Der vorliegende Band gibt eine „Einleitung in das pädagogische Vokabular“ (7) und versammelt mehr als fünfzig Beiträge verschiedener Autor:innen zu „in der Erziehungswissenschaft etablierten oder neuerdings diskutierten“ (11) Begriffen. Eine bedeutende Neuerung gegenüber anderen Sammlungen erziehungswissenschaftlicher Begriffe besteht in der Hervorhebung der Wandelbarkeit der Begriffe. Während gängige Einführungen und Wörterbücher meist einen sedimentierten Bestand an Begriffen einfangen, ist das begriffliche Spektrum im vorliegenden Band vielseitiger aufgefächert. Dabei werden einerseits Begriffe wie „Kanon“ aus der pädagogischen Mottenkiste geholt (und sogleich wieder zurückgelegt), andererseits eine ganze Reihe neuer Begriffe aufgenommen und diskutiert, so beispielsweise „Digitalisierung“, „Kulturelle Aneignung“, „Privileg“, „Scheitern“ und „Verletzbarkeit“. Dazwischen finden sich ebenso einige der in einer Sammlung von Schlüsselbegriffen vertrauten Termini wie „Bildung“ und „Erziehung“ oder auch „Kritik“, „Methoden“ und „Theorie“.
Ungeachtet der begrifflichen Vielfalt als solcher hat das Projekt einige Tücken, die die Herausgeber:innen allerdings bewusst adressieren. Sie betonen selbst die Öffnung der Erziehungswissenschaft in sozial- und kulturwissenschaftlicher Richtung und weisen explizit darauf hin, keinen „Gestus der Neutralität“ (12) zu verfolgen. Auch wenn sich mit der vorgelegten Sammlung von Begriffen folglich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhebt, stellt sich trotzdem die Frage nach ihrer systematischen Form. Zumindest auf den ersten Blick wird abseits des Hinweises auf die Diskussionen im universitären Kontext keine Heuristik erkennbar, die die Auswahl der Begriffe inhaltlich legitimieren würde. Auf den zweiten Blick deutet sich eine Antwort an, nämlich wenn die Herausgeber:innen in der Einleitung mit Habermas einen Gedankengang skizzieren, der selbst als Schlüssel für den Band unverzichtbar ist. Mit dem Hinweis auf den Zusammenhang von begrifflicher Semantik und Herrschaftsverhältnissen, von gesellschaftlichen Narrativen, Definitionshoheiten und veränderbaren sowie möglichen (begrifflichen) Ordnungen, wird klar, in welche Richtung die vorliegende Sammlung erziehungswissenschaftlicher Begriffe orientiert ist. Sie lässt sich demnach keinesfalls als Systematik begreifen, wie es etwa Grundbegriffe beanspruchen würden. Insofern ist es wichtig, hier von Schlüsselbegriffen zu sprechen und ihren aufschließenden Charakter durchaus wörtlich zu nehmen: Bestimmte Begriffe des Bandes mögen zwar keine genuin erziehungswissenschaftlichen Begriffe sein (und auch nicht werden), sie können aber durchaus als Zugang zu pädagogischen Handlungsfeldern dienen.
Auch die im Durchgang durch die einzelnen Beiträge zuweilen aufblitzende Irritation nehmen die Herausgeber:innen achtsam vorweg. Die Beiträge sind in ihrer Programmatik sehr verschieden: Von etymologisch, historisch und disziplinär aufgebauten Begriffsdiskussionen, über historisch-systematische Zugänge, argumentative Darstellungen bis hin zu essayistisch formierten Positionierungen ist alles anzutreffen. Diese stilistische Unentschiedenheit macht es zuweilen schwer, den Einstieg zu finden und die Beiträge für sich zu sortieren. Mit Blick auf den aufschließenden Charakter für die Erziehungswissenschaft als Disziplin steht die „persönliche Handschrift der Autor*innen“ (12) dem begrifflichen Erkenntnisinteresse ein wenig entgegen. Für die systematische Orientierung im Fach ist das nicht hilfreich, für die inhaltliche Anregung und Impulsgebung mag es vorteilhaft sein.
