EWR 23 (2024), Nr. 4 (Oktober)

Leonhard Birnbacher / Judith Durand / Anke Költsch / Patrick Mielke / Riem Spielhaus / Katharina Stadler
Bildung und Demokratie
Empirische Perspektiven auf Kita und Schule
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023
(300 S.; ISBN 978-3-7799-7296-9; 32,00 EUR)
Bildung und Demokratie Mit ‚Pandemie‘, ‚Krieg‘, ‚Klimawandel‘ und ‚Terror‘ werden Schlagworte aufgeworfen, in denen sich die Dominanz von Krisennarrativen im Kontext vielfältiger Herausforderungen und (globaler) Problemlagen insbesondere medial und politisch artikulieren. Gleichsam ist die Herstellung und Aufrechterhaltung demokratischer Strukturen eine komplexe gesamtgesellschaftliche Aufgabe, zu deren ‚Lösung‘ politisch zunehmend auf den Bildungssektor zugegriffen wird. Schule und Kindertageseinrichtung stellen eine mikrokosmische ‚Innenwelt‘ gesellschaftlicher ‚Außenwelt‘ dar, die qua ihrer Zugänglichkeit unmittelbar mit ‚allen‘ Kindern und Jugendlichen befasst sind und die adressiert werden, demokratische Bildungsprozesse zu befördern resp. antidemokratischen Prozessen entgegenzuwirken.

Vor diesem Hintergrund wendet sich die Publikation dem Verhältnis von Bildung und Demokratie im pädagogisch-institutionellen Kontext deutscher Kindertagesstätten und Schulen zu. Sie basiert auf dem 2019 bis 2023 durchgeführten Verbundprojekt „Demokratiebildung in Deutschland“, das vom Leibniz-Institut für Bildungsmedien/Georg-Eckert-Institut (GEI) sowie vom Deutschen Jugendinstitut (DJI) durchgeführt und von Mitteln des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) gefördert wurde. Die beiden Teilstudien „Bildung und Demokratie mit den Jüngsten“ (BilDe) und „Subjekte der Demokratie. Aktuelle Herausforderungen und Potenziale der Demokratiebildung in Deutschland“ (DemoS) bieten ein vielfältiges Potpourri an Perspektiven, Zugängen und empirischen Ergebnissen, die wiederum vielfältige Anschlussstellen für kritische Debatten eröffnen. Das monografisch erschienene Werk ist sowohl gedruckt als auch in digitaler Form (Open Access) zugänglich. Es unterteilt sich in sechs Kapitel, denen ein Vorwort vorangestellt ist und die von einem Tabellen- und Abbildungsverzeichnis, einem Literatur- und Quellenverzeichnis sowie einer Beschreibung der Autor:innen zum Abschluss gebracht werden. Die einzelnen Abschnitte wurden von unterschiedlichen Autor:innen, teils gemeinschaftlich in verschiedenen Konstellationen verfasst. Dies wird bei den entsprechenden Überschriften klar ausgewiesen. Alle beteiligten Autor:innen sind nach alphabetischer Reihung auf dem Cover des Werks angeführt.

Auf die inhaltlich dichte Einleitung (Kapitel 1) folgt eine informative Einführung in die beiden Teilstudien (Kapitel 2). Hervorzuheben ist hierbei insbesondere die transparente Darlegung der theoretischen Grundlagen, des jeweils verfolgten Erkenntnisinteresses, des Forschungsdesigns, Samplings und methodischen Vorgehens. Im Rahmen eines Mixed-Methods-Zugangs wurde ein umfangreicher Datenkorpus erzeugt, der Dokumente (Bildungsprogramme für Kitas, Lehrpläne, Schulbücher, Gesetze und Erlasse), narrative Daten (Interviews, Gruppendiskussionen und dialogorientierte Gesprächsrunden mit Kita-Fachkräften, -Leitungspersonen und -Kindern, Lehrkräften und Schüler:innen) sowie teilnehmende Beobachtungen umfasst.

Die Ergebnisse, die vor allem in den Kapiteln 3 (Fokus Kita) und 4 (Fokus Schule) vorgestellt werden, zeichnen sich durch eine erhebliche Fülle und Tiefe aus. Sie werden in den Kapiteln 5 (Spannungsfelder der Demokratiebildung) und 6 (Besonderheiten, Potenziale, Herausforderungen und Bedarfe) gehaltvoll verdichtet und institutionenübergreifend verschränkt. Auf ausgewählte Aspekte der Ergebnisse wird folgend kursorisch eingegangen.

Ein interessantes Ergebnis der Lektüre stellt die unterschiedliche Anrufung von Konzepten und Begriffen in den jeweiligen fachlichen Überlegungen vor dem Hintergrund der Einlagerung in jeweils spezifische theoretische Diskurse dar. Sowohl in den analysierten Dokumenten als auch im Kontext der narrativen Daten mit Fachkräften und Leitungspersonen wird dies sichtbar, etwa im Hinblick auf die Betonung von ‚Bildung‘ und ‚Inklusion‘ im Feld der Kita oder bezugnehmend auf ‚Kritik‘ und ‚Mündigkeit‘ im schulischen Kontext. Trotz aller hiermit verbundener Vielschichtigkeit und Komplexität, zeigen sich Parallelen in den Momenten der Normativität und Intentionalität, im Hinblick auf die Erfüllung spezifischer Funktionen auf individueller und sozialer/gesellschaftlicher Ebene.

