EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)

Karin Jurczyk (Hrsg.)
Doing und Undoing Family
Konzeptionelle und empirische Entwicklungen
Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2020
(451 S.; ISBN 978-3-7799-6291-5; 29,95 EUR)
Doing und Undoing Family Eine Familie hat man nicht einfach, man muss sie ‚tun‘. Dass dieser Satz inzwischen zu einem geflügelten Wort in der deutschsprachigen Kindheits- und Familienforschung avanciert ist, ist der Verdienst der Arbeiten von K. Jurczyk und der Münchener Forschungsgruppe am Deutschen Jugendinstitut (DJI). Seit Beginn der 2000er-Jahre speisten sie ein praxeologisches Verständnis von Familie in den nationalen Diskurs ein. Damit lenkten sie die Aufmerksamkeit auf die permanente Herstellungsleistung, der es in modernisierten Gesellschaften – so die programmatische Grundthese – zunehmend bedarf, damit das Zusammenleben als familiale Gemeinschaft gelingt. Dieser practical turn in den Familienwissenschaften bedeutete eine Abkehr von einem traditionalen, strukturalistischen Familienmodell. Dieses fußte auf genetischer Verwandtschaft und war v.a. mit einer ungleichen Rollen- und Aufgabenzuweisung zwischen den Geschlechtern sowie zwischen der Eltern- und Kindergeneration verbunden und bot folglich wenig Spielraum für die individuellen Subjekte hinsichtlich ihrer Lebensgestaltung.

Vielfalt und Variabilität von Familienformen stellten gegenüber der Norm der bürgerlichen Kernfamilie demnach stets eine Anomalie dar. Empirisch ließ sich diese enge Auffassung spätestens seit dem Ende der 1960er-Jahre nicht mehr einholen. Moderne Reproduktionstechnologien, der Abbau von Geschlechterdifferenzen etc. haben das Familienleben neu formatiert und den Blick auf die Kontingenz der Lebensform Familie freigelegt. Dies geht mit der Einsicht einher, dass die Akteurskonstellationen nicht universell bestimmbar sind und das offen ist, ob Familienbeziehungen eher von Nähe oder Distanz geprägt sind.
K. Jurczyk hat nun ein 451 seitenstarkes Werk herausgegeben, das diesem Umstand Rechnung tragen soll. Es handelt sich um keinen klassischen Sammelband: Mit den Beiträgen von Wissenschaftler:innen aus dem Umfeld des DJIs und externen Forscher:innen operiert er an der Schnittstelle von Wissenschaft, Politik und Praxis. Er schließt zudem konzeptuell nicht nur an die Arbeit des DJI-Teams v.a. von 2014 an (Jurczyk/Lange/Thiessen 2014), sondern bildet auch eine Art Abschluss, insofern K. Jurczyk 2019 als Leiterin der Abteilung „Familie und Familienpolitik“ abgelöst und nach 17-jähriger Tätigkeit am DJI in den Ruhestand verabschiedet wurde.

Zum Aufbau des Bandes: Das Buch gliedert sich in fünf Kapitel. In Kap.1 wird einführend das heuristische Potenzial des Konzepts des Doing Family (im Folgenden kurz DF) bilanziert. Es diene dazu, „einen realitätsangemessenen Blick auf die Komplexität heutiger Familien in einer spätmodernen Gesellschaft“ (9) zu werfen und „das ideologisch aufgeladene Konstrukt der traditionellen Normalfamilie zu ‚entzaubern‘“ (ebd.); gleichwohl wird die Notwendigkeit einer Weiterentwicklung des Konzepts erläutert. Lag der Fokus bislang auf dem Gelingen der Herstellung von Gemeinsamkeit, sollen unter den Begriffen Undoing Family und Not Doing Family (im Folgenden kurz UdF und NDF) nun auch „beschädigende und distanzierende Praxen als Schattenseiten des und Gegenbewegungen zum Doing Family“ (10) verstärkt Aufmerksamkeit erfahren. Überdies soll eine theoretische Ausdifferenzierung des praxeologischen Zugangs sowie eine Zentrierung auf Gender und Care erfolgen. Auch wird eine wichtige Erweiterung des familialen Akteursnetzwerkes vorgenommen.

Kap. 2 umfasst sechs konzeptionelle Einzelbeiträge. Hervorzuheben ist der Beitrag von A. Lange (78 ff.), der sich mit zwei zentralen Referenztheorien, den Praxistheorien und den Theorien der Lebensführung, befasst. Er zeigt, dass das Potenzial ihrer Synthese darin liegt, dass sowohl die soziale Praxis von Familien im Hinblick auf die verteilte Akteurschaft, Nicht-Intentionalität und Fragilität etc. als auch die Stabilität der Muster familialer Lebensführung eingefangen werden können. Die weiteren drei Kapitel folgen dem Ziel, „neues empirisches Wissen und neue themenspezifische Überlegungen über das Doing und Undoing Family zur Diskussion zur stellen“ (15). So stehen in Kap. 3 „[f]amiliale Akteure und Netzwerke“ (170 ff.) im Mittelpunkt, während in Kap. 4 die Perspektive auf das „Zusammenwirken von individuellem, institutionellem und diskursivem Doing Family“ (311 ff.) erweitert wird. Die insgesamt zehn Beiträge bieten eine Mischung aus Literaturberichten, die die Notwendigkeit weiterer Forschungen herausstellen und empirischen Beiträgen, die mit dem UdF-Ansatz arbeiten. Kap. 5 liegt quer, hier folgt ein Beitrag mit methodologischen Reflexionen zur „Operationalisierung des qualitativen Konzepts der familialen Lebensführung in der quantitativen Erhebung AID:A“ (376 ff.).

