Eine Familie hat man nicht einfach, man muss sie âtunâ. Dass dieser Satz inzwischen zu einem geflĂŒgelten Wort in der deutschsprachigen Kindheits- und Familienforschung avanciert ist, ist der Verdienst der Arbeiten von K. Jurczyk und der MĂŒnchener Forschungsgruppe am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Seit Beginn der 2000er-Jahre speisten sie ein praxeologisches VerstĂ€ndnis von Familie in den nationalen Diskurs ein. Damit lenkten sie die Aufmerksamkeit auf die permanente Herstellungsleistung, der es in modernisierten Gesellschaften â so die programmatische Grundthese â zunehmend bedarf, damit das Zusammenleben als familiale Gemeinschaft gelingt. Dieser practical turn in den Familienwissenschaften bedeutete eine Abkehr von einem traditionalen, strukturalistischen Familienmodell. Dieses fuĂte auf genetischer Verwandtschaft und war v.a. mit einer ungleichen Rollen- und Aufgabenzuweisung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen der Eltern- und Kindergeneration verbunden und bot folglich wenig Spielraum fĂŒr die individuellen Subjekte hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung.
Vielfalt und VariabilitĂ€t von Familienformen stellten gegenĂŒber der Norm der bĂŒrgerlichen Kernfamilie demnach stets eine Anomalie dar. Empirisch lieĂ sich diese enge Auffassung spĂ€testens seit dem Ende der 1960er-Jahre nicht mehr einholen. Moderne Reproduktionstechnologien, der Abbau von Geschlechterdifferenzen etc. haben das Familienleben neu formatiert und den Blick auf die Kontingenz der Lebensform Familie freigelegt. Dies geht mit der Einsicht einher, dass die Akteurskonstellationen nicht universell bestimmbar sind und das offen ist, ob Familienbeziehungen eher von NĂ€he oder Distanz geprĂ€gt sind.
K. Jurczyk hat nun ein 451 seitenstarkes Werk herausgegeben, das diesem Umstand Rechnung tragen soll. Es handelt sich um keinen klassischen Sammelband: Mit den BeitrĂ€gen von Wissenschaftler:innen aus dem Umfeld des DJIs und externen Forscher:innen operiert er an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Praxis. Er schlieĂt zudem konzeptuell nicht nur an die Arbeit des DJI-Teams v.a. von 2014 an (Jurczyk/Lange/Thiessen 2014), sondern bildet auch eine Art Abschluss, insofern K. Jurczyk 2019 als Leiterin der Abteilung âFamilie und Familienpolitikâ abgelöst und nach 17-jĂ€hriger TĂ€tigkeit am DJI in den Ruhestand verabschiedet wurde.
Zum Aufbau des Bandes: Das Buch gliedert sich in fĂŒnf Kapitel. In Kap.1 wird einfĂŒhrend das heuristische Potenzial des Konzepts des Doing Family (im Folgenden kurz DF) bilanziert. Es diene dazu, âeinen realitĂ€tsangemessenen Blick auf die KomplexitĂ€t heutiger Familien in einer spĂ€tmodernen Gesellschaftâ (9) zu werfen und âdas ideologisch aufgeladene Konstrukt der traditionellen Normalfamilie zu âentzaubernââ (ebd.); gleichwohl wird die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Konzepts erlĂ€utert. Lag der Fokus bislang auf dem Gelingen der Herstellung von Gemeinsamkeit, sollen unter den Begriffen Undoing Family und Not Doing Family (im Folgenden kurz UdF und NDF) nun auch âbeschĂ€digende und distanzierende Praxen als Schattenseiten des und Gegenbewegungen zum Doing Familyâ (10) verstĂ€rkt Aufmerksamkeit erfahren. Ăberdies soll eine theoretische Ausdifferenzierung des praxeologischen Zugangs sowie eine Zentrierung auf Gender und Care erfolgen. Auch wird eine wichtige Erweiterung des familialen Akteursnetzwerkes vorgenommen.
