EWR 21 (2022), Nr. 3 (Juli)

Sebastian Engelmann
Lebensformen des Demokratischen
Pädagogische Impulse
Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021
(117 S.; ISBN 978-3-7799-6367-7; 19,95 EUR)
Lebensformen des Demokratischen Demokratiepädagogisches Denken und Handeln ist stets in gesellschaftspolitischen Kontexten verankert. Diese sind insbesondere in den letzten Jahren durch multiple, glokale Krisenhaftigkeit gekennzeichnet: Klimakrise, Wirtschaftskrise, Hungerkrisen im Jemen und der Demokratischen Republik Kongo, Ukrainekrieg usw. Die Folgen davon sind mannigfaltig: So führten bspw. überlebenswichtige Covid-19 Maßnahmen wie Distance Learning zu Vereinsamung und einem Abbau von gelebter Öffentlichkeit. Gleichzeitig entstanden neue Formen der politischen Organisation und des diskursiven Austausches insbesondere von Jugendlichen. Währenddessen wurde der öffentliche Diskurs von Spitzenpolitiker*innen (Jair Bolsonaro, Sebastian Kurz, Viktor Orban, Marine Le Pen etc.) geprägt, die demokratischen Institutionen offen anzweifelten und delegitimierten. Eingeflochten in diesen Zuständen wird es – so das Anliegen von Sebastian Engelmann – Aufgabe der Demokratiepädagogik, sich neu zu finden, ihr Selbstverständnis zu reflektieren und sich in den gegebenen gesellschaftspolitischen Herausforderungen neu zu orientieren. Diesem Auftrag folgend eröffnet Engelmann in seinem Text den Raum, um das Verhältnis von Pädagogik und Demokratie historisch zu betrachten und aus einer Perspektive radikaler Demokratietheorie neu zu reflektieren.

Dafür bereitet er zunächst im ersten Kapitel die seinem Text zugrundeliegenden zentralen Begriffe Pädagogik, Demokratie und Lebensform historisch auf (17). Pädagogik, die Engelmann als handelnde Praxis und wissenschaftliche Reflexion bestimmt, die stets eingebettet in gesellschaftliche Verhältnisse stattfindet, wird hierbei vorangestellt – auch, um das Selbstverständnis der Publikation als pädagogischer Text zu unterstreichen. Demokratie wird hier bereits stark in der Tradition radikaler Demokratietheorie als etwas Widersprüchliches bzw. Konflikthaftes (27) bestimmt, das nur im Plural existieren kann. Auch das Engagement identifiziert der Autor an dieser Stelle als zentralen Begriff der Demokratie, die immer erst durch Subjekte erzeugt werden kann.

Im zweiten Kapitel werden frühere demokratiepädagogische Ansätze und deren Einflüsse vorgestellt, miteinander kontrastiert und aus einer Perspektive radikaler Demokratietheorie reflektiert (46). Dazu zählen Georg Kerschbaumers Pädagogik rund um die Arbeiterschulen, die an sozialistischen Idealen orientierte Pädagogik Minna Spechts, die Zugänge Ernest Jouhys, der Demokratisierung durch Bildung als dialektischen Prozess beschreibt, Paulo Freires Pädagogik der Unterdrückten sowie die an Solidarität orientierte Perspektive bell hooks, die die Bedeutung von Klassenbewusstsein ins Zentrum ihrer pädagogischen Überlegungen stellt.

Im dritten Kapitel werden neuere Ansätze der radikalen Demokratietheorie im Kontext des pädagogischen Diskurses vorgestellt. Zunächst navigiert Engelmann durch aktuelle Begriffsbestimmungen, die sich in Diskussionen rund um Demokratiebildung, Politische Bildung, kritische Politische Bildung, Fachdidaktik der Sozialwissenschaften bzw. Demokratie-Lernen drehen, und deren scharfe Grenzziehungen untereinander trotz zahlreicher Definitionsdebatten ihm zufolge unbestimmbar bleiben. Zusammenfassend argumentiert er in Abgrenzung von u. a. Kenner und Lange [1] für den Begriff der Demokratiepädagogik (84) als übergeordneten Begriff, dem die zuvor genannten subsumiert werden können. Um dies zu tun, muss Demokratiepädagogik jedoch umfassend verstanden und mittels radikaler Demokratietheorie weiterentwickelt werden.

