Das Buch von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai stellt Befunde aus einer Studie vor, die sie ab 2018 im Land Berlin durchgeführt haben. Diese gehört in den Zusammenhang von Studien, die das „Kompetenzzentrum Prävention und Empowerment“ gemeinsam mit der Fachhochschule Potsdam durchführt. Ergebnisse aus den laufenden Untersuchungen zu mehreren Bundesländern sind online verfügbar [1]. Die Forschungsfragen betreffen biographische Berührungspunkte von Lehrkräften mit Antisemitismus; die Thematisierung des Umgangs mit antisemitischen Vorgängen an den Schulen; das Verständnis der Lehrkräfte von Antisemitismus; die von Lehrkräften formulierten Bedarfe bezüglich des Umgangs mit Antisemitismus sowie die Praxis des Umgangs mit dem Problem des Antisemitismus an Schulen (30).
In den ersten Kapiteln legen die Autorinnen ihr Verständnis von Antisemitismus dar. Es folgt eine kurze Beschreibung der Methodik, bevor die Studie ausführlich vorgestellt wird.
Ausgehend vom Prinzip des Othering verdeutlichen die Autorinnen, dass die Exklusion und Andersmachung aus dem „deutschen Wir“ sich in der Annahme „jüdischer Nichtpräsenz“ äußere. Chernivsky beschreibt das schon in früheren Untersuchungen (13). Im Anschluss an Werner Bergmann wird Antisemitismus dann als „sozial hergestellte Konstruktion und projektive Fantasie“ beschrieben, um hervorzuheben, dass er nichts mit dem Objekt des Hasses oder dessen realem Verhalten zu tun hat (14).
Der Forschungsstand zum Thema Antisemitismus wird kursorisch referiert. Zum Kontext Schule folgen die Autorinnen dem Antisemitismusbericht des „Unabhängigen Expertenkreises“ für die Bundesregierung [2] und betonen u.a. „widersprüchliche Verteidigungserzählungen“, die zu Abwehrimpulsen führten. Die Autorinnen verstehen Antisemitismus als „gewaltförmige Struktur“. Die Verwendung des Begriffs Gewalt begründen sie mit der Beobachtung von Erfahrungen derjenigen, die von Antisemitismus betroffen sind. Das Offenlegen von verbaler antisemitischer Gewalt ist ausdrücklich das Anliegen des Buches. Die These, diese sei durch die herrschende „Verknüpfung des Antisemitismus mit der höchsten Stufe der Gewalt – der physischen Vernichtung – überlagert (...)“ (28) schließt die einleitenden Kapitel ab.
Im empirischen Teil der Publikation werden das Erkenntnisinteresse, das Sampling und die methodische Konzeption vorgestellt. Es wurden zehn narrative Interviews geführt und durch fünf Gruppendiskussionen ergänzt. Das Material wurde der Grounded Theory folgend codiert und ausgewertet (33). Die Befunde werden an den Forschungsfragen entlang zusammengefasst.
Das Referat der Befunde erweckt den Eindruck, dass die Interpretation der erhobenen Daten stark durch Vorannahmen geprägt ist. Die Feststellung, dass intergenerationelle Tradierung historischer Narrative das professionelle Handeln der Lehrkräfte prägt, wird mit deren Berichten von ihrer eigenen schulischen Erfahrung begründet. (37) Auf die jeweiligen familialen Konstellationen – also die Verstrickungen der Vorfahren der interviewten Lehrkräfte – gehen die Autorinnen nicht ein. Bei der Vorstellung von Erfahrungen, die Lehrkräfte in ihrer Jugend bei Gedenkstättenbesuchen machten, wird deutlich, dass hier darauf reflektiert werden müsste, ob es sich um eine west- oder ostdeutsche Sozialisation handelt. Dieser Unterschied im Umgang mit Antisemitismus war bis zum Ende der DDR sehr groß. In der Regel wurde die Shoah in den DDR-Gedenkstätten ignoriert. Die Autorinnen schreiben, dieser Unterschied „deute sich an“ (41). Gerade in Berliner Lehrerkollegien dürfte er aber bedeutend sein.
