Innerhalb des breiten Forschungsfeldes politischer Sozialisation werden Fragen der individuellen Politisierung ebenso behandelt wie solche nach dem VerhĂ€ltnis von Individuum und (politischer) Gesellschaft. Allzu hĂ€ufig rekurrieren einschlĂ€gige Studien dabei auf die Notwendigkeit einer Tradierung der politischen Ordnung und sog. âBĂŒrgerorientierungenâ [1]. Im Band des Hamburger Professors fĂŒr Erziehungswissenschaft Arnd-Michael Nohl wird eine ForschungslĂŒcke dieser Subdisziplin der Soziologie behandelt, die, so Nohl, mit ihrem bestehenden Theoriebesteck nicht in der Lage ist, politische Sozialisation jenseits der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie zu denken. Um diese LĂŒcke zumindest anfĂ€nglich zu schlieĂen, arbeitet sich Nohl mit dem Instrumentenkasten rekonstruktiver Sozialforschung durch eine Reihe von SekundĂ€ranalysen narrativer Interviews und Gruppendiskussionen mit AnhĂ€nger*innen linker und rechter Protestgruppen in Deutschland sowie AnhĂ€nger:innen der AKP in der TĂŒrkei und der Tea Party-Bewegung in den USA. Im Falle der linksalternativen Aktivist:innen greift der Autor dabei auf Material seiner Mitarbeiterin Sarah Thomsen [2] zurĂŒck, beim restlichen Datenmaterial handelt es sich um Zweitverwertungen einiger bereits erschienener Studien internationaler Forscher:innen. Das Interviewmaterial wird von Nohl anhand der Dokumentarischen Methode neu ausgewertet.
Mit dem Ziel, eine ânicht-staatsaffirmative Theorie politischer Sozialisation zu entwickelnâ (13) beginnt Nohl (Kapitel 2) mit einer theoretischen Herleitung des Sozialisationsbegriffs ĂŒber G.H. Mead und K. Mannheim und konstatiert, dass aus den in Kindheit und Jugend erlernten Herangehensweisen an Fragen des Politischen ein je spezifischer Habitus erwĂ€chst, der fĂŒr die politische Weltanschauung und Rollenorientierungen im Erwachsenenleben prĂ€gend ist. Als âpolitischâ werden (Kapitel 3) in Anlehnung an A. Nassehis Definition [3] âall jene Komponenten von Sozialisation verstanden [âŠ], bei denen Interaktionen, konjunktive ErfahrungsrĂ€ume und Rollenorientierungen einen Bezug zu ein Kollektiv bindenden, durch Macht durchsetzbaren Entscheidungen habenâ (47). DemgegenĂŒber erscheint es als unpolitisch, die symbolische Ordnung der Gesellschaft als statisch hinzunehmen bzw. als protopolitisch, wenn Entscheidungen nicht ĂŒber die jeweilige peer group hinausgehen. Die in den Kapiteln 4 bis 7 untersuchten Aktivist:innen bzw. ParteianhĂ€nger:innen werden nun in ihrer politischen Weltanschauung unterschieden, welche wiederum danach definiert ist, inwiefern diese Menschen gröĂere oder kleinere Teile der symbolischen Ordnung als politisierbar wahrnehmen. Ihnen wird auĂerdem eine je spezifische politische Rollenorientierung zugeschrieben, die auf der Habituierung dessen beruht, was Nohl als âpolitisches Könnenâ (75) bezeichnet und das auf ein kontingentes SelbstverstĂ€ndnis als politische Akteur:in verweist.