Kap. 2 umfasst sechs konzeptionelle EinzelbeitrĂ€ge. Hervorzuheben ist der Beitrag von A. Lange (78 ff.), der sich mit zwei zentralen Referenztheorien, den Praxistheorien und den Theorien der LebensfĂŒhrung, befasst. Er zeigt, dass das Potenzial ihrer Synthese darin liegt, dass sowohl die soziale Praxis von Familien im Hinblick auf die verteilte Akteurschaft, Nicht-IntentionalitĂ€t und FragilitĂ€t etc. als auch die StabilitĂ€t der Muster familialer LebensfĂŒhrung eingefangen werden können. Die weiteren drei Kapitel folgen dem Ziel, âneues empirisches Wissen und neue themenspezifische Ăberlegungen ĂŒber das Doing und Undoing Family zur Diskussion zur stellenâ (15). So stehen in Kap. 3 â[f]amiliale Akteure und Netzwerkeâ (170 ff.) im Mittelpunkt, wĂ€hrend in Kap. 4 die Perspektive auf das âZusammenwirken von individuellem, institutionellem und diskursivem Doing Familyâ (311 ff.) erweitert wird. Die insgesamt zehn BeitrĂ€ge bieten eine Mischung aus Literaturberichten, die die Notwendigkeit weiterer Forschungen herausstellen und empirischen BeitrĂ€gen, die mit dem UdF-Ansatz arbeiten. Kap. 5 liegt quer, hier folgt ein Beitrag mit methodologischen Reflexionen zur âOperationalisierung des qualitativen Konzepts der familialen LebensfĂŒhrung in der quantitativen Erhebung AID:Aâ (376 ff.).
Im Folgenden werden aus PlatzgrĂŒnden drei BeitrĂ€ge herausgegriffen, die den im konzeptuellen Teil dargelegten analytischen Wert der Erweiterungen differenziert veranschaulichen.
L. Castiglioni widmet sich in ihrem literaturbasierten Beitrag âYoung Carer: Wer pflegt wen? Familie als anpassungsfĂ€hige Care-Ressourceâ (70 ff.) der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in ihren Familien aufgrund von schwerwiegenden Erkrankungen oder Behinderungen eines Elternteils Careaufgaben ĂŒbernehmen. In ihrer Diskussion des (inter)nationalen Forschungsstandes kann sie aufzeigen, dass die Perspektive der Kinder bislang nicht ausreichend differenziert berĂŒcksichtigt worden ist: âDas BedĂŒrfnis der Kinder, sich moralisch und solidarisch zu verhalten, bleibt in dem erwachsenenzentrierten Ansatz der Young Carer Forschung völlig unbeachtetâ (191). Vielmehr gerĂ€t das binnenfamiliale Engagement der Kinder in einen normativen Konflikt mit den Vorstellungen einer âguten Kindheitâ, die mit dem Versprechen einer Entlastung von Sorgeverantwortung verbunden sind. Die erkenntnistheoretische Erweiterung mithilfe des DF-Konzepts, dies legt die Autorin ĂŒberzeugend dar, könnte in zukĂŒnftigen Forschungsarbeiten, den Selbstdeutungen der Kinder mehr Gewicht verleihen und die eigene praktische Logik des familialen Carearrangements differenzierter zur Geltung bringen.
Im Zentrum des Textes von M. S. Rerrich, K. Roller und S. Schmitt (274 ff.) steht die Versorgung hochaltriger Menschen in ihrem Privathaushalt durch sogenannte migrantische Haushaltsarbeiterinnen. Hier eröffnet sich ein spannungsreiches Feld, insofern diese Sorgearbeit normativ als ââFamilienaufgabeââ (293) gilt. Anhand von zwei kontrastierenden Fallbeispielen aus einer qualitativen Interviewstudie wird detailliert rekonstruiert, dass es im Sinne des DF sowohl zu einer Familialisierung der PflegekrĂ€fte als ââschon fast Familienmitgliederââ (290) kommen kann, dass aber genauso Grenzziehungen im Sinne des UdF eine Rolle spielen, indem z.B. die Teilnahme an Familienritualen wie Weihnachten verweigert wird. Ebenso relevant wird das NDF. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass die Hausarbeiterin primĂ€r als Arbeitskraft adressiert und an sie die Erwartung formuliert wird, eigene familiale Belange hintenanzustellen.
