Wie ist es zu erklären, dass kleine und mittlere Unternehmen (KMU) deutlich seltener als Großunternehmen innerbetriebliche Weiterbildung durchführen und dennoch wirtschaftlich erfolgreich sind? Gibt es andere Formen, in denen das notwendige Wissen in Unternehmen erworben wird und in welcher Relation stehen sie zu organisierter Weiterbildung? Diese Fragen bilden den Ausgangspunkt der Studie von Olaf Dörner zum Umgang mit Wissen in betrieblicher Praxis, in der anhand von Fallanalysen aus KMU Formen und Bedingungen der Wissensgenerierung rekonstruiert werden.
Zunächst arbeitet Dörner seine Fragestellung heraus, indem er mehr kursorisch als systematisch Positionen zum Bedeutungszuwachs der beruflichen und betrieblichen Weiterbildung referiert und auf die Kontroversen über die pädagogischen und ökonomischen Gestaltungsfaktoren der betrieblichen Weiterbildung verweist. Zu Recht kritisiert er die unzureichende empirische Fundierung und begrifflichen Unschärfen in der Diskussion über betriebliche Weiterbildung, die Aussagen über das tatsächliche Ausmaß und die Qualität von Weiterbildungsaktivitäten in Unternehmen erschweren. Dies gilt besonders für die Weiterbildung in KMU, was besonders unbefriedigend ist, denn KMU gelten nicht nur als Rückgrat der Wirtschaft, in Unternehmen dieser Größenklassen arbeiten auch die meisten Beschäftigten.
Die konstatierte defizitäre Weiterbildungspraxis in KMU wird von Dörner aus mehreren Gründen hinterfragt: Zunächst sei zu klären, inwiefern überhaupt von einem klar umrissenen Weiterbildungsbedarf ausgegangen werden kann, der zweitens nur in einer Wissen vermittelnden, organisierten Form gedeckt werden kann, was drittens fragwürdig sei, da es auch andere erfolgreiche Strategien geben könne, man also grundsätzlich nicht von einem gesellschaftlichen Weiterbildungsbedarf auf entsprechende betriebliche Aktivitäten schließen könne. Diese Einwände gegen eine vorschnelle Bewertung der Weiterbildungspraxis in Unternehmen sind Anlass für die Untersuchung von Olaf Dörner, die eben nicht die mehr oder weniger elaborierten Weiterbildungskonzepte zum Maßstab von Weiterbildungsaktivitäten erklärt, sondern danach fragt, wie und unter welchen Bedingungen Wissen generiert wird.
Der Analyse von Wissensgenerierung in der betrieblichen Praxis stellt Dörner in Kapitel 2 sein Konzept vom Umgang mit Wissen voran, wobei es ihm weniger auf eine Definition von „Wissen“ als vielmehr auf die Erläuterung der zugrunde liegenden Annahmen der Kontextgebundenheit, der Relevanz und der Prozesshaftigkeit ankommt. Stark verdichtet skizziert der Autor den für seine Untersuchung gewählten Kontext „Betrieb“, in dem betriebliches Handeln Relevanzsetzungen verdeutlicht, was wiederum durch Wissen erst ermöglicht wird. Mit Verweis auf Schütz, Berger/Luckmann und Bourdieu beschreibt Dörner den „Betrieb“ dabei als soziale Wirklichkeit, die von den Handelnden konstituiert und zugleich als Tatsache, als objektiver Handlungsrahmen erfahren wird. Betriebliches Handeln kann demnach als Ausdruck der Sinnzuschreibung und Interpretation des Handlungsrahmens verstanden werden. Für die konkrete Frage der Generierung betrieblich relevanten Wissens gilt es hier zum Beispiel zu klären, dass „betrieblich“ nicht notwendigerweise den Ort „Betrieb“ meint – betrieblich relevantes Wissen kann insofern auch „am Stammtisch“ erworben werden (58 ff.). „Wissen“ leitet diese Handlungen, indem es Erfahrungen bereitstellt und den Umgang mit neuen Situationen strukturiert. Zugleich wird Wissen durch Handlungen aber auch modifiziert, indem neue Erfahrungen integriert werden.
Den skizzierten Analyserahmen legt Dörner auf seine qualitativ-empirische Untersuchung an, die in Kapitel 3 methodisch erläutert wird. Hier begründet der Autor seine Vorgehensweise in Anlehnung an die Grounded Theory mit dem Interesse an Theoriegenerierung und erläutert methodisch und praktisch sein Vorgehen bei der Datenerhebung und Auswertung. Basis der empirischen Ergebnisse sind demnach insgesamt 22 Experteninterviews (mit Vertreter/innen der Geschäftsleitungen und des mittleren Managements), die in sieben KMU in Sachsen-Anhalt und in der Region Bern durchgeführt wurden, wobei in fünf der sieben Unternehmen Fallstudien erstellt wurden.
Die Ergebnispräsentation erfolgt in den Kapiteln 4 und 5 und umfasst etwa zwei Drittel der gesamten Veröffentlichung. In Kapitel 4 werden die sieben Fallunternehmen mit ihren Weiterbildungsaktivitäten, Begründungen für bzw. gegen Weiterbildung, alternativen Lernformen und betrieblichen Entwicklungserfordernissen vorgestellt. Die fünf Fallstudien sind in drei Unternehmen aus Sachsen-Anhalt und zwei Unternehmen aus der Region Bern entstanden, wobei ein Unternehmen des verarbeitenden Gewerbes und aus beiden Regionen je ein traditionelles (Finanzdienstleistung) und ein modernes Dienstleistungsunternehmen (Software bzw. Werbegestaltung) vertreten sind. Ergänzt werden die fallbezogenen Darstellungen mit ausführlichen Zitaten aus den Interviews und vereinzelt Hintergrundinformationen zur Branche oder Region. Die fallbezogene Darstellung mündet in einem ersten Systematisierungsschritt der betrieblichen Praxis und der Verortung von Wissensarbeit als eine zentrale Form des Wissenserwerbs (vgl. 163ff.).