Darauffolgend führt Engelmann mit Ernesto Laclau und Chantal Mouffe Dissens und Konflikt als zentrale Begriffe der Demokratiepädagogik ein. Daraus leitet er Aufgaben einer demokratiepädagogischen Arbeit ab. Dazu zählt, für Konflikte zu sensibilisieren und sich von der Vorstellung eines demokratietheoretischen Modells zu lösen, das durch pädagogische Arbeit realisiert werden muss. Lernende sollen nicht in ein bestehendes System integriert werden, sondern sie müssen begreifen, dass Systeme offen sind und sie dennoch gleichzeitig von diesen abhängig sind. Machtverhältnisse müssen sichtbar und erklärbar gemacht werden. Es sollen Räume des Politischen geschaffen werden, in denen die Subjekte befähigt werden, widersprüchliche und plurale Interessen zu artikulieren. Demokratiepädagogik soll zuletzt nicht als fertiges Projekt, sondern prozesshaft und experimentell verstanden werden, wobei Demokratie niemals ein erreichtes Ziel sein kann und gleichzeitig als erstrebenswertes Ziel bestimmt werden muss. Innerhalb all dieser Spannungsfelder, die nicht gelöst werden sollen, kann emanzipatives Lernen ermöglicht werden. Um durch diese vielfältigen pädagogischen Herausforderungen zu navigieren, schlägt Engelmann eine Form der Heuristik vor, die es ermöglichen soll, Demokratiepädagogik weiterzudenken (95). Dafür identifiziert er folgende Annahmen: (1) Demokratiepädagogik kann als Reflexion individueller Transformation verstanden werden, (2) Demokratiepädagogik kann als pädagogische Reflexion sozialer Transformation verstanden werden, (3) Demokratiepädagogik kann als erziehungswissenschaftliches Forschungsprogramm verstanden werden.

Zuletzt rückt Engelmann Anti-Diskriminierung als demokratiepädagogischen Schwerpunkt in den Fokus. Insbesondere die Berücksichtigung globaler Machtverhältnisse sollen hierbei mitreflektiert und in lokale pädagogische Arbeit transportiert werden. Als Kritik an eurozentrischer Pädagogik soll Demokratiepädagogik hierbei auch die eigene Rolle in der Produktion globaler Machtverhältnisse reflektieren.

Insgesamt ist Engelmanns Text eine spannende Einführung in den Diskurs der Demokratiepädagogik aus einer Perspektive radikaler Demokratietheorie. Aufgrund aktueller gesellschaftspolitischer Herausforderungen ist es sinnvoll, pädagogisches Denken, Fühlen und Handeln neu auszurichten. Der Text „Lebensformen des Demokratischen“ eröffnet hierfür den diskursiven Raum, um einen ersten Schritt in diese Richtung zu gehen.

[1] Kenner, S. & Lange, D. (2020). Demokratiebildung. In S. Achour, M. Busch, C. Meyer-Heidemann & P. Massing (Hrsg.), Wörterbuch Politikunterricht (S. 48-51). Frankfurt/M.: Wochenschau.
Johanna Taufner (Wien)
Zur Zitierweise der Rezension:
Johanna Taufner: Rezension von: Engelmann, Sebastian: Lebensformen des Demokratischen, Pädagogische Impulse. Weinheim/Basel: Beltz Juventa 2021. In: EWR 21 (2022), Nr. 3 (Veröffentlicht am 26.07.2022), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996367.html