M. SchĂ€fer greift in seinem empirischen Beitrag âDoing, Undoing und Not Doing Family â Zur Deutungs- und Bezeichnungspraxis im Alltag familienanaloger Formen der Hilfen zur Erziehungâ (311 ff.) auf ethnografisches Material zurĂŒck. In einem Fallbeispiel rekonstruiert er ein aktives DF: Die fremduntergebrachten Kinder dĂŒrfen die pĂ€dagogischen FachkrĂ€fte als âMamaâ und âPapaâ bezeichnen und auch die Herkunftseltern werden als relevante Andere sprachlich-performativ integriert. Das Umkippen des DF in ein UdF wird in einem zweiten Fall beschrieben: Die Professionellen lassen ihren Elternstatus vorrĂŒbergehend ruhen und gebrauchen diese Praxis als Sanktionsmittel: Als ein Konflikt mit dem aufgenommenen Kind auftritt, insistieren sie, nicht (mehr) als Mama und Papa, sondern als âBerthold und Manuelaâ angesprochen zu werden. In einem weiteren Fall lĂ€sst sich ein klares NDF rekonstruieren: Die FachkrĂ€fte fordern die in ihrer Obhut lebenden Jugendlichen dazu auf, sie als âHerr und Frau Schmidtâ (334) anzusprechen. Ersichtlich wird, dass sie âkeine symbolische (Re)Inszenierung von Familie oder Elternschaft anstrebenâ (336). Der Beitrag schlieĂt mit einem wichtigen methodologischen PlĂ€doyer fĂŒr âeine familiensensibilisierte, letztlich aber phĂ€nomenoffene qualitative Sozialforschungâ (340), die nicht immer schon voraussetzt, was sie zu untersuchen vorgibt.
Am Beispiel dieser BeitrĂ€ge wird der Ertrag des âneuenâ soziologischen Weitwinkels ersichtlich: Kinder treten in umgekehrten SorgeverhĂ€ltnissen als nicht nur einseitig vulnerable, sondern auch als fĂ€hige Akteure in Erscheinung, die professionelle Sorge um die GroĂelterngeneration wird als ein komplexes (De)-Familialisierungsgeschehen rekonstruierbar und PhĂ€nomene der (partiellen) Auflösung von âFamilieâ können als immanente Bestandteile der familialen Ordnung erfasst werden. Zugleich greifen nicht alle BeitrĂ€gen die drei unterschiedlichen Modi in GĂ€nze auf und die Ăbersichten zum Forschungsstand und zu Desiderata lassen eine empirische SĂ€ttigung vermissen. Diese Diagnose ĂŒberrascht angesichts der ersten systematischen Publikation zur Weiterentwicklung des Konzepts nicht. Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass die Autor:innen sowohl profunde praxis-und lebensfĂŒhrungstheoretische PrĂ€zisierungen vornehmen als auch soziologisch vertraute Gefilde ausleuchten.
Der Charme dieses Bandes liegt v.a. darin, dass er nicht beansprucht, alle losen FĂ€den zu verknoten und in groĂer Geste abschlieĂende Bilanz zu ziehen. Er bietet einen differenzierten, anregenden Werkzeugkasten, bei dem Eklektizismus v.a. im Hinblick auf die zeitdiagnostische Komponente ausdrĂŒcklich gestattet ist (28). Zugleich liefert er auch eine Matrize fĂŒr diverse kĂŒnftige Forschungen.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Doing und Undoing Family
Konzeptionelle und empirische Entwicklungen
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2020
(451 S.; ISBN 978-3-7799-6291-5; 29,95 EUR)
Kaja Kesselhut (OsnabrĂŒck)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kaja Kesselhut: Rezension von: Jurczyk, Karin (Hg.): Doing und Undoing Family, Konzeptionelle und empirische Entwicklungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996291.html
Kaja Kesselhut: Rezension von: Jurczyk, Karin (Hg.): Doing und Undoing Family, Konzeptionelle und empirische Entwicklungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996291.html