Beginnend mit der Analyse dreier Interviewtranskripte von Forschungssubjekten aus linksalternativen Protestmilieus (Kapitel 4) zeichnet Nohl bei zweien von ihnen einen transformativen Bildungsprozess nach, unter dem er die âeigenstĂ€ndige Transformation von Lebensorientierungenâ (82) versteht. Davon abzugrenzen ist der fĂŒr den Autor zentrale Begriff der âSozialisation als dem unauffĂ€lligen, seitens der Akteure selbst nahezu unbemerkten Entfalten von Orientierungenâ (ebd.). Aus den Interviews mit einem Friedensaktivisten der sog. â68er-Bewegungâ und einer Anti-Atom- und Frauenrechtsaktivistin rekonstruiert Nohl eine stark ausgebildete FĂ€higkeit zur Ăbernahme pluraler Perspektiven in linken Protestmilieus, was ihren AnhĂ€nger:innen Bildung in Form einer Habitustransformation ermögliche. Gleichsam zeigt er anhand eines Greenpeace-Aktivisten, dass ein solcher Bildungsprozess kein notwendiger Bestandteil linkspolitischen Engagements ist. Die politischen Orientierungen der drei Genannten fĂŒhren zu einer Definition âauĂerinstitutionelle[r] politische[r] Handlungsorientierungenâ (140), die Nohl âauf die habituierte Art und Weise, eine kollektiv bindende Entscheidung herbeizufĂŒhrenâ (ebd.) bezieht, âohne aber auf politische Rollen und Institutionen zurĂŒckzugreifenâ (ebd.).
In Kapitel 5 wendet sich Nohl einer Theorie des Populismus zu, wobei er diesen als âAusdrucksmittel eines Habitus in der AbwĂ€rtsspiraleâ (148) begreift: In eindrĂŒcklicher Weise kommt Nohl zu dem Befund, dass Populist:innen ein âallenfalls ausgehöhltes VerstĂ€ndnis der reprĂ€sentativen Demokratieâ (157) zugeschrieben werden muss, was sich in einer âEntgegensetzung von Elite und einem als homogen gedachten Volk, Antipluralismus und [der] Untergrabung der Gewaltenteilungâ (ebd.) niederschlĂ€gt. Nohl greift hier auf Befunde aus âDie Gesellschaft des Zornsâ der DarmstĂ€dter Soziologin Cornelia Koppetsch zurĂŒck. Deren Problematik hinsichtlich der bereits zum Erscheinen des hier rezensierten Werkes belegten PlagiatsvorwĂŒrfe rĂ€umt Nohl ein, begrĂŒndet die Verweise auf Koppetsch jedoch mit âder OriginalitĂ€t des ihr unterliegenden Ansatzesâ (149). Er bezieht sich hier insbesondere auf Koppetschs These einer linksliberalen Diskurshegemonie, nach der konservative und rechte Artikulationen aus dem Diskurs ausgeschlossen werden und auf diesen Ausschluss mit populistischem Protest reagieren. Die Problematik dieser These hat F. Biskamp an anderer Stelle herausgearbeitet [4], wichtig ist hier, dass Nohl von Koppetsch den Begriff der âRe-SouverĂ€nisierungâ (151) als ErklĂ€rungsmuster fĂŒr rechtspopulistischen Protest ĂŒbernimmt. Ăber linkspopulistische Varianten â das betont Nohl in einer FuĂnote (162) selbst â wird an dieser Stelle leider nicht gesprochen.
