„Die Beiträge in diesem Band“, so die deutschen Herausgeber in ihrer Einleitung, „zeigen erste Schritte auf dem Weg zu einer vergleichenden Geschichte von Erziehungskonzepten und Erziehungspraxen im Kontext der jeweiligen politischen Geschichte im Zeitalter des Faschismus auf“ (11 und Rückumschlag). Genau genommen ist es allenfalls der Band insgesamt, der vielleicht einen ersten Schritt zu der versprochenen vergleichenden Geschichte bietet. Denn in den Beiträgen selbst, die auf Tagungen in Hiroshima, Berlin und Münster zurückgehen, sprechen japanische Autorinnen und Autoren über Japan und deutsche Autorinnen und Autoren über Deutschland. Während in einem großen Teil der japanischen Beiträge noch Kenntnisse der deutschen Auseinandersetzung mit der Pädagogik im Faschismus zu spüren sind – bisweilen finden sich kleine explizite Vergleiche bescheiden in den Fußnoten versteckt – ist das umgekehrt nicht der Fall. Die fehlenden Sprachkenntnisse können dafür nur bedingt verantwortlich gemacht werden; über den japanischen Militarismus in vergleichender Perspektive hätte man sich auch in hierzulande gängigen Sprachen (sogar auf Deutsch) informieren können. Zumindest für die Einleitung und die Profilierung der vergleichenden Fragestellung wäre das hilfreich gewesen. So bleibt es bei einer äußerst knappen Skizze des historischen Hintergrundes, einigen vagen Hinweisen auf die vergleichende Diskussion der Vorträge und einer groben schematischen Übersicht, die auch nach Lektüre der Beiträge kaum inhaltlich ausgefüllt ist.
Nur in einem der deutschen Beiträge kommen Japan und deutschsprachige Literatur zu Japan vor – dem von Klaus Himmelstein über Eduard Sprangers Japan-Aufenthalte 1936 und 1937. In seiner akribischen Auswertung deutscher Quellen kann Himmelstein keine Hinweise auf „innere Emigration“ oder gar ein „Exil“ Sprangers finden. Vielmehr zeigt er, „dass Sprangers Japanaufenthalt einen bedeutenden Teil seiner kulturpolitischen Kooperation mit dem Nazismus darstellt, ohne dass hierbei in seinem Auftreten oder in seinen Vorträgen irgendwie Ironie oder Taktik erkennbar würden, die sich etwa als Widerstandsansatz deuten ließen“ (111). Der ergänzende japanische Aufsatz dazu von Masaki Sakakoshi urteilt nicht ganz so streng, kommt aber zu keinem wesentlich anderen Ergebnis.
Auch bei der Anordnung der anderen Beiträge wird versucht, wenigstens durch die Gliederung vergleichende Perspektiven zu eröffnen. So stehen den Ausführungen zu Spranger ein Aufsatz zu Herman Nohls Verhältnis zum Nationalsozialismus (Hasko Zimmer) und zwei Beiträge zur Entwicklung von teils ehemals liberalen Pädagogen im militaristischen Japan zur Seite (wiederum Sakakoshi und Yoichi Kiuchi).
Den Anfang des Bandes bilden zwei kurze Darstellungen von Herrschaft und Ideologie im japanischen Kaiserreich während der beinahe 15-jährigen Kriegszeit (von der Mandschurei-Krise bis Hiroshima), wobei die erste (Yukio Mochida) das Verständnis durch Querverweise auf Deutschland erleichtert und die zweite auch knapp auf das damals in die Diskussion gebrachte pädagogische Konzept des „rensei“ („Formung“) eingeht (Michio Ogasawara). Wie anspruchsvoll ein expliziter Vergleich wäre, lässt sich anhand der beiden folgenden Beiträge erahnen, die sich jeweils mit dem Verhältnis des Rassedenkens zur Pädagogik befassen. Für Deutschland versucht Heinz-Elmar Tenorth, die Bedeutung des Rassismus für das pädagogische Denken im Nationalsozialismus systemtheoretisch zu verstehen: als „Grenzbegriff“, der die System-Umwelt-Beziehungen des Erziehungssystems reguliert. Für „die reflexive und die operative Dimension der NS-Pädagogik“ (35) sei er dagegen nicht konstitutiv. Nobuo Fujikawa befasst sich dagegen mit japanischen Versuchen zur Begabtenförderung im Dienste waffentechnischer Innovationen. Die Verbindung zum eugenisch-rassehygienischen Diskurs ergibt sich daraus, dass die entsprechenden Kinder nach ihren erblichen Anlagen ausgewählt werden sollten. Zum besseren Verständnis muss hier ergänzt werden, dass das Begabungskonzept in der japanischen Pädagogik und Bildungspolitik – ganz anders als in Deutschland – praktisch keine Rolle spielte und spielt. Nur deshalb kann es überhaupt in diesem Kontext auftauchen.
