
Chernivsky und Lorenz-Sinai postulieren, dass antisemitische VorfĂ€lle keine isolierten EinzelfĂ€lle darstellen, sondern in Strukturen und Alltagspraktiken eingelassen sind, die sich gegen jĂŒdische SchĂŒler:innen, Eltern und LehrkrĂ€fte richten, aber auch nicht-jĂŒdische Personen adressieren oder diskursiv wirken können. Das dargelegte VerstĂ€ndnis von Antisemitismus erlaubt es, nicht nur die evidenten Beschimpfungen und Diskriminierungen zu erfassen, sondern auch die strukturellen Aspekte antisemitischer Diskriminierung zu berĂŒcksichtigen und somit ein umfassendes Bild der Problemlage zu zeichnen. Die Zielsetzung dieser Studie besteht in einer forschungsbasierten Fundierung von GegenmaĂnahmen zu Antisemitismus. Es wird jedoch auch darauf hingewiesen, dass die empirische und theoretische Basis noch unzureichend sei; insbesondere im Hinblick auf die Perspektiven von Lehrer:innen, SchĂŒler:innen und Familien mit Antisemitismus-Erfahrungen.
Das Buch beginnt mit einer Darstellung theoretischer Aspekte von Antisemitismus in der Gegenwartsgesellschaft (Kapitel 2). Dabei werden Erkenntnisse, Leerstellen und Bedarfe im Bildungsbereich erhoben. Im Folgenden werden die Funktion und die Ausdrucksformen von Antisemitismus als gewaltförmiges (Sprach-)Handeln untersucht. AuĂerdem berĂŒcksichtigt die Studie den Umgang mit Antisemitismus in der deutschen Gegenwartsgesellschaft, welcher durch einige Traditionslinien gekennzeichnet ist: Historisierung, Distanzierung, Perspektivendivergenz und Objektifizierung.
Im dritten Kapitel erfolgt eine Spezifikation des Gewalt- und Antisemitismusbegriffs, wobei festgestellt wird, dass die Studie darauf abzielt, âdie Kernkonzepte und Artikulationsstrategien eines antisemitisch geprĂ€gten Wissens und Sprechens aufzubrechen und zu verhindern, dass sie weitergetragen oder gar neu hergestellt werden â wie dies beim Verwenden des Begriffs Jude als Schimpfwort der Fall ist.â (27) Es geht folglich darum, Antisemitismus als reale Gewaltpraxis anzuerkennen. Dies ist erforderlich, da hĂ€ufig die niedrigschwelligeren Erscheinungen antisemitischer Gewalt durch die VerknĂŒpfung von Antisemitismus mit der höchsten Stufe der Gewalt, der physischen Vernichtung, ĂŒberlagert werden.
Die Methodik und Wissenschaftlichkeit der Studie werden im vierten Kapitel ausgewiesen. Sie basiert auf der Methodik der interpretativen und rekonstruktiven Sozialforschung. Dazu wurden zehn narrative Einzelinterviews mit Lehrer:innen und fĂŒnf Gruppendiskussionen mit Lehrer:innen aus verschiedenen Berliner Stadtbezirken und unterschiedlichen Schulformen (Grundschule, Oberschule, Gymnasium) durchgefĂŒhrt und untersucht. Ziel war es, die Wahrnehmung und den Umgang des Fachpersonals mit Antisemitismus im schulischen Alltag zu erforschen. Das Erkenntnisinteresse der Studie richtet sich folglich auf die biografisch geprĂ€gten VerstĂ€ndnisse von Antisemitismus durch Lehrer:innen und Schulleitungen sowie auf Schilderungen von Situationen und Bedarfen hinsichtlich des Umgangs mit Antisemitismus an Schulen. Die Autor:innen definieren die Schule methodologisch als eine âspezifische soziale Weltâ, in der âder Umgang mit Antisemitismus in kontextspezifischen Praktiken und Routinen [âŠ] vollzogen wirdâ (31).
Im fĂŒnften Kapitel werden die zentralen Befunde der Studie prĂ€sentiert. Die Analyse ist dabei auf vier Themenbereiche fokussiert: die (berufs-)biografischen BerĂŒhrungen der Lehrer:innen mit Antisemitismus, die impliziten und expliziten VerstĂ€ndnisse der Lehrer:innen von Antisemitismus, die Wahrnehmungen und Deutungen von antisemitischen Ăbergriffen aus der Lehrer:innenperspektive sowie die Strukturmerkmale ihrer Interventionsschilderungen. SchlieĂlich werden die von den Lehrer:innen formulierten âBedarfe und Ansatzpunkteâ (34) thematisiert. Die Mehrheit der LehrkrĂ€fte gibt an, in ihrer Kindheit keine BerĂŒhrungspunkte mit Antisemitismus gehabt zu haben (34 f.). Dies geht so weit, dass in der Kindheit ein vermeintlich anti-antisemitisches Selbstbild internalisiert wurde (48). Die ErstberĂŒhrung mit der Shoah wird von den Befragten meist in den Geschichtsunterricht in der Schule oder durch Film und Literatur, beispielsweise die US-amerikanische Serie âHolocaustâ, verortet. Ihr dominanter Referenzrahmen fĂŒr Antisemitismus ist folglich der âGenozid an den Juden und JĂŒdinnen im Nationalsozialismusâ (34), und aufgrund der fehlenden â(familien-)biografischen und reflexiven RĂŒckbindungâ (35) haben sie deshalb nur abstrakte und unpersönliche BerĂŒhrungspunkte mit dem Thema (36 f.). In diesem Kontext ist zudem von Relevanz, dass âzwischen der ersten, zweiten und dritten Generation nicht-jĂŒdischer Deutscher ĂŒber die familiale Vergangenheit im Nationalsozialismus und ĂŒber die Shoah ĂŒberwiegend in Andeutungen, historisch entkontextualisiert, verzerrend und in Form von Verteidigungs- und SchuldabwehrerzĂ€hlungen gesprochen wurdeâ (35). Daraus ziehen die Autor:innen den Schluss, dass historisch fragwĂŒrdiges Wissen ĂŒber die Shoah vermittelt wurde.
