EWR 22 (2023), Nr. 1 (Januar)

Eva Maria Waibel
Haltung gibt Halt
Mehr Gelassenheit in der Erziehung
Weinheim: Beltz Juventa 2022
(231 S.; ISBN 978-3-7799-7018-7; 29,95 EUR)
Haltung gibt Halt Kein Rezeptbuch nach dem Motto „Was mache ich, wenn...?“ dürfen Lesende erwarten, wenn sie den 2022 erschienenen Band „Haltung gibt Halt“ von Eva Maria Waibel zur Hand nehmen. Vielmehr handelt es sich um eine „Sehschule“ (107), die Erziehende anregt, die Wahrnehmung für die eigene Person und für die Person der ihnen Anvertrauten zu schärfen. Ziel der Erziehung sei es schließlich, „jedes einzelne Kind darin zu begleiten, seine eigene Persönlichkeit zu entwickeln und ein Leben in innerer Zustimmung zu führen“ (7). Für diese Aufgabe lassen sich keine allgemeingültigen Regeln formulieren. Die Grundthese der erfahrenen Pädagogin lautet: Unsere Haltung als Erzieher:innen gibt anderen Halt. Diese Haltung ergibt sich nicht von selbst, sie erfordert Übung und Achtsamkeit sich selbst gegenüber. Um sich über ihre Werte, Glaubenssätze und Emotionen klarzuwerden, sind Erziehende zu intensiver Selbstreflexion angehalten, für die die Autorin zahlreiche Anregungen bietet.

In 14 analog strukturierten Kapiteln stellt Waibel Wegweisungen für die „Abenteuerreise Erziehung“ (43) vor. Jedes Kapitel beginnt mit einer kurzen Einführung und einem Ausblick auf den Inhalt und schließt mit einem Resümee, das Fragen zum Nachdenken, Gelingensbedingungen und „Wege in die Sackgasse“ sowie eine kurze Zusammenfassung enthält, sodass sich Lesende rasch einen Überblick verschaffen können. Grafiken unterstreichen und veranschaulichen die Ausführungen.

Der 231 Seiten starke Band erhebt nicht den Anspruch, eine wissenschaftliche Abhandlung zu sein, Waibel verzichtet daher weitgehend auf Quellenverweise. Das Buch basiert auf ihren Erfahrungen als Mutter, Großmutter, Grund- und Mittelschullehrerin, als Autorin und Dozentin für Pädagogik und existenzanalytische Psychotherapeutin. Die Autorin verweist auf frühere Publikationen [1, 2, 3], in denen sie den Ansatz der Existenzanalyse und Logotherapie, der von Viktor Frankl und Alfred Längle entwickelt wurde, auf die Pädagogik überträgt.

Das Menschenbild der Existenzanalyse, das in der Person den Zugang und zentralen Anker für die Erziehung erkennt, ist auch dem aktuellen Band grundgelegt. Ziel sei es, aus dieser Person heraus das Kind in seiner Person anzusprechen und „sein Potenzial zum Leuchten zu bringen“ (28). Wesentliches Mittel dazu ist die Frage, der ein eigenes Kapitel gewidmet ist: „Wer bist du? Wer willst du sein? Worin ist deine Person spürbar?“ (28). Um Zugang zur Person eines Kindes zu finden, gilt es, genau „hinzuschauen, hinzuhören und hinzuspüren“ (33). Der Blick, der die Potenzialität des Anderen sieht, muss geübt werden, um eine Haltung auszubilden, die dem Kind Raum gibt, es atmen lässt, „es selbst sein lässt“ (105).

„Was braucht dieses Kind jetzt von mir?“ (40), lautet die Frage, die sich Erziehende, die Kindern in einer „Antworthaltung“ (162) begegnen, immer wieder stellen sollten. Mit dieser Frage ist dreierlei angesprochen: das Kind, die Situation und die Person der Erziehenden, die als „Erziehungsinstrument“ (46) verstanden wird. Indem Erziehende sich fragen, was bei ihnen selbst anklingt, was sie berührt, finden sie Zugang zum Kind. Der Einsatz aller Sinne ist nötig, damit der „Blick hinter die Kulissen“ (102) und ein ganzheitliches Verstehen der anderen Person möglich werden. Angestrebt wird ein absichtsloses Wahrnehmen, das Vormeinungen beiseitestellt, das nichts erreichen will. „Erziehen ist verstehen“ (106): Das erfordert nicht nur die Bereitschaft, das Kind in seinen personalen Werten anzuerkennen, es ganz ernst zu nehmen, sondern auch die Bereitschaft der Erziehenden, sich selbst zu verändern und aktiv zu werden.

Erziehung hat nichts mit „ziehen“ zu tun, sondern bedeutet, so Waibel, das Kind zu ermutigen, seinem eigenen Weg zu folgen, seinen Willen zu stärken und es beim „Selbstwerden in Freiheit“ (123) zu unterstützen. Als „Landkarte“ (70) für Entwicklung und Erziehung dient das von Längle entwickelte Strukturmodell der vier Lebensthemen, die mit „meine Welt“, „mein Leben“, „mein Selbst“ und „mein Sinn“ [4] umrissen werden können. In diesen und in der Erfüllung der ihnen zugeordneten Grundmotivationen sind die Bedingungen für ein erfülltes Leben zu finden (71).

