Bei der Darstellung aktueller Hochbegabungsmodelle setzt sich Ahlbrecht ausführlich mit den Forschern auseinander, deren Arbeiten in Deutschland am bekanntesten sind. Sie vergleicht die Position Detlef Rosts, der von einer einheitlichen Fähigkeit – im Sinne der allgemeinen Intelligenz „g“ – ausgeht mit den Mehrfaktorenmodellen von Joseph Renzulli, Franz Mönks, Kurt Heller und François Gagné. Sie stellt dar, in welchen Punkten die Positionen der Forscher übereinstimmen, worin sie sich unterscheiden – und auch wo sie unklar sind oder zu unterschiedlichen Zeiten leicht Unterschiedliches geschrieben haben. Deutlich wird, dass es trotz einiger Gemeinsamkeiten eine von allen Forschern akzeptierte Position nicht gibt. Das bedeutet, dass denjenigen, die Hochbegabtenförderung auf Grund eines theoretischen Konzepts anbieten möchten, nichts anderes übrig bleibt, als sich das für sie überzeugendste zu eigen zu machen. Das ist wichtig, weil das z.B. Einfluss auf die Methode der Identifikation und das weitere Vorgehen haben kann. Um so notwendiger ist es, dass das Kapitel durch eine deutliche, das eigene Projekt dimensionierende Positionierung der Verfasserin abgeschlossen wird.
Unter der Überschrift „Identifikation“ setzt sich Ahlbrecht ebenso gründlich mit den Anlässen für eine Identifikation, dem Vorgehen, der Ökonomie und den Auswahl- und Gütekriterien unterschiedlicher Verfahrensweisen auseinander. Sie weist auf Untersuchungsergebnisse hin, nach denen bei 70% der Kinder, die im Vor- und Grundschulalter als hochbegabt identifiziert wurden, die hervorragenden Fähigkeiten in späteren Tests noch zum Ausdruck kamen, bei 15% nicht mehr. Ob es sich dabei um einen Entwicklungsvorsprung gehandelt haben könnte oder ob andere Gründe (Krankheit, persönliche Schicksalsschläge) für das „Verschwinden“ von Hochbegabung verantwortlich sind, ist unklar. In einer Übersicht wird zusammenfassend dargestellt, welche der Methoden sich in welcher Identifikationsabsicht eignen und welche nicht. Die Verwendung von Schulnoten ist z.B. zur Identifikation von hochbegabten Hochleistern durchaus, von hochbegabten Underachievern nicht geeignet.
Anschließend befasst sich Ahlbrecht mit den Gründen für eine schulische Förderung Hochbegabter (Vermeidung schulischer Auffälligkeiten, Underachievement und psychosomatische Beschwerden, Erwerb von Lern- und Arbeitstechniken, nicht zu vergessen die Ausschöpfung von Ressourcen), den verschiedenen Möglichkeiten und dem Grad, in dem die Fördermaßnahmen in Deutschland flächendeckend realisiert bzw. realisierbar und ausreichend sind. Beschrieben werden Methodenrepertoires der inneren Differenzierung und der Öffnung des Unterrichts, die zwar nicht für Hochbegabte entwickelt wurden, ihnen aber durchaus zugute kommen. Es folgen hochbegabtenspezifische Fördermaßnahmen; Ahlbrecht nennt vier Dimensionen der Förderung:
- Enrichment oder Akzeleration;
- individuell oder als Gruppe;
- integrativ oder segregiert;
- im Rahmen des üblichen oder eines modifizierten Curriculums.
Gemeinsam mit Studierenden der Universität Braunschweig entwickelte Ahlbrecht im Rahmen ihrer Dissertation ein Förderangebot,
- das „intellektuell hochleistungsfähige Grundschulkinder mit einem angemessenen unterrichtlichen Angebot konfrontieren (soll), um Unterforderung entgegenzuwirken“ (103);
- das „zudem von Lehrkräften in ihrer regulären Unterrichtszeit genutzt werden (kann), ohne dass diese dadurch zusätzlich belastet werden, besondere Kenntnisse oder Voraussetzungen erforderlich sind“ (103).
