EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Anke Wischmann/ Susanne Spieker/ David Salomon/ Jürgen-Matthias Springer (Hrsg.)
Jahrbuch für Pädagogik 2020
Neue Arbeitsverhältnisse – Neue Bildung
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022
(329 S.; ISBN 978-3-7799-6815-3; 49,95 EUR)
Jahrbuch für Pädagogik 2020 Die gegenwärtige Phase, in der sich postfordistische Gesellschaften transformieren, erscheint permanent von Krisen gezeichnet, gleich ob diese im Rahmen von wohlfahrtsstaatlichen Rückbauaktionen, Globalisierungseffekten, Digitalisierungsstrategien, von Pandemien oder Kriegen thematisch werden. Mit solchen makrostrukturellen Phänomenen und Veränderungsdynamiken korrespondiert – so der Ausgangspunkt des Bandes – ein grundsätzlicher Wandel im Kontext der Reproduktion kapitalistischer Verhältnisse, der zu weiträumigen Umbrüchen und Kommodifizierungen des Bildungswesens beitragen hat. Nicht nur verändern sich Anforderungen und Prozesse innerhalb dieser Arbeits-, Ausbildungs- und Bildungswelten, sondern auch das je subjektive Verhältnis von Arbeit und Bildung wird in spezifischer Weise durch ökonomische Imperative vereinnahmt. Das vorliegende Jahrbuch für Pädagogik widmet sich diesen Zusammenhängen gleich in mehrfacher Hinsicht, indem historische Perspektiven, aktuelle Entwicklungstrends sowie Konsequenzen für Arbeitsverhältnisse und Bildungsprozesse aufeinander bezogen und für unterschiedliche Bereiche ausgelotet werden.

Den Auftakt bilden die Beiträge von Luana Salvarani und Susanne Spieker. Sie kontextualisieren den historischen Zusammenhang von Bildung und Arbeit, wie es bereits bei Martin Luther im Sinne einer protestantischen Ethik oder bei John Locke über eine allgemeine Fortschrittsgläubigkeit angelegt ist. Das emanzipatorische Potenzial, dass sich daraus ergibt, zeichnet Sabine Toppe anhand der „Entwicklung von Frauenarbeit und Frauen(aus)bildung im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts“ (51) nach. Ein entgegengesetztes Beispiel für die historische Verflechtung von Bildungs- und Arbeitsverhältnissen bietet der Bildungshistoriker Angelo Van Gorp anhand der Aufstiegs- und Verfallsgeschichte der US-amerikanischen Stahlstadt Gary im 20. Jahrhundert. Im Zentrum der Rekonstruktion steht der Niedergang am Gemeinschaftsleben orientierter Modellschulen, die im sogenannten „Gary-Plan“ (92) Anfang des 20. Jahrhunderts für das öffentliche Bildungssystem in den USA Vorbildfunktion hatten. Der Autor begibt sich auf Spurensuche, arbeitet dabei assoziativ und hält zugleich ein Plädoyer, demokratisches Lernen am historischen Beispiel nicht zu vergessen. Der Beitrag von Wolfgang Keim, dem dieser Band anlässlich seines achtzigsten Geburtstags gewidmet ist, erinnert an Herwig Blankertz‘ Versuchsmodell einer integrierten Kollegstufe in NRW (1972-1997) aus beruflichem Schulwesen und Sekundarstufe II. Das Vorhaben einer integrierten Gesamtschule war seinerzeit dazu gedacht, die sozial segregierende Wirkung des Gymnasiums aufzuheben und den über Humboldt abgeleiteten Gegensatz von allgemeiner und beruflicher Bildung miteinander zu versöhnen. Auch wenn dieser Reformversuch in der Fläche gescheitert ist, illustriert Keim wie auch schon Van Gorp, dass für die „Krisen des bestehenden Schulsystems“ (88) aus solchen Schulmodellen und -versuchen eine Fülle von Anregungen und Erfahrungen für künftige Reformen entnommen werden können.

Der zweite Abschnitt fokussiert Gegenwartsanalysen und Entwicklungstrends neuer Arbeits-, Lern- und (Weiter-)Bildungsverhältnisse. Hans-Jürgen Urban wirft einen Blick auf Digitalisierungsprozesse im Bereich der Weiterbildung und betrieblichen Beschäftigung. Als Beispiel dient ihm dafür das Crowdworking, an dem die „Rationalisierungsstrategie“ (105) einer Industrie 4.0 illustriert wird. Roland Atzmüller richtet einen sozialwissenschaftlichen Blick auf das Verhältnis von wohlfahrtstaatlichem Krisenmanagement und der Bedeutung subjektivierter Arbeit. Er betont hieran „die auf umfassende Lernprozesse ausgerichtete Selbstführung“ (133) sozialpolitischer Maßnahmen. Wie sich das neoliberale Paradigma einer subjektivierten Arbeitskraft umdenken ließe, skizziert Norbert Bernholt. Mittels Überlegungen einer solidarischen Ökonomie geht es ihm darum, Arbeit „als jede zielgerichtete Tätigkeit im Sinne der Gesellschaft“ (145) zu begreifen. Dies schaffe nicht nur neue Freiräume im Subsistenzbereich, sondern hebe auch die Bedeutung von Beziehungs- und Anerkennungsverhältnissen hervor. Dass ein Großteil ehrenamtlicher Tätigkeiten und Sorgearbeiten unentgeltlich geleistet wird, kaschiere überdies die Bedeutung dieser Berufe für einen stabilen gesellschaftlichen Funktionszusammenhang. Gleiches hat sich während der Covid-19-Pandemie in Bezug auf die Care-Arbeit gezeigt, als Homeofficearbeit und Kinderbetreuung durch Eltern unter einen Hut zu bringen waren. Dass so gesehen der Typus eines unternehmerischen „digi-kompetenten“ (154) Selbst bereits in frühkindliche und schulische Arbeits- und Lernformen didaktisch integriert ist und politisch adressiert wird, verdeutlichen Agnieszka Czejkowska und Julia Seyss-Inquart und betonen zugleich die Flüchtigkeit neoliberaler Reformansätze, wenn die Rede von den neuen Arbeitsverhältnissen einem „Revival fordistischer Arbeitsteilung“ (164) im Homeoffice-Betrieb zumindest für den Moment schnell Platz gemacht hat.

