Frauen werden schwanger und geraten unversehens in die Maschinerie der medizinischen Schwangerenbetreuung. Es beginnt meist mit der – nicht selten nachdrücklichen – Empfehlung der behandelnden GynäkologInnen, Nackenfaltenmessung bzw. Erst-Trimester-Test in Anspruch zu nehmen. Diese vorgeburtlichen Untersuchungsverfahren zählen inzwischen zum Standardprogramm der medizinischen Schwangerenvorsorge. Ergeben diese Verfahren, die bloß Hinweise auf mögliche Abweichungen vom biologisch ‚Normalen’ liefern können, Verdachtsmomente, so lassen sich diese ausschließlich über invasive Verfahren wie die Fruchtwasserpunktion diagnostisch abklären. Im Falle eines positiven Befundes müssen sich schwangere Frauen dann sehr schnell und nicht selten unvorbereitet für die Fortsetzung oder den Abbruch der Schwangerschaft, d.h. für oder gegen ihr Kind entscheiden. Diese Entscheidungsnotwendigkeit hängt mit dem Umstand zusammen, dass einer sehr differenzierten, hoch entwickelten Diagnostik in den meisten Fällen keine therapeutischen Möglichkeiten gegenüber stehen.
Die Rede ist von pränataler Diagnostik, die das Ziel verfolgt, Fehlbildungen, Krankheiten oder Behinderungen nachzuweisen oder auszuschließen. Bei den routinemäßig durchgeführten vorgeburtlichen Untersuchungsverfahren in der Frühschwangerschaft (Nackenfaltenmessung, Erst-Trimester-Test) geht es vor allem darum, möglichst lückenlos – also bei allen schwangeren Frauen gleich ihres Alters und ihrer medizinischen Vorgeschichte – Kinder mit Down-Syndrom zu ‚entdecken’.
Werden Frauen mit der Diagnose Down-Syndrom konfrontiert, stehen sie also vor der Entscheidung, die Schwangerschaft fortzusetzen oder abbrechen zu lassen. So normal es geworden ist, PND in Anspruch zu nehmen, so normal scheint es zu sein, sich für den Abbruch zu entscheiden. Und so wenig man im Grunde über die Verläufe von Entscheidungsprozessen in diesem Kontext weiß: Noch eklatanter ist das fehlende Wissen um Prozessverläufe bei Entscheidungen für die Fortsetzung der Schwangerschaft nach der Diagnose Down-Syndrom.
In diese Forschungslücke platziert die Erziehungswissenschaftlerin Marion Baldus ihre qualitativ-empirische Studie, mit der sie an der J. W. Goethe-Universität Frankfurt am Main promovierte. Vor dem Hintergrund der Frage, wie es Frauen möglich ist, konträr zur ‚Normalität’ Schwangerschaftsabbruch nach der Diagnose Down-Syndrom zu entscheiden, analysiert Baldus Verläufe und Kristallisationsmomente der Entscheidungsprozesse. Sehr deutlich wird herausgearbeitet, dass es sich dabei um einen äußerst komplexen Abwägungsprozess handelt, „der innerhalb eines gesellschaftlich präformierten Klimas stattfindet, das den selektiven Abbruch nach der Diagnose Down-Syndrom als normalen und folgerichtigen Schritt der Verfahrenlogik pränataler Diagnostik ansieht“ (165).
Dem Aufzeigen der Einbettung von individuellen Bewältigungsformen und Handlungsoptionen in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge dient das 1. Kapitel, das auch EinsteigerInnen in die Thematik einen guten Einblick in das Aufeinanderbezogensein von „Angebot und Nachfrage, kollektiven Prozessen und persönlichen Entscheidungssituationen sowie realen und konstruierten Ängsten vor biographischen Risiken in der Übergangsphase zur Elternschaft“ (19) ermöglicht. Wenngleich dieses Kapitel auf Grund zahlreicher Fußnoten auf beinahe jeder Seite, die zuweilen bis zu einem Drittel des Textes einnehmen, nicht wirklich flüssig zu lesen ist, gelingt es Baldus, einen Orientierungsrahmen zu geben, der es ermöglicht, die Komplexität der Thematik zu erfassen.