Vor diesem Hintergrund erfolgt zunĂ€chst (Kapitel 6) eine gemeinsame Analyse von AKP- und Tea Party-AnhĂ€nger:innen. Hierzu rezipiert Nohl verschiedene bereits im englischen [5] und tĂŒrkischen [6] erschienene Studien. Den Tea Party AnhĂ€nger:innen attestiert er eine unbewegliche, an der amerikanischen Verfassung orientierte Rollenorientierung, nach der jegliche Ănderung der tradierten symbolischen Ordnung als falsch erscheint. Als vorwiegend der lĂ€ndlichen Bevölkerung zuzurechnende WĂ€hler:innen unterstĂŒtzen sie populistische Oppositionelle, die ihnen einen schlanken Staat versprechen, der aufhört, die stĂ€dtischen Eliten zu bevorzugen. Dem gegenĂŒber positioniert Nohl AnhĂ€nger:innen der tĂŒrkischen Regierungspartei AKP. Anders als im Falle der Tea Party wird das Politische hier nicht zurĂŒckgedrĂ€ngt; stattdessen kommt es aufgrund des extrem hohen parteipolitischen Engagements der AKP-AnhĂ€nger:innen zu einer âEinebnung der Grenze zwischen Politik und alltĂ€glicher LebensfĂŒhrungâ (193), wodurch das Politische hier einen âausufernden Charakterâ (203) erhĂ€lt. AKP- wie Tea Party-AnhĂ€nger:innen erscheinen so als populistisch, da sie einen einheitlichen Volkswillen gegen eine elitĂ€re Minderheit behaupten. Da sie sich zu dessen Durchsetzung der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie bedienen, handelt es sich in beiden FĂ€llen um einen innerinstitutionellen Populismus. Gemein ist ihnen auĂerdem die UnfĂ€higkeit zur Ăbernahme ihnen fremder politischer Perspektiven.
Um rechtspopulistischen Protest in Deutschland zu untersuchen rezipiert Nohl eine Studie von Geiges et al. [7], deren Rohdatenmaterial er neu analysiert. Diese Protestform erscheint Nohl als âSelbstverstĂ€ndlichkeitsaufbrecherâ (218): hier findet eine radikale Politisierung nicht inner- oder auĂerhalb der, sondern gegen die Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie statt. Die interviewten âPegidaâ-Aktivist:innen unterstellen âden Politiker:innenâ eine grundlegende UnfĂ€higkeit, aus vermeintlich objektiven Informationen die korrekten SchlĂŒsse zu ziehen. Hier kommt Nohl zu dem Schluss, dass den âPegidaâ-Aktivist:innen eine Ăbernahme anderer politischer Perspektiven somit nicht möglich ist: es gehört zu ihrer politischen Rollenorientierung, dass es grundsĂ€tzlich nur eine â und zwar ihre â korrekte Perspektive auf Wahrheit gibt. Nohl fĂŒhrt diese UnfĂ€higkeit auf die Sozialisation der Aktivist:innen in der ehemaligen DDR zurĂŒck, wonach diese zu einer Idealisierung des reprĂ€sentativ-demokratischen Systems gefĂŒhrt hat, die nun enttĂ€uscht wird. Hier bleibt jedoch offen, wie sich damit Ă€hnliche Protestgruppen auf dem Gebiet der sog. âaltenâ BundeslĂ€nder erklĂ€ren lassen.
AbschlieĂend fasst Nohl die von ihm forcierte Erweiterung der Theorie politischer Sozialisation damit zusammen, dass er den âPegidaâ-Aktivist:innen mit Koppetsch eine âpolitische Re-SouverĂ€nisierungâ (251) zuschreibt, die sich in einer ErschĂŒtterung der vermeintlich kosmopolitischen Hegemonie niederschlĂ€gt. Ebenso wie bei den AnhĂ€nger:innen der AKP und der Tea Party-Bewegung erscheint ihnen der jeweilige politische Gegner als âFeind, der nur (und sei es durch Wahlen) bekĂ€mpft, mit dem aber kein Kompromiss geschlossen werden kannâ (254), wobei die beiden letzteren ihren Protest innerhalb der politischen Institutionen artikulieren. Ebenso auĂerhalb, aber nicht gegen, sondern lediglich jenseits der Institutionen ist der Protest der linkspolitischen Aktivist:innen angesiedelt. Nohl schlieĂt damit, dass sich linksalternativer Protest dadurch von Populismus abgrenzt, dass er plurale Perspektiven einschlieĂt. Dies ist auf eine politische Rollenorientierung zurĂŒckzufĂŒhren, bei der bereits im Elternhaus produktiver Streit gelernt wurde. Dieser eher der Adoleszenz zuzuschreibende Protest grenzt sich dann auch dadurch von Populismus ab, dass letzterer eher auf EnttĂ€uschungserfahrungen im Erwachsenenalter zurĂŒckgefĂŒhrt werden kann.
