24 (2025), Nr. 1 (Januar)

Marina Chernivsky / Friederike Lorenz-Sinai
Antisemitismus im Kontext Schule
Deutungen und Praktiken von LehrkrÀften
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023
(98 S.; ISBN 978-3-7799-7430-7; 20,00 EUR)
Antisemitismus im Kontext Schule Seit dem Angriff der islamistischen Terrorgruppe Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023, bei dem fast 1.200 Israelis brutal ermordet, unzĂ€hlige Frauen vergewaltigt und gefoltert sowie 250 Menschen als Geiseln nach Gaza verschleppt wurden und der immer noch andauernden militĂ€rischen Reaktion Israels, ist das Thema Antisemitismus wieder stark in den Fokus geraten. Auch die Anzahl antisemitischer Straftaten in Deutschland ist signifikant gestiegen. Die Antisemitismusmeldestelle RIAS dokumentierte 2023 insgesamt 4.782 antisemitische VorfĂ€lle, mehr als die HĂ€lfte davon nach dem 7. Oktober [1]. An UniversitĂ€ten und Schulen kommt es zu Demonstrationen gegen den Krieg in Nahost, in deren Rahmen es immer wieder zu antisemitischen AusfĂ€llen kommt. Umso wichtiger ist es, dass das Lehrpersonal angemessen auf Antisemitismus reagiert. Doch kann es das ĂŒberhaupt? Ist es ausreichend ausgebildet, die verschiedenen Formen von Antisemitismus, beispielsweise sekundĂ€ren, muslimischen oder auch israelbezogenen Antisemitismus zu erkennen und haben die Lehrer:innen ihren eigenen, möglicherweise vorhandenen Antisemitismus ausreichend reflektiert? Die qualitative Studie ‚Antisemitismus im Kontext Schule‘ fragt nach dem AntisemitismusverstĂ€ndnis und den Interventionspraktiken von LehrkrĂ€ften. Erstellt wurde sie in Berlin von 2018 bis 2020 durch den Forschungsbereich des Kompetenzzentrums fĂŒr PrĂ€vention und Empowerment in Kooperation mit dem Arbeitsbereich SozialpĂ€dagogik der Freien UniversitĂ€t Berlin unter Leitung von Marina Chernivsky und Friederike Lorenz-Sinai.

Chernivsky und Lorenz-Sinai postulieren, dass antisemitische VorfĂ€lle keine isolierten EinzelfĂ€lle darstellen, sondern in Strukturen und Alltagspraktiken eingelassen sind, die sich gegen jĂŒdische SchĂŒler:innen, Eltern und LehrkrĂ€fte richten, aber auch nicht-jĂŒdische Personen adressieren oder diskursiv wirken können. Das dargelegte VerstĂ€ndnis von Antisemitismus erlaubt es, nicht nur die evidenten Beschimpfungen und Diskriminierungen zu erfassen, sondern auch die strukturellen Aspekte antisemitischer Diskriminierung zu berĂŒcksichtigen und somit ein umfassendes Bild der Problemlage zu zeichnen. Die Zielsetzung dieser Studie besteht in einer forschungsbasierten Fundierung von Gegenmaßnahmen zu Antisemitismus. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die empirische und theoretische Basis noch unzureichend sei; insbesondere im Hinblick auf die Perspektiven von Lehrer:innen, SchĂŒler:innen und Familien mit Antisemitismus-Erfahrungen.

Das Buch beginnt mit einer Darstellung theoretischer Aspekte von Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft (Kapitel 2). Dabei werden Erkenntnisse, Leerstellen und Bedarfe im Bildungsbereich erhoben. Im Folgenden werden die Funktion und die Ausdrucksformen von Antisemitismus als gewaltförmiges (Sprach-)Handeln untersucht. Außerdem berĂŒcksichtigt die Studie den Umgang mit Antisemitismus in der deutschen Gegenwartsgesellschaft, welcher durch einige Traditionslinien gekennzeichnet ist: Historisierung, Distanzierung, Perspektivendivergenz und Objektifizierung.

