (China). FĂŒr die von ihr untersuchten LĂ€nder hat Mchitarjan in den Jahren 1927/28 folgende Daten erfasst (leider verzichtet Mchitarjan bei der entsprechenden Zusammenstellung auf die Relation zur Gesamtbevölkerung des jeweiligen Landes): Deutschland 150.000 Emigranten, Polen 90.000 und die Tschechoslowakei 30.000 (zum Vergleich: in diesen Jahren hielten sich in Frankreich 400.000 russische Emigranten auf). Die Hauptakteure in den ExillĂ€ndern auf bildungspolitischem und pĂ€dagogischem Gebiet waren parteipolitisch liberal, liberaldemokratisch bzw. liberal-monarchistisch orientiert und der nichtsozialistischen, radikaldemokratischen bzw. der eine konstitutionelle Monarchie befĂŒrwortenden russischen Intelligenz zuzurechnen.

Der dritte Abschnitt der Arbeit bietet einen knappen Überblick ĂŒber das russische Emigrantenschulwesen im gesamteuropĂ€ischen Exil nach 1918. Immerhin entstanden zwischen 1919 und 1925 in Europa insgesamt etwa 22 russische KindergĂ€rten, etwa 90 Schulen, mindestens fĂŒnf berufsbildende Einrichtungen und – nach SchĂ€tzungen – etwa 15 bis 17 Hochschulen und Forschungseinrichtungen, begleitet von Zeitschriften, LehrerverbĂ€nden und Kommissionen verschiedenster Art. Anfangs auf eine RĂŒckkehr hoffend, sollten die Heranwachsenden vor „Denationalisierung“ geschĂŒtzt, vor BildungsrĂŒckstĂ€nden bewahrt und in der Muttersprache unterrichtet werden können. Ansonsten deklarierten sich die entstehenden Bildungseinrichtungen als politisch neutral, was nicht zuletzt eine Voraussetzung fĂŒr die GrĂŒndung im Exilland war. Neben der Unterrichtung der SchĂŒler hatten die Schulen zugleich sozialpĂ€dagogische Aufgaben zu erfĂŒllen. Vielfach waren sie fĂŒr die Kinder Heimat- und Familienersatz und fĂŒr die Emigranten Zentren zur Pflege der russischen Kultur im Ausland. Die entscheidende Grundlage fĂŒr die Konzipierung, Einforderung und Gestaltung des entsprechenden Schulwesens war das erhebliche intellektuelle Potential, das die Zusammensetzung der russischen Emigrantengemeinschaft bot. Mitte der 1920er Jahre konnte davon ausgegangen werden, dass etwa die HĂ€lfte aller russischen Emigrantenkinder des entsprechenden Alters eine russische Schule besuchte. Als die angestrebten allgemeinen Merkmale dieser „russischen Schulen“ – sĂ€mtlich Privatschulen – gibt Mchitarjan an (55): kostenlose, allgemein zugĂ€ngliche Elementarbildung, eine achtjĂ€hrige höhere Schule, koedukatives Lernen, Arbeitserziehung und Arbeitsunterricht, praxisorientierte Unterrichtsmethoden, Förderung der SelbstĂ€ndigkeit der SchĂŒler, Unterricht in zwei modernen Fremdsprachen in den höheren Schulen, Ausbau der SchĂŒlerselbstverwaltung und eine gewisse AnschlussfĂ€higkeit an das Schulsystem des Aufnahmelandes. Als Orientierung galten dabei die Reformbestrebungen, die im vorrevolutionĂ€ren Russland entwickelt worden waren, begrĂŒĂŸt wurden zudem auch die PlĂ€ne der ersten Phase der sowjetischen Bildungsreform (1917 – 1921). Dieses scheinbar ideale Konzept traf auf enge finanzielle und materielle Begrenzungen sowie auf die jeweiligen Bedingungen, die das Exilland den russischen Emigranten bot. Die Bedingungen bewegten sich (nach Tabelle 14; 240) zwischen UnterstĂŒtzung und (Teil)Autonomie (Tschechoslowakei), Duldung (Deutschland) und Assimilationszwang (Polen).