Der dritte Abschnitt fragt nach den Konsequenzen von „Digitalisierung und Technisierung für das Verhältnis von Arbeit und Bildung“. Thomas Damberger skizziert zunächst Entwicklungen im Bereich von Big Data und Deep Learning und thematisiert hierüber neue Arbeitsformen des Crowdsourcing und Cloudworking. Der Informatiker und Softwareexperte Rainer Fischbach kritisiert als Vertreter dieser Branche, dass das in den Schulen erworbene Informatikwissen für das anschließende Studium „weitgehend wertlos“ (188) sei, da Studienanfänger:innen teilweise nicht die mathematische Reife mitbrächten, aber bereits mit eigenen informatischen Schulfächern der Robotik und künstlichen Intelligenz in Berührung gebracht werden sollen (188). Mit schärferem Ton fordern Alessandro Barberi und Christian Swertz dann eine Befreiung der Pädagogik von derartigen ökonomisch induzierten Reformstrategien und produzierenden Selbstverhältnissen, während Michael Janowitz aus der eigenen Organisationspraxis in der Jugendarbeit demonstriert, wie unter prekären Beschäftigungsverhältnissen kollegiale und gewerkschaftliche Perspektiven der Arbeitssicherung durch unternehmerische Denk- und Handlungserfordernisse amalgamiert werden und diese schließlich „mit Formen des Othering und der Selbst-Prekarisierung einhergehen“ (218).

Damit ist schließlich im vierten Abschnitt die Frage gestellt, wie die Rekonstruktion des subjektiven Eigen-Sinns des jeweiligen Arbeitsverhältnisses für Bildungsprozesse theoretisch und praktisch eingefangen werden kann. Während Beatrix Niemeyer und Sebastian Zick dieses Verhältnis im Kontext von Globalisierungsprozessen und politischen Mobilitätsstrategien besprechen, rekonstruiert Angelika Yaghmaei „Erfahrungen, Sichtweisen, Haltungen von neu zugewanderten Auszubildenden“ (246). Gerade im Kontrast dieser Beiträge wird das noch weitestgehend unausgeschöpfte Potential der Bildungstheorie für die Bedeutung sich wandelnder (prekärer) Arbeitsverhältnisse deutlich. Beides stärker zu vereinen, ist, Niemeyer folgend, der Erziehungswissenschaft als zukünftige Aufgabe gestellt.

Ergänzt wird das Jahrbuch durch weitere Buchrezensionen sowie einem kontroversen wie lesenswerten Jahresrückblick zur deutschen Schulsituation im Rahmen der Covid-19-Pandemie von David Salomon.

Das Jahrbuch bietet so insgesamt eine vielseitige Bestandsaufnahme zum Thema Bildung und Arbeit, ohne dass jedoch das im Titel angekündigte „Neue“ der Arbeitsverhältnisse und der Bildung klar in Erscheinung treten würde. Mit Blick auf die theoretischen Bildungs-Bezüge und konvergierenden Kritiklinien einer neoliberalen und sich selbst vermarktenden Bildungspolitik stehen die in diesem Band besprochenen Entwicklungen zu Beginn der neuen Zwanziger noch ganz im Sog und Kraftfeld der Krisenerscheinungen des vorangegangenen Jahrhunderts. Gewiss wird es weiterhin solcher Stimmen bedürfen, die unter dem Zeichen der Krise sichtbar werdende Veränderungen in Bildungs- und Arbeitsverhältnissen aufzeigen und ob ihrer politisch behaupteten Alternativlosigkeit befragen. Der vorliegende Band bietet dafür zahlreiche Anregungen, neue und alte Probleme aufzunehmen und weiterzudenken.
Eik Gädeke (Hamburg)
Zur Zitierweise der Rezension:
Eik Gädeke: Rezension von: Wischmann, Anke / Spieker, Susanne / Salomon, David / Springer, Jürgen-Matthias (Hg.): Jahrbuch für Pädagogik 2020: Neue Arbeitsverhältnisse – Neue Bildung. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2022. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996815.html