Im dritten Kapitel erfolgt eine Spezifikation des Gewalt- und Antisemitismusbegriffs, wobei festgestellt wird, dass die Studie darauf abzielt, „die Kernkonzepte und Artikulationsstrategien eines antisemitisch geprĂ€gten Wissens und Sprechens aufzubrechen und zu verhindern, dass sie weitergetragen oder gar neu hergestellt werden – wie dies beim Verwenden des Begriffs Jude als Schimpfwort der Fall ist.“ (27) Es geht folglich darum, Antisemitismus als reale Gewaltpraxis anzuerkennen. Dies ist erforderlich, da hĂ€ufig die niedrigschwelligeren Erscheinungen antisemitischer Gewalt durch die VerknĂŒpfung von Antisemitismus mit der höchsten Stufe der Gewalt, der physischen Vernichtung, ĂŒberlagert werden.

Die Methodik und Wissenschaftlichkeit der Studie werden im vierten Kapitel ausgewiesen. Sie basiert auf der Methodik der interpretativen und rekonstruktiven Sozialforschung. Dazu wurden zehn narrative Einzelinterviews mit Lehrer:innen und fĂŒnf Gruppendiskussionen mit Lehrer:innen aus verschiedenen Berliner Stadtbezirken und unterschiedlichen Schulformen (Grundschule, Oberschule, Gymnasium) durchgefĂŒhrt und untersucht. Ziel war es, die Wahrnehmung und den Umgang des Fachpersonals mit Antisemitismus im schulischen Alltag zu erforschen. Das Erkenntnisinteresse der Studie richtet sich folglich auf die biografisch geprĂ€gten VerstĂ€ndnisse von Antisemitismus durch Lehrer:innen und Schulleitungen sowie auf Schilderungen von Situationen und Bedarfen hinsichtlich des Umgangs mit Antisemitismus an Schulen. Die Autor:innen definieren die Schule methodologisch als eine „spezifische soziale Welt“, in der „der Umgang mit Antisemitismus in kontextspezifischen Praktiken und Routinen [
] vollzogen wird“ (31).

Im fĂŒnften Kapitel werden die zentralen Befunde der Studie prĂ€sentiert. Die Analyse ist dabei auf vier Themenbereiche fokussiert: die (berufs-)biografischen BerĂŒhrungen der Lehrer:innen mit Antisemitismus, die impliziten und expliziten VerstĂ€ndnisse der Lehrer:innen von Antisemitismus, die Wahrnehmungen und Deutungen von antisemitischen Übergriffen aus der Lehrer:innenperspektive sowie die Strukturmerkmale ihrer Interventionsschilderungen. Schließlich werden die von den Lehrer:innen formulierten „Bedarfe und Ansatzpunkte“ (34) thematisiert. Die Mehrheit der LehrkrĂ€fte gibt an, in ihrer Kindheit keine BerĂŒhrungspunkte mit Antisemitismus gehabt zu haben (34 f.). Dies geht so weit, dass in der Kindheit ein vermeintlich anti-antisemitisches Selbstbild internalisiert wurde (48). Die ErstberĂŒhrung mit der Shoah wird von den Befragten meist in den Geschichtsunterricht in der Schule oder durch Film und Literatur, beispielsweise die US-amerikanische Serie „Holocaust“, verortet. Ihr dominanter Referenzrahmen fĂŒr Antisemitismus ist folglich der „Genozid an den Juden und JĂŒdinnen im Nationalsozialismus“ (34), und aufgrund der fehlenden „(familien-)biografischen und reflexiven RĂŒckbindung“ (35) haben sie deshalb nur abstrakte und unpersönliche BerĂŒhrungspunkte mit dem Thema (36 f.). In diesem Kontext ist zudem von Relevanz, dass „zwischen der ersten, zweiten und dritten Generation nicht-jĂŒdischer Deutscher ĂŒber die familiale Vergangenheit im Nationalsozialismus und ĂŒber die Shoah ĂŒberwiegend in Andeutungen, historisch entkontextualisiert, verzerrend und in Form von Verteidigungs- und SchuldabwehrerzĂ€hlungen gesprochen wurde“ (35). Daraus ziehen die Autor:innen den Schluss, dass historisch fragwĂŒrdiges Wissen ĂŒber die Shoah vermittelt wurde.