Ähnlich verhält es sich bei den Beobachtungen zum Thema der Dominanz von „Krieg“ in den familiären Erzählungen der Familien mit deutschen Wurzeln. Hier verweisen die Autorinnen auf unterschiedliche Untersuchungen zur familialen Tradierung der Erinnerung an NS-Geschichte. Dabei ist die unkommentierte Gleichsetzung der Ergebnisse aus Studien, die unterschiedliche Generationen und diese mit unterschiedlicher Methodik untersuchten, problematisch (42). Abgesehen davon ist es angezeigt, im Blick auf die postmigrantische Gesellschaft die Situation zu bedenken, in der deutsche Familiengeschichten in der Regel eine Kriegserfahrung enthalten, die mehrere Generationen zurückliegt, während andere Familiengeschichten direkt eigene Kriegserfahrungen in die Alltagskommunikation einbringen. Die Thematisierung der Shoah – oder auch ihr Verschweigen – ist in einem so komplexen Gefüge von Erinnerungsbeständen nicht im Rahmen der Dichotomie zwischen „deutsch“ und „jüdisch“ verständlich. Ein Bezug zu diesem Feld scheint in einem Fallbeispiel auf. Die Autorinnen schreiben, die Lehrkraft sei „in einem anderen europäischen Land“ aufgewachsen. Die vorgestellte Sequenz zeigt eine Reflexion über die Nähe zwischen „Opfern“, „Tätern“ und „Widerstandskämpfern“ in der Familie der Lehrkraft. Sie sagt dann, „Sodass ich mit diesem Thema schon als Kind sehr oft konfrontiert wurde.“ (42) Die Autorinnen interpretieren dies ausdrücklich als Bezugnahme auf die Shoah (43). Wieso eigentlich? Dafür gibt es in dem hier publizierten Material keinen Beleg. Und was soll die Bezeichnung „in einem anderen europäischen Land“ anzeigen? Eine Nicht-Involviertheit in die postnationalsozialistische Erfahrung und das mit ihr verbundene Schweigekollektiv? Seit etwa 1980 hat in den meisten europäischen Ländern ein Prozess der Beschäftigung mit der Kollaboration großer Teile der Bevölkerungen mit den nationalsozialistischen Besatzern und dem Verschweigen dieser Verstrickungen in die Verbrechen des Holocaust nach der Befreiung begonnen, der bis heute unabgeschlossen ist. Das zu übersehen, ist erstaunlich.
Mir erscheint diese Stelle der Deutungen durch Chernivsky / Lorenz-Sinai paradigmatisch für ein Problem ihres Forschungsberichts. Es gibt eine unterschwellige Grundannahme, die sich in den Forschungsfragen bereits einschreibt und die in den Deutungen immer wieder auftaucht: Die postnationalsozialistischen Deutschen werden als geschlossenes Kollektiv konstruiert. Diesem werden die Befunde unterschiedlicher Untersuchungen aus den letzten 30 Jahren zugeschrieben, wenn es um die Tradierung antisemitischer Haltungen geht (42). Dabei wird zusätzlich der Antisemitismus aus dem Gesamtzusammenhang von völkischen und rassistischen Haltungen herausgelöst. Das ist aber gerade bei der Frage, wie sich nationalsozialistische Weltdeutungen im postnationalsozialistischen Deutschland fortschreiben, zu einfach gedacht. Das Othering hat nicht nur ein Objekt, das darunter leidet. Es hat auch ein Subjekt, das davon profitiert – die völkisch definierte Gemeinschaft. Und ein wichtiger Befund der Studie gilt nicht nur für den Antisemitismus: „Das institutionelle Selbstverständnis von Schulen in Deutschland beinhaltet eine künstliche Abgrenzung von Antisemitismus als gegenwärtiger Praxis (...).“ (85) Es ist der strukturelle Rassismus, der die Institutionen des Bildungswesens prägt. Das Ausbleiben der Reflexion dieser Tatsache verstellt zugleich den Zugang zur Wahrnehmung des alltäglichen Antisemitismus.
Die Untersuchung von Chernivsky / Lorenz-Sinai hat ihren Fokus auf den von antisemitischer Gewalt Betroffenen. Das ist eine wichtige Perspektive, um die öffentliche Wahrnehmung der Betroffenen zu ermöglichen und um sie besser unterstützen zu können. Aber die Aufmerksamkeit auf die Mechanismen antisemitischer und rassistischer Haltungen, Codes, Gewalt im Alltag darf durch diese nun endlich wahrgenommene Opferperspektive nicht in den Hintergrund treten. Gerade die Selbstreflexion in Bezug auf antisemitische Haltungen im eigenen Denken setzt ein genaues Wissen über ihre Erscheinungsweisen voraus. Die große Baustelle gesamtgesellschaftlich und für die Schulen im Bereich der Aus- und Weiterbildung der Lehrkräfte ist die Reflexion auf die eigenen Stereotype und Codes. Dazu hatte ich von dieser Publikation empirische Einsichten erwartet. Diese Erwartung wurde hier nicht erfüllt, es gibt dazu andernorts ausgearbeitete Überlegungen [3].
[1] https://zwst-kompetenzzentrum.de/abgeschlossene-studien/
[2] Antisemitismusbericht des Zweiten Unabhängigen Expertenkreises des Deutschen Bundestages (2017): https://www.bundestag.de/dokumente/textarchiv/2017/kw25-de-antisemitismusbericht-509752 (letzter Zugriff am 02.08.2024)
[3] Vgl. Viktoria Kumar / Werner Dreier / Peter Gautschi / Nicole Riedweg / Linda Sauer / Robert Sigel (2022) Thesen und Handlungsempfehlungen zum Umgang mit Antisemitismus an Schulen und Hochschulen, in: Dies. (Hg.), Antisemitismen. Sondierungen im Bildungsbereich, Frankfurt am Main: Wochenschau, S. 248 - 256
EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)
Antisemitismus im Kontext Schule
Deutungen und Praktiken von Lehrkräften
Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023
(102 S.; ISBN 978-3-7799-7430-7; 20,00 EUR)
Gottfried Kößler (Frankfurt am Main)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gottfried Kößler: Rezension von: Marina, Chernivsky, / Friederike, Lorenz-Sinai,: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von Lehrkräften. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997430.html
Gottfried Kößler: Rezension von: Marina, Chernivsky, / Friederike, Lorenz-Sinai,: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von Lehrkräften. Weinheim Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997430.html