Das Konzept der Verantwortung besitzt zwar eine hohe Relevanz für die pädagogische Praxis, ist jedoch theoretisch umstritten. Einen Versuch, sich dem Verantwortungsbegriff theoretisch zu nähern, unternimmt Nele Kuhlmann in ihrem Werk „»Verantwortung« als pädagogischer Topos. Anerkennungstheoretische Perspektiven“. Auf 335 Seiten und in vier Kapiteln widmet sie sich dem (pädagogischen) Verantwortungsbegriff theoretisch sowie methodologisch und nimmt anerkennungstheoretische Perspektivierungen vor.
Den Ausgangspunkt des Bandes stellt die „Gleichzeitigkeit von pädagogisch-ethischer und steuernder Funktion“ der Verantwortung dar, die den Verantwortungsbegriff sogar konstituierend charakterisiere (vgl. 16). Kuhlmann schlägt drei Dimensionen vor, anhand derer sich dem Begriff und Konzept der (pädagogischen) Verantwortung genähert werden kann: die systematische Begriffsanalyse, die qualitativ-empirische Erforschung und der historisierende Zugriff. Diese Betrachtungsfolien tauchen im Verlauf der Arbeit wiederkehrend auf und sind Teil des übergeordneten Ziels des Bandes, die eingebauten Publikationen (Kap. 3) „in ein produktives Gespräch zu bringen“ (17). Dazu werden drei Frageperspektiven vorgeschlagen: „1. Wie wird der Begriff der ‚Verantwortung‘ innerhalb von pädagogisch-ethischen Diskursen bestimmt? 2. In welcher Weise bringt das Konzept der ‚pädagogischen Verantwortung‘ je bestimmte (pädagogische) Anerkennungsordnungen hervor? 3. Welche Probleme und Chancen ergeben sich aus dieser Perspektivverschiebung für ein pädagogisch-ethisches Nachdenken über Verantwortung?“ (ebd., H.i.O.). Während die ersten beiden Fragen explizit in Kapitel 3.1 und 3.3 aufgegriffen werden, soll die dritte Frage als „Querdimension“ (20) beantwortet werden.
Neben der Einleitung (Kap. 1) und dem Nachwort (Kap. 4) besteht der Band aus zwei Hauptteilen: der theoretischen und methodologischen Rahmung (Kap. 2) und den anerkennungstheoretischen Perspektiven auf Verantwortung (Kap. 3). Im zweiten Kapitel wird der Grundstein für die Publikationen in Kap. 3 gelegt, indem die Autorin unterschiedliche (Problem-)Dimensionen des (pädagogischen) Verantwortungsbegriffs definiert. Dabei wird intendiert, eine „Topographie“ zu erstellen (Kap. 2.1), sodass eine Erkundung des Begriffs und keine Definitionsarbeit angestrebt wird. Darauf basierend wird darauf abgezielt, eine „anerkennungstheoretische Perspektivierung“ (64, H.i.O.) des Verantwortungsbegriffs vorzunehmen und zu argumentieren, dass diese Perspektive dazu in der Lage sei, „individualtheoretische Subjektvorstellungen zugunsten sozialtheoretischer Einsichten zurück[zu]weis[][en] als auch sensibel […] für die historisch gewachsene und situativ performierte Machtverstricktheit des Verantwortungskonzepts“ zu bleiben (ebd.). Mit dieser anerkennungstheoretischen Perspektive beschäftigt sich Kuhlmann dann explizit in Kap. 2.2, indem der Forschungstand zu Anerkennungstheorien dargestellt und prominente Anerkennungstheorien zusammengefasst werden.
Darauf folgt Kapitel 3, das mit dem Titel „Anerkennungstheoretische Perspektiven auf Verantwortung“, den zweiten großen Block des Bandes darstellt und aus einer Zusammenstellung bereits publizierter Werke besteht. Den drei Themen des Kapitels sind jeweils drei Publikationen zugeordnet. Im ersten Teil zu den Diskursen zu pädagogisch-ethischen Perspektiven (3.1), wird zunächst auf das Thema „Verantwortung und Kindheit“ (109–120) eingegangen und argumentiert, dass der Verantwortungsbegriff, trotz der Probleme unterschiedlicher Fassungen von Verantwortung, als solcher jedoch nicht verworfen werden sollte, weil dadurch Problemformulierungen zu Tage treten, die für die erziehungsphilosophische Reflexion hoch relevant seien. Im zweiten Beitrag, „On The Power of the Concept of Responsibility” (121–139), wird argumentiert, dass dem Verantwortungsbegriff im pädagogischen Kontext eine spezielle Macht zukomme, die bildungsphilosophisch reflektiert werden müsse. Zudem wird die Unterscheidung zwischen „responsibility“ und „accountability“ problematisiert und ein Alternativmodell vorgeschlagen. In der dritten Publikation mit dem Titel „Diesseits von Paternalismus und Aktivierung“ (140–165) wird auf das Spannungsfeld zwischen ethischem und responsibilisierendem Konzept eingegangen sowie „gouvernementalitätstheoretische Perspektiven“ vorgeschlagen, die im Verantwortungsbegriff ein „Steuerungskonzept“ sehen, dessen Logik ebenfalls in die pädagogische Sphäre übergegangen sei. Auch hier werden anerkennungstheoretische Perspektiven vorgeschlagen.