Den beiden Feldern gemein ist die prominent-schillernde Zuschreibung und steigende Bedeutung des Narrativs ‚Partizipation‘: Teilhabe und Mitgestaltung soll für Kinder und Jugendliche möglichst unmittelbar im interaktionalen Alltag der Bildungsinstitution und auch strukturell verankert (etwa in Form von Kinderparlamenten) erfahrbar sein.

Generell kann eine appellative und affirmative Verhandlung von Demokratiebildung in beiden Institutionen als relevant herausgestellt werden. Jene entzieht sich einer unmittelbaren Herstellbarkeit. Vielmehr erscheint sie als äußerst voraussetzungsvoll und zugleich, aufgrund der institutionellen Verfasstheit und generational-machtvollen Asymmetrien, als nur begrenzt möglich. Besonders sichtbar wird dies in den Bildungsplänen der Kitas, die die Beförderung von Demokratie und die Ermöglichung von Mitbestimmungsmöglichkeiten für Kinder zwar aufwerfen, zugleich aber im Kontext der ihnen zugewiesenen Orientierungsfunktion vage und unterbestimmt lassen, ‚wie‘ die Fachkräfte diese Anrufungen im Kita-Alltag konkret umsetzen und ausgestalten können und sollen.
In den Lehrplänen werden Schüler:innen insbesondere als ‚Subjekte‘ prominent gestellt und verhandelt. Damit verbindet sich die zentrale Intention, jene Kompetenzen zu erwerben, die es braucht, um die zukünftige Rolle als ‚Bürger:in‘ adäquat auszufüllen und im Sinne politisch-gesellschaftlicher Teilhabe, Mitgestaltung und Verantwortungsübernahme wirksam zu werden – u.a. um der gesellschaftlich attestierten ‚Politikverdrossenheit‘ beizukommen.

In der Gesamtsicht zeichnet sich die Publikation durch ein ausgewogenes Verhältnis von Theorie und Empirie sowie Abstraktion und Konkretion aus. An vielen Stellen (insbesondere in Kapitel 2) beeinflussen verdichtete Kurzzusammenfassungen den Lesefluss positiv. Anders als auf den ersten Blick erwartbar, entspricht das Werk keiner klassischen Monografie, die enthaltenen Kapitel sind thematisch zwar aufeinander abgestimmt, sind jedoch inhaltlich in sich recht geschlossen und ‚funktionieren‘ in jeweils eigener Logik ‚für sich‘. Hierin liegen eine Stärke und eine Schwäche zugleich: Zwar könnte das Hervorheben des gemeinsamen roten Fadens zum Abrunden des Werkes beitragen. Aufgrund der weitgehenden Unabhängigkeit der einzelnen Abschnitte können diese hingegen gezielt und selektiv potenziellen Leser:innen – insbesondere aus den Feldern Kita und Schule in Praxis und Forschung – zur Lektüre empfohlen werden.

Positive Erwähnung soll das Bemühen finden, Perspektiven von Kindern in den Band miteinfließen zu lassen, womit aktuellen Forderungen der Kindheitsforschung nachgekommen wird. Bezogen auf die eher nachrangige Gewichtung im Gesamtkontext erscheint eine stärkere Priorisierung jedoch aussichtsreich. Vor dem Hintergrund gegenwärtiger gesellschaftlicher Krisen leistet der vorgelegte Band einen bedeutsamen Beitrag für die Frage nach Demokratiebildung. Er zeichnet nicht nur gezielt nach, auf welche Weise Demokratie und Bildung programmatisch verhandelt werden, er ermöglicht überdies institutionelle Binnen(ein)sichten und gewährt einen Zugriff auf die tatsächlich gelebte Praxis. Zudem geht er in reflexiver Weise über eine deskriptive Beschreibung der Analyseergebnisse hinaus und befragt vielmehr auch gegebene resp. historisch-kulturell gewordene Verhältnisse.

Als Arenen diskursiver Aushandlung sind Kitas und Schulen gefordert, Kinder und Jugendliche im Kontext institutioneller Verfasstheit und begrenzter Möglichkeiten adäquat in ihren Bildungsprozessen zu begleiten und zugleich einen Beitrag zu einem gesellschaftlichen Miteinander zu leisten. Das sehr empfehlenswerte Werk liefert eine gehaltvolle empirische Basis, um die hiermit verbundenen Herausforderungen und Potenziale produktiv zu bearbeiten.
Melanie Holztrattner (Salzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Melanie Holztrattner: Rezension von: Birnbacher, Leonhard / Durand, Judith / Költsch, Anke / Mielke, Patrick / Spielhaus, Riem / Stadler, Katharina: Bildung und Demokratie, Empirische Perspektiven auf Kita und Schule. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2023. In: EWR 23 (2024), Nr. 4 (Veröffentlicht am 12.11.2024), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997296.html