Die beiden nächsten Kapitel beinhalten die Rezeption des Forschungsstandes, die Herleitung der Fragestellung, den Forschungsansatz (Kap. 2) sowie die Begründung und Darstellung des methodischen Vorgehens bei der Datengewinnung und -auswertung (Kap. 3). Als methodisches Instrumentarium der Datengewinnung wählte Baldus das narrative Interview nach F. Schütze, ging es ihr doch um die konsequente Erschließung der Subjektperspektive. Zehn Frauen wurden nach der Geburt ihres Kindes mit Down-Syndrom gebeten, zu erzählen – zu erzählen, wie das damals bei ihnen war; wie es war, als sie die Diagnose Down-Syndrom erhielten, wie sie zu ihrer Entscheidung für das Kind kamen, was sie damals gefühlt und gedacht haben und was ihre Entscheidung geprägt hat (Erzählstimulus; 75).
Im Hinblick auf die Datenauswertung entschied sich Baldus für ein Vorgehen in zwei Schritten. In einem ersten Schritt wurden zwei Fallbeispiele nach dem Kriterium des maximalen Kontrasts ausgewählt, das Textmaterial nach der Textanalyse von F. Schütze ausgewertet (Kap. 4 und 5) und einander gegenübergestellt, wodurch zwei maximal unterschiedliche Typiken der Dynamik und des Verlaufs von Entscheidungsprozessen herausgearbeitet werden konnten. Die Intention dieses kontrastiven Fallvergleichs (Kap. 6) bestand darin, „die Variation und Divergenz der Ereignisverknüpfungen und Prozessverläufe im Kontext von Entscheidungen exemplarisch sichtbar zu machen“ (153).
Die beiden Fallrekonstruktionen sind gleichermaßen berührend wie aufschlussreich. Dabei geht es Baldus nicht nur um das Aufzeigen der vielschichtigen Problemlagen der Frauen auf individueller Ebene, sondern auch um die Auswirkungen des positiven Befundes „Down-Syndrom“ auf das familiäre und soziale Umfeld sowie deren Rückwirkungen auf die Betroffenen. Eine mögliche Entscheidung für das Kind liegt quer zur gesellschaftlichen Erwartungshaltung, die Schwangerschaft angesichts der Diagnose Down-Syndrom abbrechen zu lassen. Der Selektionskonsens dominiert mitnichten einzig das medizinische System, sondern ist gleichermaßen im Familiensystem und näheren sozialen Umfeld wirksam. Daraus ergeben sich „Passungsprobleme“, die die Entscheidung noch unmöglicher erscheinen lässt. In Bezug auf die Frage, was Frauen nun befähigt, diesen Handlungsimperativ zu transformieren, wird bereits am Beispiel der beiden kontrastiven Fallgeschichten die Bedeutung des lebensgeschichtlichen Kontextes, in den jede Entscheidung eingebettet ist, deutlich: Beide Frauen konnten auf bereits gemachte „Erfahrungen, Begegnungen oder Überzeugungen im Kontext der Thematik Behinderung“ (161) zurückgreifen; bei beiden Frauen handelte es sich um eine ausgesprochen erwünschte Schwangerschaft ohne Vorbehalt und – damit zusammenhängend – eine bedingungslose emotionale Bindung zu ihrem Kind (reproduktive Biographie).
Während nun im ersten Schritt der Datenauswertung Dynamik und Verlauf des Entscheidungsfindungsprozesses am jeweiligen Einzelfall herausgearbeitet werden, geht es im zweiten Schritt um eine fallübergreifende themenzentrierte Datenanalyse (Kap. 7). Bei dieser Datenauswertung der restlichen acht Interviews bezog sich Baldus auf den Ansatz der Grounded Theory.
Auch die Verlaufsanalyse der restlichen Entscheidungsprozesse macht mehr als deutlich, dass eine individuelle Entscheidung über Fortsetzung oder Abbruch der Schwangerschaft nicht in einem gesellschaftsfreien Raum getroffen wird und in eine hoch komplexe Vorgeschichte eingebettet ist. Exemplarisch zu nennen wären: die gesellschaftliche Praxis von PND und Selektion, Sozialisationsfaktoren in Familie und Beruf, der persönliche Zugang zur PND, Einstellungen gegenüber Menschen mit Behinderung, individuelle Lebensentwürfe und die Bedeutung der bestehenden Schwangerschaft, (gegenwärtige) familiäre, soziale und gesellschaftliche Kontextbedingungen und nicht zuletzt zur Verfügung stehende Ressourcen (305).