Die Lehrenden schildern ihre ersten Erfahrungen mit Antisemitismus, die sie als âeinschneidende Erlebnisseâ bzw. âZĂ€surâ wahrnehmen (45). Dieser Befund steht im Widerspruch zur gesellschaftlichen RealitĂ€t, in der Antisemitismus strukturell verankert ist und kontinuierlich auftritt. Die Wahrnehmung der Lehrenden, dass Antisemitismus plötzlich auftritt, verweist auf ein implizites Wissen um die Latenz von Antisemitismus und auf die Wahrnehmung, dass dessen Tabuisierung ansonsten als Barriere wirkt, die entsprechende ĂuĂerungen zurĂŒckhĂ€lt (46). An dieser Stelle wĂ€re eine Aktualisierung der Studie aufschlussreich, um zu eruieren, ob israelbezogener Antisemitismus ĂŒberhaupt unter diese Tabuisierung fĂ€llt oder ob er als Ventil fĂŒr den latent vorhandenen Antisemitismus fungiert. Die Autor:innen ziehen den Schluss, dass den Lehrenden die KontinuitĂ€t antisemitischer Ressentiments der Nicht-Betroffenen wenig bewusst und affektiv nicht zugĂ€nglich ist (49). Besorgniserregend ist die in den BezĂŒgen der Befragten auf die Shoa immer wieder benannte Trennung in âwir Deutscheâ und âdie Judenâ, die die Exkludierung von jĂŒdischen Deutschen in der Gegenwart fortschreibt. Die befragten LehrkrĂ€fte verfĂŒgen zwar ĂŒberwiegend ĂŒber ein fundiertes Wissen zum abstrakten Konzept des Antisemitismus (52), jedoch fĂ€llt es vielen von ihnen schwer, dieses Wissen auf den Schulalltag zu ĂŒbertragen und konkreten Antisemitismus als solchen zu identifizieren. Dies ist auch darauf zurĂŒckzufĂŒhren, dass der historische und der gegenwĂ€rtige Antisemitismus nicht in Bezug zueinander gesetzt wird. Die Erscheinungsformen des Antisemitismus im schulischen Alltag werden durch Relativierungs- und Distanzierungsschleifen kontinuierlich verharmlost, sodass er als abstraktes Problem wahrgenommen wird, das nicht als gegenwĂ€rtige Bedrohung und Gewaltpraxis von und gegen SchĂŒler:innen an deutschen Schulen identifiziert wird.
In den letzten Kapiteln werden die Befunde zusammengefasst und ein ernĂŒchterndes Fazit gezogen. Die dokumentierte Relativierungstendenz vieler LehrkrĂ€fte in Verbindung mit institutionell fehlenden schulischen Konzepten wirkt sich auf die Verfestigung antisemitischer Strukturen an Schulen aus und erhöht die Bedrohung und Unsicherheit fĂŒr antisemitisch attackierte SchĂŒler:innen und ihre Familien. Diese können sich nicht darauf verlassen, dass LehrkrĂ€fte antisemitische (Sprach-)Handlungen erkennen, einordnen und von selbst dagegen intervenieren. Es ist positiv zu vermerken, dass Lehrende sich bereitwillig externe UnterstĂŒtzung holen und sich weiterbilden.
Die Studie besticht durch ihre allgemein verstĂ€ndliche Lesbarkeit sowie eine ĂŒberzeugende theoretische Einordnung des PhĂ€nomens des Antisemitismus. Da LehrkrĂ€fte durch ihre gesellschaftliche Bildungsrolle eine zentrale Position bei der BekĂ€mpfung von Ideologien der Ungleichheit einnehmen und gleichzeitig ein Spiegelbild der Gesellschaft sind, stellt die LektĂŒre auch fĂŒr fachfremde Personen einen Gewinn dar.
[1] Bundesverband RIAS (2023). Antisemitische VorfÀlle in Deutschland 2023, Jahresbericht. Abrufbar unter https://report-antisemitism.de/documents/25-0624_RIAS_Bund_Jahresbericht_2023.pdf (23.07.2024).