Die von den Kindern bearbeiteten Themen stammten aus den Bereichen Biologie (7 Themen), Geographie (5 Themen), Geschichte (2 Themen) und Einzelthemen wie z.B. berühmte Persönlichkeiten (Astrid Lindgren) oder „Die sieben Weltwunder“. Die teilnehmenden Kinder wurden z.T. an der Informationsbeschaffung beteiligt, so dass sie den Schwierigkeitsgrad der Quellen mitbestimmen konnten. Die Einbeziehung in den Unterricht erfolgte durch eine Präsentation für die anderen Kinder.
Die Auswertung und die Evaluation ergab, dass die nach den beschriebenen Prinzipien durchgeführten Projekte geeignet sind, „die teilnehmenden überdurchschnittlich leistungsfähigen Grundschulkinder mit passenden unterrichtlichen Anforderungen zu konfrontieren. (…) Die Teilnahme an einem solchen Projekt wirkt sich zudem (tendenziell) in der intendierten Richtung auf das empfundene Anforderungsniveau des regulären Unterrichts aus: Kinder nehmen nach der Teilnahme an dem Förderangebot ein geringeres Ausmaß an schulischer Unterforderung wahr als zuvor“ (179). Die Schulzufriedenheit hatte nur bei einer kleinen Gruppe besonders unzufriedener Kinder zugenommen, die Mehrzahl der Kinder fühlte sich zwar unterfordert, war aber trotzdem ziemlich zufrieden. Auch die Lehrkräfte waren mit dem Projekt zufrieden, da sie – mit Ausnahme der Auswahl der Kinder, dem „Loslassen“ während der regulären Unterrichts und dem Raum geben für die Präsentation der Projekte – nicht zusätzlich belastet waren.
Die Projektauswertung ergibt, dass die stundenweise Befreiung vom Unterricht eine gute Möglichkeit ist, hochbegabte Kinder zu fördern und z.T. ihre generelle Schulzufriedenheit zu erhöhen. Sie ist eine Möglichkeit, Studierenden praktische Erfahrungen – in diesem Fall mit hochbegabten Kindern – zu vermitteln und sie für diese Gruppe zu sensibilisieren.
Insgesamt gelingt es der Verfasserin, im Rahmen ihrer Dissertation ein innovatives Projekt vorzustellen. Zugleich entfaltet sie im ersten Teil einen theoretischen Rahmen, der sehr gut geeignet ist, nicht nur Grundschullehrerinnen und -lehrer, sondern Lehrkräfte aller Schulformen in die Thematik „Hochbegabte in der Schule“ einzuführen.
Ahlbrechts Schlussfolgerung, das von ihr entwickelte Konzept sei „gegenüber mehreren der bislang verfügbaren Fördermöglichkeiten, beispielsweise der vorzeitigen Einschulung und dem Überspringen von Klassen“ vorzuziehen (180), vermag ich allerdings nicht zuzustimmen. Dass die Methode positive Auswirkungen hat, sagt nichts darüber aus, ob sie besser als andere ist. Nichts spricht dagegen, Kinder früh einzuschulen und / oder springen zu lassen und sie an solchen Projekten teilnehmen zu lassen. Darüber hinaus sind die vorzeitige Einschulung und das Überspringen von Klassen bei Bedarf an jeder Grundschule einsetzbar, während Pull-out Programme aus Mangel an Ressourcen nicht flächendeckend angeboten werden und so wie Ahlbrecht ihres konzipiert hat von Lehrkräften, denen keine anderen Personen (Studenten, Eltern, Pensionäre, …) für die Durchführung zur Verfügung stehen, auch nicht durchgeführt werden können.