In sehr leserlicher Weise gelingt es Nohl, plurale politische Spielarten des PhĂ€nomens Populismus in einer international angelegten Studie zu bĂŒndeln. Der Erkenntnisgewinn hinsichtlich einer Erweiterung des Begriffs der politischen Sozialisation um nicht-staatsaffirmative Sozialisationsformen ist gegeben, obgleich Nohl selbst betont, dass die empirischen Daten auf einer ânur bedingt gegebenen Vergleichbarkeitâ (259) beruhen. Sie sind jedoch imstande, den gegenwĂ€rtigen Diskurs um politische Sozialisation im besten Sinne ânachhaltig zu irritierenâ (ebd.). Das Buch kann damit allen einschlĂ€gig interessierten Leser:innen empfohlen werden, die sich fĂŒr eine Theorie politischer Sozialisation jenseits der Institutionen der reprĂ€sentativen Demokratie interessieren.
[1] SoĂdorf, A. (2021). Politische Sozialisation. In Andersen, U., Bogumil, J., Marschall, S., Woyke, W. (Hrsg.), Handwörterbuch des politischen Systems der Bundesrepublik Deutschland (S. 755â759). Springer.
[2] Thomsen, S. (2019). Biographische Bildungsprozesse im Kontext sozialer Protestbewegungen â Empirische Typisierungen und normativitĂ€ts- und bildungstheoretische Reflexionen. Springer VS.
[3] Nassehi, A. (2003). Der Begriff des Politischen und die doppelte NormativitĂ€t der âsoziologischenâ Moderne. In Ders., M. Schroer (Hrsg.), Der Begriff des Politischen. Soziale Welt Sonderband (S. 133â169). Nomos.
[4] Biskamp, F. (2019). Hegemonie? Welche Hegemonie? Teil IV einer Kritik an Cornelia Koppetschs Gesellschaft des Zorns. SozBlog https://blog.soziologie.de/2019/08/hegemonie-welche-hegemonie-teil-iv-einer-kritik-an-cornelia-koppetschs-gesellschaft-des-zorns/
[5] Kumkar, N.C. (2018). The Tea Party, Occupy Wall Street, and the Great Recession. Palgrave Macmillan; Hochschild., A.R. (2016). Strangers in their own Land. Anger and Mourning on the American Right. The New Press.; Cramer, K.J. (2016). The Politics of Resentment. Rural Consciousness in Wisconsin and the Rise of Scott Walker. University of Chicago Press.
[6] DoÄan, S. (2017). Mahalledeki AKP. Parti Ä°ĆleyiĆi, Taban Mobilizasyonu ve Siyasal YabancılaĆma. Istanbul: iletiĆim.; Ăzet, Ä°. (2019). Fatih-BaĆakĆehir. MuhafazakĂąr Mahallede Ä°ktidar ve DönĂŒĆen Habitus. iletiĆim.; AkçaoÄlu, A. (2019). Zarif ve Dinen MakbĂ»l. Muhafazakar Ăst-Orta Sınıf Habitusu. iletiĆim.
[7] Geiges, L., Marg, S., Walter, F. (2015). Pegida â Die schmutzige Seite der Zivilgesellschaft? transcript.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
Politische Sozialisation, Protest und Populismus
Weinheim: Beltz Juventa 2022
(276 S.; ISBN 978-3-7799-6997-6; 24,95 EUR)
Daniel Lieb (Jena)
Zur Zitierweise der Rezension:
Daniel Lieb: Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996997.html
Daniel Lieb: Rezension von: Nohl, Arnd-Michael: Politische Sozialisation, Protest und Populismus. Weinheim: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996997.html