Im zweiten Teil des Kapitels namens „Zugänge: Anerkennungstheoretische Perspektiven“ (3.2, H.i.O.) wird zunächst die Publikation „Adressierungsanalyse als Zugang zur anerkennungstheoretischen Subjektivierungsforschung“(168–211) angeführt, in der sich mit der Methodologie und Methode der anerkennungstheoretischen Adressierungsforschung auseinandergesetzt sowie argumentiert wird, dass es „einer Verbindung interaktions- und machtanalytischer Zugriffe bedarf, um sowohl die Situiertheit als auch Machtverwobenheit von Subjektivierungsprozessen analysieren zu können“ (166). In der zweiten Publikation namens „Praktikentheoretische Perspektiven auf die Transformation von Schule“ (212–229) werden eben diese (poststrukturalistischen) Perspektiven auf Schule und ihre Transformation vorgeschlagen sowie vier Forschungsstrategien beschrieben, um die Transformation von Schule zu fokussieren, sodass das Ziel der Analysierbarkeit solcher Vorgänge verfolgt werden kann. Drittens folgt der Beitrag „Situierte (Geschichte der) Subjektivierung im Unterricht“ (230–255), der sich mit der Frage nach „Reproduktion und Transformation schulischer Ordnungen“ mittels einer „Feedbackstunde“ beschäftigt und in dem postuliert wird, dass die aufgetretenen Logiken die Funktion der Aufrechterhaltung sozialer Ordnungen verfolgen.
Der letzte Teil des Kapitels, der als „Erprobungen: Anerkennungstheoretische Perspektiven auf Verantwortung“ (3.3, H.i.O.) betitelt ist, umfasst zunächst den Beitrag namens „‚Verantwortung‘ als pastorale Adressierungsformel“ (258–278), welcher der historischen Entstehung der pädagogischen Verantwortung nachgehen soll und argumentiert, dass die historisch entstandene und verstärkte Selbstführung der Schüler:innen als pastorale Machtform zu bezeichnen ist. In der zweiten Publikation, die den Titel „Der Verantwortungsbegriff als produktive Delegitimierung des Schulischen“ (279–290) trägt, wird die These vertreten, dass der Verantwortungsbegriff schulische Anerkennungsordnungen delegitimiert und produktiv wirken kann, da er einen Legitimierungs- und Transformationsdruck für Schule und Lehrkräfte erzeuge. Der letzte Beitrag des dritten Teils, der sich „Sprechen über (Nicht-)Verantwortlichkeiten“ (291–304) nennt, thematisiert in einem qualitativen und adressierungsanalytischen Zugriff schlussendlich das Hervorbringen von (Nicht-)Verantwortlichkeiten im Rahmen eines Teamgesprächs zwischen Förderpädagog:innen an einer inklusiven Gesamtschule.
Den Abschluss des Bandes stellt ein Nachwort dar, das ebenfalls aus einem überarbeiteten und bereits publizierten Beitrag besteht und mit dem Titel „Nachwort: Ein Ringen mit und um Verantwortung“ (305–315, H.i.O.) versehen wurde.
Was kann nach der Lektüre des Bandes festgehalten werden? Insgesamt zeichnet sich der Band durch seine Prozesshaftigkeit aus, da er keine linear argumentierte Monografie, sondern eine kumulative Zusammenstellung unterschiedlicher Perspektiven zur pädagogischen Verantwortung darstellt. Dies unterstreicht die Komplexität des Nachdenkens über Verantwortung, auch weil dadurch der Forschungs- und Denkprozess der Autorin selbst nachgezeichnet wird. Es wird außerdem deutlich, dass kaum von „guter“ oder „schlechter“ Verantwortung gesprochen werden kann, sondern dass es viel eher um Sensibilität gegenüber unterschiedlichen Formen von Verantwortung geht. Ein wichtiger Beitrag besteht ebenfalls in der Thematisierung der Responsibilisierung, die nicht nur in gesellschaftlichen Sphären erkennbar ist, sondern auch bereits das pädagogische Feld durchdrungen hat. Was dieser Band jedoch nicht leisten kann (und will), ist eine Perspektive auf pädagogische Verantwortung zu eröffnen, die über eine „Machtverwobenheit“ des Pädagogischen hinausgeht. So verliert die Betonung machttheoretischer Begründungsmuster m.E. eine Perspektive, in der bspw. das Übertragen von Verantwortung nicht zwangsläufig problematisch sein muss, sodass ebenfalls ein vertrauensvolles Übertragen von Verantwortung im Sinne der Stärkung der Handlungsfähigkeit (agency) existieren kann.
Insgesamt kann festgehalten werden, dass es sich um einen gehaltvollen Band handelt, der einen umfassenden und aktuellen Beitrag zu den wissenschaftlichen Diskursen rund um die (pädagogische) Verantwortung leistet.
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
»Verantwortung« als pädagogischer Topos
Anerkennungstheoretische Perspektiven
Weinheim: Beltz Juventa 2023
(335 S.; ISBN 978-3-7799-7582-3; 68,00 EUR)
Marieke Schaper (Tübingen)
Zur Zitierweise der Rezension:
Marieke Schaper: Rezension von: Kuhlmann, Nele: »Verantwortung« als pädagogischer Topos, Anerkennungstheoretische Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997582.html
Marieke Schaper: Rezension von: Kuhlmann, Nele: »Verantwortung« als pädagogischer Topos, Anerkennungstheoretische Perspektiven. Weinheim: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997582.html