Als zentrales Schlüsselkriterium arbeitet Baldus die „Entscheidung vor der Entscheidung“ heraus: Auf dem Fundament einer kritisch-distanzierten Haltung zur PND, die nicht auf religiöse Motive allein zu reduzieren ist, sondern sich in einem „Eintreten gegen die Instrumentalisierung und Entpersonalisierung des Ungeborenen“ (253) als kleinsten gemeinsamen Nenner äußert; vor dem Hintergrund von De-Normalisierungserfahrungen, womit Erfahrungsprozesse im Umgang mit Abweichungen von Normalitätsmustern (166) gemeint sind; und einer bedingungslosen emotionalen Bindung an das ungeborene Kind, war den befragten Frauen ein Orientierungsrahmen gegeben, der sie befähigte, die ihnen zur Verfügung stehenden personalen Ressourcen zu mobilisieren. Bemerkenswert ist, dass sozialen Ressourcen (Unterstützung durch den Partner oder die Herkunftsfamilie) eine wohl wichtige, jedenfalls aber nachrangige Bedeutung zukommt. So beschreibt etwa die Mehrzahl der befragten Frauen ihre Entscheidung als eine, “die sie primär im Einklang mit sich selbst und erst nachgeordnet im Einklang mit ihrem Partner getroffen haben“ (300). Auch wenn – wie bei einer interviewten Frau – die Entscheidung für das Kind die Trennung vom Partner und Kindesvater nach sich zog. Professionelle (nicht-medizinische) Beratung – als weitere soziale Ressource – wurde von den Frauen als nicht entscheidungs- wenngleich als bewältigungsrelevant (289) beschrieben. Eine bedeutende Rolle im Entscheidungsfindungsprozess kommt bemerkenswerterweise Selbsthilfegruppen zu, die von den befragten Frauen als Kompetenzzentren wahrgenommen und geschätzt wurden.
Im letzten Kapitel geht es Marion Baldus um Implikationen für Theorie und Praxis (Kap. 8). Vor dem Hintergrund der Ergebnisse ihrer Studie leitet sie Handlungsbedarf auf unterschiedlichen Ebenen ab: auf der Ebene der Politik und Kooperation, der Diagnoseeröffnung sowie der Beratungskonzeption. In Bezug auf den Handlungsbedarf der letzt genannten Ebene arbeitet sie Eckpunkte einer Beratungskonzeption nach positivem Befund heraus (Kap. 8.2.), ohne dabei den Blick darauf zu verlieren, „dass eine alleinige Konzentration auf die Entwicklung einer Beratungskonzeption nach pathologischem Befund zu kurz greifen würde“ (305). Baldus ist sich der Grenzen von Beratung (Kap. 8.3.) bewusst. Sich mit PND und ihren Implikationen nach der Befundmitteilung, d.h. in einem emotionalen Ausnahmezustand, auseinanderzusetzen, ist definitiv zu spät. „Eine ideale Voraussetzung für den persönlichen Umgang mit den Chancen und Grenzen der Pränataldiagnostik wäre ein gesellschaftlich tradiertes Wissen über ‚Behinderung’, das nicht auf Stereotypien und Mythen, sondern auf Erfahrung und Anerkennung unterschiedlicher Realitäten und Normalitäten basiert …“ (319). Hier ist die Politik – Stichwort: nicht-diskriminierende Gesellschaftspolitik – gleichermaßen wie die Sonder- und Heilpädagogik gefordert. So schließt denn auch das Buch mit dem Kapitel Implikationen für die Sonder- und Heilpädagogik (Kap. 8.4) sowie mit einem Plädoyer für eine inklusive Gesellschaft (Kap. 8.5.).
Das Buch liefert einen wichtigen Beitrag im wissenschaftlichen Diskurs, ist Sonder- und HeilpädagogInnen genauso zu empfehlen wie MedizinerInnen und BeraterInnen. Ihm ist eine breite LeserInnenschaft zu wünschen.
EWR 6 (2007), Nr. 2 (März/April 2007)
Von der Diagnose zur Entscheidung
Eine Analyse von Entscheidungsprozessen für das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom
Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006
(363 S.; ISBN 978-3-7815-1454-4; 29,80 EUR)
Andrea Strachota (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Andrea Strachota: Rezension von: Baldus, Marion: Von der Entscheidung zur Diagnose, Eine Analyse von Entscheidungsprozessen fĂĽr das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151454.html
Andrea Strachota: Rezension von: Baldus, Marion: Von der Entscheidung zur Diagnose, Eine Analyse von Entscheidungsprozessen fĂĽr das Austragen der Schwangerschaft nach der pränatalen Diagnose Down-Syndrom. Bad Heilbrunn: Klinkhardt 2006. In: EWR 6 (2007), Nr. 2 (Veröffentlicht am 28.03.2007), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978378151454.html