„Im Begriff, sich zu verändern“ (7) überschreiben die Herausgeber:innen ihr Projekt. Sie lassen sich damit auf ein Experiment ein, das gerade die zwei genannten Kritikpunkte – die unklare systematische Form insgesamt und die uneinheitliche Darstellung im Einzelnen – aufnimmt. Sie begründen diese Herangehensweise mit dem Verweisungszusammenhang von Sprache und Erziehungswirklichkeit, oder in ihren Worten: „Verändert sich das Vokabular – etwa im Bereich der Wissenschaft, der Kultur und der Politik –, geht dies zumeist mit einer Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse einher.“ (10) Sie konstatieren ferner, dass die Erziehungswissenschaft „mitnichten das neutrale Gegenüber dieser hegemonialen Kämpfe“ (10) ist. Aus dieser Perspektive wird deutlich, dass gerade die vielstimmig geführte Auseinandersetzung um Begriffe, seien es etablierte oder neu hinzukommende, intendiert ist.
Vor dem Hintergrund dessen, dass mit dem Band auch eine Einleitung angekündigt ist, die „bei der Vorbereitung von Referaten und dem Schreiben von Texten“ (12) unterstützen soll, wäre jedoch eine stärkere Trennung von begrifflichem Instrumentarium, dem Überblick über den wissenschaftlichen Diskurs oder das pädagogische Handlungsfeld sowie der eigenständigen Positionierung hilfreich. Insofern erziehungswissenschaftliche Begriffe dazu dienen, Phänomene der Erziehungswirklichkeit zu erfassen und voneinander zu unterscheiden [1] und sie zugleich umgekehrt unsere Vorstellungen bündeln [2], wäre womöglich gerade die konzise Beschreibung und Unterscheidung der begrifflichen wie der sozialen Dimension, wie sie etwa bei Koselleck in der Differenz von Sozial- und Begriffsgeschichte gegeben ist [3], aufschlussreich.
Wodurch der Band in jedem Fall heraussticht, ist eine hohe, auch herausfordernde Anschlussfähigkeit und die glaubwürdige Aufforderung zum Mitdenken. Frei von akademischem Hierarchiegefüge und ohne prätentiös zu sein eröffnen die einzelnen Beiträge interessante, manchmal kontroverse und stets zeitgemäße Einsichten. Für Leser:innen spiegelt sich darin die interdisziplinäre Gestalt der Erziehungswissenschaft, die ohne ihre begrifflichen und thematischen Referenzen zu anderen Disziplinen deutlich ärmer wäre. Begriffe aus verwandten Kontexten in diesem Band aufzunehmen ist daher etwas, was der Selbstverständigung innerhalb der Disziplin zugutekommt und sie sowohl im Kern ihrer wissenschaftlichen Arbeit als auch mit Blick auf ihre gesellschaftliche Verantwortung stärkt. Die in dieser „Erweiterung des pädagogischen Vokabulars“ (266) liegende Öffnung ist zugleich als ein Aushalten der Uneindeutigkeit zu begreifen. Als „Arbeitsbuch“ (13) für ein Denken in Bewegung ist der in Tübingen initiierte Band zweifellos zu empfehlen.
[1] Koller, H.-C. (2017). Grundbegriffe, Theorien und Methoden der Erziehungswissenschaft. Eine EinfĂĽhrung. 8. Aufl., Kohlhammer.
[2] Dörpinghaus, A. & Uphoff, I. K. (2011). Grundbegriffe der Pädagogik. WBG.
[3] Koselleck, R. (2010). Begriffsgeschichten. Studien zur Semantik und Pragmatik der politischen und sozialen Sprache. Suhrkamp.
EWR 22 (2023), Nr. 3 (Juli)
SchlĂĽsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft
Pädagogisches Vokabular in Bewegung
Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022
(471 S.; ISBN 978-3-7799-6819-1; 24,95 EUR)
Christoph Röseler (Würzburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Christoph Röseler: Rezension von: Feldmann, Milena / Rieger-Ladich, Markus / VoĂź, Carlotta / Wortmann, Kai (Hg.): SchlĂĽsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Pädagogisches Vokabular in Bewegung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996819.html
Christoph Röseler: Rezension von: Feldmann, Milena / Rieger-Ladich, Markus / VoĂź, Carlotta / Wortmann, Kai (Hg.): SchlĂĽsselbegriffe der Allgemeinen Erziehungswissenschaft, Pädagogisches Vokabular in Bewegung. Weinheim, Basel: Beltz Juventa 2022. In: EWR 22 (2023), Nr. 3 (Veröffentlicht am 19.07.2023), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996819.html