Implizit wirft auch der dritte Themenkomplex über „Erziehungsverhältnisse“ interessante Fragen auf. Anhand von Propagandafilmen untersuchen Jun Yamana und Klaus-Peter Horn die jeweilige Darstellung der Schulerziehung im Krieg: Heroisierung von Schule und Lernen zur „Ermutigung der Nation und zur Weckung ihrer Kampfeslust“ (131) auf der japanischen, ein Werbefilm für die nationalpolitischen Erziehungsanstalten, bei dem der Unterricht nur ganz verschämt am Rande vorkommt, auf der deutschen Seite. Drei Beiträge befassen sich mit Veränderungen in der schulischen Mädchenerziehung (Toshiko Ito und Mariko Kobayashi/Shizuka Maruhashi für Japan; Heidemarie Kemnitz für Deutschland), Ryûkichi Ogushi rekonstruiert zwei Delegationsreisen japanischer Jugendvertreter nach Deutschland sowie die Gegenbesuche von Abordnungen der Hitler-Jugend in Japan und Gisela Miller-Kipp präsentiert eine exzellente Zusammenfassung ihrer Forschungen zur Hitler-Jugend.
Wiederholt taucht dabei der Hinweis auf die Attraktivität der pädagogischen Angebote auf. Am deutlichsten formuliert Yamana den damit verbundenen Widerspruchszusammenhang, der eine ausführlichere Diskussion verdiente: Unerwartet habe die Kriegserziehung in Japan „die Nachteile der modernen Erziehung durch ihren erlebnispädagogischen Charakter zum Teil überwunden. (...) Das Erziehungssystem zur Kriegszeit, das die Menschen in eine große Tragödie geführt hat, lässt sich zugleich auch als System der Erweckung ihrer Lebensfreude betrachten, durch die die in der Kriegsphase entstandene große Trauer vernebelt werden konnte“ (137).
Den Abschluss bilden drei Aufsätze zu „Vergangenheitspolitik und Erinnerungsarbeit“. Yoichi Kiuchi behandelt an einem Beispiel die auch auf Deutsch mehrfach ausführlich thematisierte Auseinandersetzung um die Zulassung von Schulbüchern, Klaus Prange erinnert sich altersweise an den Umgang seiner akademischen Lehrer Blättner, Bollnow und Wilhelm mit ihrer Vergangenheit im NS-Staat und Zimmer bietet in seinem zweiten Beitrag doch noch einen Vergleich, nämlich zwischen dem „Umgang mit der NS-Vergangenheit in der Bundesrepublik und in der DDR“, wobei allerdings ein spezifischer Bezug zu pädagogischen Fragestellungen nicht erkennbar ist.
So interessant und anregend verschiedene Überlegungen in dem Band auch sein mögen, bleiben die deutschen Beiträge doch fest im Kontext der hiesigen pädagogischen Historiographie verankert. Dass sich der Kontext in vergleichender Perspektive verändern könnte, wird nicht in Betracht gezogen. Dagegen erscheinen die meisten japanischen Beiträge, sofern sie sich nicht gleich am deutschen Kontext zu orientieren suchen, eigentümlich losgelöst, da sie Diskursen entstammen, die für deutsche Rezipienten ohne weitere Hilfen nicht rekonstruierbar sind.
Dass der Band sich eines in Deutschland bislang wenig bearbeiteten Themas annimmt, kann ihm zweifellos als Verdienst angerechnet werden, auch wenn er dabei mehr Fragen aufwirft als er beantwortet. Dass er die Leserinnen oder den Leser sowohl bei der Einordnung der eher zufällig zustande gekommenen Beiträge als auch bei der Bewältigung der methodischen Probleme des angestrebten Vergleichs allein lässt, begrenzt seinen Wert jedoch auf den eines Steinbruchs für Spezialisten. Für die angekündigte „Ausweitung auf andere Länder wie Italien oder Spanien“ (11 und Rückumschlag) wäre zu hoffen, dass der Vergleich nicht nur im Blick auf die einbezogenen Staaten, sondern auch inhaltlich und methodisch einen etwas weiteren Horizont gewinnt.
EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)
Pädagogik im Militarismus und im Nationalsozialismus
Japan und Deutschland im Vergleich
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(266 S.; ISBN 978-3-7815-1455-2; 32,00 EUR)
Volker Schubert (Hildesheim)
Zur Zitierweise der Rezension:
Volker Schubert: Rezension von: Horn, Klaus-Peter / Ogasawara, Michio / Sakakoshi, Masaki / Tenorth, Heinz-Elmar / Yamana, Jun / Zimmer, Hasko (Hg.): Pädagogik im Militarismus und im Nationalsozialismus, Japan und Deutschland im Vergleich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151455.html
Volker Schubert: Rezension von: Horn, Klaus-Peter / Ogasawara, Michio / Sakakoshi, Masaki / Tenorth, Heinz-Elmar / Yamana, Jun / Zimmer, Hasko (Hg.): Pädagogik im Militarismus und im Nationalsozialismus, Japan und Deutschland im Vergleich. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151455.html