Ein Buch, das Erziehungsfragen behandelt, kommt um das Thema Regeln und Grenzen kaum herum. Die Empfehlung der Autorin lautet, so wenige Grenzen wie nötig zu setzen, dies aber bestimmt zu tun und zu begründen (138) und Grenzen im Dialog mit den Kindern und Jugendlichen auszuhandeln. Während Grenzen eine Orientierungshilfe sein sollen, auf Werten der Erziehenden beruhen und die Freiheit und Verantwortung des Kindes wie der Erwachsenen in den Blick nehmen, zielen Verbote auf Anpassung an allgemeine Normen und seien daher apersonal; sie fordern laut Waibel geradezu zur Übertretung heraus (141). Ein personaler und werteorientierter Ansatz kann auch helfen, „pädagogische Stolperfallen“ (146), wie Verwöhnung, Verwahrlosung, autoritärer oder Lasser-faire-Erziehung zu vermeiden, denen die Autorin ein eigenes Kapitel widmet.

Was tun, wenn Kinder und Jugendliche aber nun problematisches oder herausforderndes Verhalten zeigen? Waibel schlägt vor, das Kind für eine Verhaltensänderung zu gewinnen, seine innere Zustimmung dafür zu erreichen. Fast immer stehe hinter ausweichendem Verhalten ein unkontrollierbares Gefühlschaos, in dem Kinder sich gefangen, bedroht und überfordert fühlen (169). Insbesondere Scham bzw. Beschämung sei dazu angetan, die Psychodynamik in Schwung zu bringen und Verhalten zu blockieren. Erziehende können in solchen Situationen helfen, indem sie – Verhalten und Person unterscheidend – sich der Person des Kindes zuwenden und versuchen, seine Gefühle zu entschlüsseln. Ausgehend von der Klärung eigener Gefühle und dem Erkunden der Botschaft, die durch das Verhalten des Kindes bei Erziehenden ankommt, gilt es, nach den Gefühlen des Kindes zu fragen und zur Stellungnahme herauszufordern. Entscheidend ist es, Motive und Werte, die geschützt werden wollen, zu verstehen, um das Kind schließlich anzuregen, Lösungswege und evtl. eine Wiedergutmachung zu überlegen.

Als wenig hilfreich stuft die Autorin Erziehungsmittel ein: Strafe, Lob, Tadel und Belohnung seien von der Idee der Machbarkeit getragen und untergraben die Beziehung zum Kind. Strafen könnten zu einem Teufelskreis führen, aber auch in „logischen Konsequenzen“ (205) sieht Waibel keine sinnvolle Alternative, sofern die innere Zustimmung fehlt.

Im abschließenden Kapitel kommt die Pädagogin auf ein Herzstück der Existenzanalyse zu sprechen: das Konzept der personalen Werte. Zwei Zugänge unterscheidet Waibel in der Werteerziehung: Während es beim einen darum gehe, Kindern allgemeine Werte zu vermitteln, z.B. gemeinschaftsverträgliches Verhalten, erfordere der zweite Weg, die personalen Werte der Kinder zu entdecken und zu fördern. Personale Werte werden von Personen gefühlt, berühren im Innersten und bringen Glanz und Sinn in unser Leben (212). Signale für solche Werte können Lieblingsbeschäftigungen sein, das, was Freude macht, anzieht, Resonanz auslöst. Auch, was Kinder wütend und aggressiv macht, könne ein Hinweis auf zu verteidigende Werte sein. Entscheidend sei es, Werte von Wünschen zu unterscheiden. Ein Wunsch erwächst aus einem Bedürfnis, erzeugt eher eine passive Haltung, während Werte zum Handeln animieren.

Wenn Unabhängigkeit, Selbstbestimmung, Eigenständigkeit und Selbstgestaltungsfähigkeit einmal mehr als Erziehungsideale propagiert werden (164), geraten gesellschaftliche Strukturen, die menschliches Leben prägen und Lebenswege (mit-)bestimmen, allzu leicht aus dem Blick. Dass menschlicher Selbstbestimmung Grenzen gesetzt sind, hat schon Georg Büchner in seinem Woyzeck eindrucksvoll vorgeführt; die Einsprüche gegen ein einseitig autonomes Subjekt sind inzwischen zahlreich und unüberhörbar.

Die Annahme, dass alles Wesentliche in Kindern und Jugendlichen bereits angelegt ist und nur darauf wartet, entdeckt und entfaltet zu werden, kann zumindest befragt werden. Insbesondere in unserer Leiblichkeit sind wir von Anfang an in Welt und Andere eingebunden und antworten auf deren Ansprüche. Ungeachtet dieser kritischen Anfragen lautet das Resümee: „Lesenswert!“ Der Band „Haltung gibt Halt“ von Eva Maria Waibel bietet nicht nur praktische Leitlinien, um für die „Abenteuerreise Erziehung“ (43) gerüstet zu sein, sondern hält darüber hinaus wertvolle Anregungen bereit, um in Beziehungen aller Art klarer zu sehen; nicht zuletzt in jener mit dem Selbst, das uns gelegentlich Rätsel aufgibt.

[1] Waibel, E. M. (2017). Erziehung zum Sinn – Sinn der Erziehung. Grundlagen einer Existenziellen Pädagogik. Beltz Juventa.
[2] Waibel, E. M., (Hrsg.) (2020). Wertschätzung wirkt Wunder. Perspektiven Existenzieller Pädagogik. Belt Juventa.
[3] Waibel, E. M. & Wurzrainer, A. (2016). Motivierte Kinder – authentische Lehrpersonen. Einblicke in den Existenziellen Unterricht. Beltz Juventa.
[4] Längle, A. (2016). Existenzanalyse. Existentielle Zugänge der Psychotherapie. Facultas.
Gabriele Rathgeb (Innsbruck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Gabriele Rathgeb: Rezension von: Waibel, Eva Maria: Haltung gibt Halt. Mehr Gelassenheit in der Erziehung. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 1 (Veröffentlicht am 26.01.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377997018.html