Die Lehrenden schildern ihre ersten Erfahrungen mit Antisemitismus, die sie als „einschneidende Erlebnisse“ bzw. „ZĂ€sur“ wahrnehmen (45). Dieser Befund steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen RealitĂ€t, in der Antisemitismus strukturell verankert ist und kontinuierlich auftritt. Die Wahrnehmung der Lehrenden, dass Antisemitismus plötzlich auftritt, verweist auf ein implizites Wissen um die Latenz von Antisemitismus und auf die Wahrnehmung, dass dessen Tabuisierung ansonsten als Barriere wirkt, die entsprechende Äußerungen zurĂŒckhĂ€lt (46). An dieser Stelle wĂ€re eine Aktualisierung der Studie aufschlussreich, um zu eruieren, ob israelbezogener Antisemitismus ĂŒberhaupt unter diese Tabuisierung fĂ€llt oder ob er als Ventil fĂŒr den latent vorhandenen Antisemitismus fungiert. Die Autor:innen ziehen den Schluss, dass den Lehrenden die KontinuitĂ€t antisemitischer Ressentiments der Nicht-Betroffenen wenig bewusst und affektiv nicht zugĂ€nglich ist (49). Besorgniserregend ist die in den BezĂŒgen der Befragten auf die Shoa immer wieder benannte Trennung in ‚wir Deutsche‘ und ‚die Juden‘, die die Exkludierung von jĂŒdischen Deutschen in der Gegenwart fortschreibt. Die befragten LehrkrĂ€fte verfĂŒgen zwar ĂŒberwiegend ĂŒber ein fundiertes Wissen zum abstrakten Konzept des Antisemitismus (52), jedoch fĂ€llt es vielen von ihnen schwer, dieses Wissen auf den Schulalltag zu ĂŒbertragen und konkreten Antisemitismus als solchen zu identifizieren. Dies ist auch darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass der historische und der gegenwĂ€rtige Antisemitismus nicht in Bezug zueinander gesetzt wird. Die Erscheinungsformen des Antisemitismus im schulischen Alltag werden durch Relativierungs- und Distanzierungsschleifen kontinuierlich verharmlost, sodass er als abstraktes Problem wahrgenommen wird, das nicht als gegenwĂ€rtige Bedrohung und Gewaltpraxis von und gegen SchĂŒler:innen an deutschen Schulen identifiziert wird.

In den letzten Kapiteln werden die Befunde zusammengefasst und ein ernĂŒchterndes Fazit gezogen. Die dokumentierte Relativierungstendenz vieler LehrkrĂ€fte in Verbindung mit institutionell fehlenden schulischen Konzepten wirkt sich auf die Verfestigung antisemitischer Strukturen an Schulen aus und erhöht die Bedrohung und Unsicherheit fĂŒr antisemitisch attackierte SchĂŒler:innen und ihre Familien. Diese können sich nicht darauf verlassen, dass LehrkrĂ€fte antisemitische (Sprach-)Handlungen erkennen, einordnen und von selbst dagegen intervenieren. Es ist positiv zu vermerken, dass Lehrende sich bereitwillig externe UnterstĂŒtzung holen und sich weiterbilden.

Die Studie besticht durch ihre allgemein verstĂ€ndliche Lesbarkeit sowie eine ĂŒberzeugende theoretische Einordnung des PhĂ€nomens des Antisemitismus. Da LehrkrĂ€fte durch ihre gesellschaftliche Bildungsrolle eine zentrale Position bei der BekĂ€mpfung von Ideologien der Ungleichheit einnehmen und gleichzeitig ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, stellt die LektĂŒre auch fĂŒr fachfremde Personen einen Gewinn dar.

[1] Bundesverband RIAS (2023). Antisemitische VorfÀlle in Deutschland 2023, Jahresbericht. Abrufbar unter https://report-antisemitism.de/documents/25-0624_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf (23.07.2024).
Cordula Trunk (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Cordula Trunk: Rezension von: Chernivsky, Marina / Lorenz-Sinai, Friederike: Antisemitismus im Kontext Schule. Deutungen und Praktiken von LehrkrĂ€ften. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2023. In: 24 (2025), Nr. 1 (Veröffentlicht am 13.02.2025), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997430-1.html