Die eigentlichen grundierenden Erkenntnisse der Darstellung liegen also in dem jeweils ca. 50 Seiten umfassenden Einblick in das russische Emigrantenschulwesen der drei von Mchitarjan ausgewĂ€hlten LĂ€nder: Deutschland, Tschechoslowakei und Polen (4. bis 6. Abschnitt der Darstellung). Diese zunĂ€chst irritierende Auswahl begrĂŒndet Mchitarjan pragmatisch mit nahen ZugĂ€ngen und notwendigen Sprachkenntnissen, jedoch auch mit einer Typik der fĂŒr die russische Emigration infrage kommenden ExillĂ€nder, nĂ€mlich (46): die Tschechoslowakei als „slawisches“ Land, Polen als ein so genannter „Limotroph“-Staat (d. h. in diesen Staaten gab es auf Grund ihrer Vorgeschichte bereits eine alteingesessene russische Minderheit) und Deutschland als ein zentraleuropĂ€isches Aufnahmeland. Die drei diesen LĂ€ndern gewidmeten Abschnitte zeichnen jeweils den gesellschaftlich-historischen Hintergrund nach, der den pĂ€dagogischen AktivitĂ€ten der Emigranten zugrunde lag. Die jeweilige Herausbildung und Entwicklung des „russischen Schulwesens“ wird in qualitativen Entwicklungsschritten und in der entsprechenden zeitlichen Gliederung beschrieben. So ergeben sich in Deutschland spezifische Entwicklungsphasen des „russischen Schulwesens“ zwischen 1918 und 1923, zwischen 1923 und 1929 (als Abbau des russischen Emigrantenschulwesens und erste Hilfe durch die deutsche Regierung), zwischen 1929 und 1933 (die russische Schule im Dienste des deutschen Staates) sowie nach 1933.

Der ca. 20 Seiten umfassende siebente Abschnitt der Darstellung ist der Zusammenfassung sowie der Verallgemeinerung der Ergebnisse gewidmet. Im RĂŒckgriff auf die Zielsetzung der Untersuchung wird in einem ersten Teil der bildungspolitische Umgang mit den russischen Emigranten in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen vergleichend betrachtet. Der zweite Teil ist mit „‚Schulpolitik fĂŒr andere Ethnien‘ – zur Verallgemeinerung der Ergebnisse“ ĂŒberschrieben.

In seiner Gesamtheit verdeutlicht der siebente Abschnitt jedoch auch noch einmal die Dilemmata der Darstellung. In der Beantwortung von insgesamt fĂŒnf „Forschungsfragen“ (230–239), die sich auf den Vergleich der drei untersuchten LĂ€nder und des jeweils entstandenen russischen Emigrantenschulwesens beziehen, werden vorrangig die rechtlichen Bedingungen und die organisatorischen Initiativen benannt und verglichen. Bei der Antwort auf die „Forschungsfrage“ „Welche Erziehungs- und Bildungsziele hatten die russischen Emigranten im Exil und zu welchem Grad gelang ihnen die Umsetzung dieser Ziele in den verschiedenen AufnahmelĂ€ndern Europas?“ (230) werden die durchaus und höchst differenzierten Vorstellungen sowohl der Emigranten als auch die des Exillandes auf die Tatsache reduziert, dass es gelang, Emigrantenschulen einzurichten. In diesem Sinne ist das im Titel des Buches zitierte und durch AnfĂŒhrungszeichen exponierte „russische Schulwesen“ nicht wirklich definiert. In den Vordergrund ist der bildungspolitische Umgang des jeweiligen Exillandes mit russischen SchulgrĂŒndungen gerĂŒckt. Im zweiten Teil des 7. Abschnitts wird mit „Schulpolitik fĂŒr andere Ethnien“ (241ff.) eine weitere Diskussionsebene geöffnet, die auf Grund weniger BezĂŒge zum historischen Teil der Darstellung und einer reduzierten Literaturauseinandersetzung kaum zu den Erkenntnissen der Arbeit gerechnet werden kann.

In den Text integriert sind 14 Tabellen und acht tabellarische Darstellungen, die vorwiegend statistische Angaben enthalten und den Text ergĂ€nzen und bereichern. Allein die Zusammenstellung der entsprechenden Angaben bestĂ€tigt die Weite und FĂŒlle des Materials, das Mchitarjan in Berliner, Prager, Warschauer, St. Petersburger und Moskauer Archiven und Bibliotheken zusammengetragen hat. Das beeindruckende 20-seitige Quellen- und Literaturverzeichnis verdeutlicht, dass insbesondere auch russischsprachige Quellentexte fĂŒr den deutschen Leser erschlossen worden sind.

Die Arbeit prĂ€sentiert grundlegende Materialien fĂŒr historische Bereiche, die bisher weitgehend unbeachtet geblieben sind. Dass viele Fragen offen bleiben oder nur partiell beantwortet werden, mag der FĂŒlle des zu bearbeitenden Materials, aber auch der nicht konsequenten Themenstellung geschuldet sein.
Christine Lost (Löbau / Berlin)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christine Lost: Rezension von: Mchitarjan, Irina: Das "russische Schulwesen" im europĂ€ischen Exil, Zum bildungspolitischen Umgang mit den pĂ€dagogischenInitiativen der russischen Emigranten in Deutschland, der Tschechoslowakei und Polen (1918 - 1939). Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 7 (2008), Nr. 3 (Veröffentlicht am 03.06.2008), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151473.html