Quer zu den Fallstudien werden dann in Kapitel 5 diese verschiedenen Formen des Wissenserwerbs genauer beschrieben, wobei zunächst das Verständnis der Interviewpartner von Weiterbildung rekonstruiert wird, bevor die praktizierten Formen der Wissensgenerierung im Einzelnen dargestellt werden. Detailreich und anhand vieler Zitate beschreibt Dörner hier, über welche Vorgänge, in welchen Feldern und unter welchen betrieblichen Rahmenbedingungen Wissen in den Fallunternehmen erworben und weitergegeben wird und welche ambivalente Rolle Expertenschaft für die betrieblichen Abläufe spielt. Auch hier geht es wieder vorrangig um die Rekonstruktion der betrieblichen Praxis, Problematisierungen oder Hinweise auf Interventionsmöglichkeiten darf man hier nicht erwarten. Dies gilt auch für das vergleichsweise knappe Schlusskapitel. Hier werden neben einer kurzen Zusammenfassung der Ergebnisse lediglich noch einige Anmerkungen zu branchenbezogenen und regionalen Unterschieden zwischen den Unternehmen gemacht. Auch diese Anmerkungen fallen sehr knapp aus, was angesichts der im Titel des Buches avisierten regionalen Bezüge (Sachsen-Anhalt und Bern) etwas enttäuschend ist. Die regionalen Kontexte spielen offenbar für die Wissensgenerierung in der betrieblichen Praxis keine Rolle, zumindest, so erklärt es sich der Autor, nicht auf der hier präsentierten Analyseebene.
Um das Buch mit Gewinn zu lesen ist es deshalb sinnvoll, sich auf diese Analyseebene einzulassen. Es geht dem Autor um Wissensarbeit und die Perspektive der Wissensarbeiter/innen. Die ausführlichen Beschreibungen der Generierung und Weitergabe von Wissen, die präzise Analyse der Überlappungen zwischen betrieblicher und nicht-betrieblicher Sozialwelt, die für die Generierung von Wissen so eine große Bedeutung haben, sind ein wahrer Fundus für die empirische Deskription von Wissensarbeit. Ohne dies weiter zu thematisieren bezieht sich Dörner damit auf ein relevantes und expandierendes Tätigkeitsfeld, immerhin üben der BiBB-/BAuA-Erwerbstätigen-Befragung von 2006 zufolge mittlerweile knapp die Hälfte aller Erwerbstätigen in Deutschland Wissensarbeit aus. Insofern ist die Frage, welche Rolle Weiterbildung in diesen Tätigkeiten spielt und ob es überhaupt noch sinnvoll ist, in dieser Art von Tätigkeit den Wissenserwerb als pädagogische Angelegenheit aufzufassen, äußerst relevant und weit über die Erziehungswissenschaft hinaus von Interesse. Das Buch von Olaf Dörner eröffnet mit seinen theoretischen Überlegungen und den ausführlichen empirischen Darstellungen einen guten Zugang zu diesem Feld.
Dafür weist es allerdings an anderen Stellen einige Limitierungen auf. Es liefert zum Beispiel keine systematische Darstellung der betrieblichen Weiterbildung in KMU. Als Einstiegslektüre zu diesem Thema ist es also nicht zu empfehlen. Auch wird der Blick auf die betriebliche Praxis stark auf jene Bereiche konzentriert, in denen neues Wissen entsteht und zur Anwendung kommt. Wie in anderen Tätigkeitsfeldern mit Wissen umgegangen wird, welche Lernmöglichkeiten Beschäftigte haben, die keine „Wissensarbeit“ ausüben, bleibt deshalb unklar. Insofern lässt sich nach der Lektüre des Buches erahnen, dass durch das Konzept des „Umgangs mit Wissen“ eine neue und empirisch wie theoretisch sehr anregende Perspektive auf Lernen im Betrieb geworfen werden kann. Olaf Dörner hat dies am Beispiel KMU deutlich gemacht.
EWR 6 (2007), Nr. 3 (Mai/Juni 2007)
Umgang mit Wissen in betrieblicher Praxis
Dargestellt am Beispiel kleiner und mittelständischer Unternehmen aus Sachsen-Anhalt und der Region Bern
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(284 S.; ISBN 978-3-7815-1462-1; 21,00 EUR)
Carola Iller (Chemnitz)
Zur Zitierweise der Rezension:
Carola Iller: Rezension von: Dörner, Olaf: Umgang mit Wissen in betrieblicher Praxis, Dargestellt am Beispiel kleiner und mittelständischer Unternehmen aus Sachsen-Anhalt und der Region Bern. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151462.html
Carola Iller: Rezension von: Dörner, Olaf: Umgang mit Wissen in betrieblicher Praxis, Dargestellt am Beispiel kleiner und mittelständischer Unternehmen aus Sachsen-Anhalt und der Region Bern. Bad Heilbrunn: Julius Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 3 (Veröffentlicht am 12.06.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151462.html