Im Folgenden werden aus Platzgründen drei Beiträge herausgegriffen, die den im konzeptuellen Teil dargelegten analytischen Wert der Erweiterungen differenziert veranschaulichen.
L. Castiglioni widmet sich in ihrem literaturbasierten Beitrag „Young Carer: Wer pflegt wen? Familie als anpassungsfähige Care-Ressource“ (70 ff.) der Situation von Kindern und Jugendlichen, die in ihren Familien aufgrund von schwerwiegenden Erkrankungen oder Behinderungen eines Elternteils Careaufgaben übernehmen. In ihrer Diskussion des (inter)nationalen Forschungsstandes kann sie aufzeigen, dass die Perspektive der Kinder bislang nicht ausreichend differenziert berücksichtigt worden ist: „Das Bedürfnis der Kinder, sich moralisch und solidarisch zu verhalten, bleibt in dem erwachsenenzentrierten Ansatz der Young Carer Forschung völlig unbeachtet“ (191). Vielmehr gerät das binnenfamiliale Engagement der Kinder in einen normativen Konflikt mit den Vorstellungen einer ‚guten Kindheit‘, die mit dem Versprechen einer Entlastung von Sorgeverantwortung verbunden sind. Die erkenntnistheoretische Erweiterung mithilfe des DF-Konzepts, dies legt die Autorin überzeugend dar, könnte in zukünftigen Forschungsarbeiten, den Selbstdeutungen der Kinder mehr Gewicht verleihen und die eigene praktische Logik des familialen Carearrangements differenzierter zur Geltung bringen.

Im Zentrum des Textes von M. S. Rerrich, K. Roller und S. Schmitt (274 ff.) steht die Versorgung hochaltriger Menschen in ihrem Privathaushalt durch sogenannte migrantische Haushaltsarbeiterinnen. Hier eröffnet sich ein spannungsreiches Feld, insofern diese Sorgearbeit normativ als „‘Familienaufgabe‘“ (293) gilt. Anhand von zwei kontrastierenden Fallbeispielen aus einer qualitativen Interviewstudie wird detailliert rekonstruiert, dass es im Sinne des DF sowohl zu einer Familialisierung der Pflegekräfte als „‘schon fast Familienmitglieder‘“ (290) kommen kann, dass aber genauso Grenzziehungen im Sinne des UdF eine Rolle spielen, indem z.B. die Teilnahme an Familienritualen wie Weihnachten verweigert wird. Ebenso relevant wird das NDF. Dies findet seinen Ausdruck darin, dass die Hausarbeiterin primär als Arbeitskraft adressiert und an sie die Erwartung formuliert wird, eigene familiale Belange hintenanzustellen.

M. Schäfer greift in seinem empirischen Beitrag „Doing, Undoing und Not Doing Family – Zur Deutungs- und Bezeichnungspraxis im Alltag familienanaloger Formen der Hilfen zur Erziehung“ (311 ff.) auf ethnografisches Material zurück. In einem Fallbeispiel rekonstruiert er ein aktives DF: Die fremduntergebrachten Kinder dürfen die pädagogischen Fachkräfte als „Mama“ und „Papa“ bezeichnen und auch die Herkunftseltern werden als relevante Andere sprachlich-performativ integriert. Das Umkippen des DF in ein UdF wird in einem zweiten Fall beschrieben: Die Professionellen lassen ihren Elternstatus vorrübergehend ruhen und gebrauchen diese Praxis als Sanktionsmittel: Als ein Konflikt mit dem aufgenommenen Kind auftritt, insistieren sie, nicht (mehr) als Mama und Papa, sondern als ‚Berthold und Manuela‘ angesprochen zu werden. In einem weiteren Fall lässt sich ein klares NDF rekonstruieren: Die Fachkräfte fordern die in ihrer Obhut lebenden Jugendlichen dazu auf, sie als „Herr und Frau Schmidt“ (334) anzusprechen. Ersichtlich wird, dass sie „keine symbolische (Re)Inszenierung von Familie oder Elternschaft anstreben“ (336). Der Beitrag schließt mit einem wichtigen methodologischen Plädoyer für „eine familiensensibilisierte, letztlich aber phänomenoffene qualitative Sozialforschung“ (340), die nicht immer schon voraussetzt, was sie zu untersuchen vorgibt.

Am Beispiel dieser Beiträge wird der Ertrag des ‚neuen‘ soziologischen Weitwinkels ersichtlich: Kinder treten in umgekehrten Sorgeverhältnissen als nicht nur einseitig vulnerable, sondern auch als fähige Akteure in Erscheinung, die professionelle Sorge um die Großelterngeneration wird als ein komplexes (De)-Familialisierungsgeschehen rekonstruierbar und Phänomene der (partiellen) Auflösung von ‚Familie‘ können als immanente Bestandteile der familialen Ordnung erfasst werden. Zugleich greifen nicht alle Beiträgen die drei unterschiedlichen Modi in Gänze auf und die Übersichten zum Forschungsstand und zu Desiderata lassen eine empirische Sättigung vermissen. Diese Diagnose überrascht angesichts der ersten systematischen Publikation zur Weiterentwicklung des Konzepts nicht. Letzteres zeichnet sich dadurch aus, dass die Autor:innen sowohl profunde praxis-und lebensführungstheoretische Präzisierungen vornehmen als auch soziologisch vertraute Gefilde ausleuchten.

Der Charme dieses Bandes liegt v.a. darin, dass er nicht beansprucht, alle losen Fäden zu verknoten und in großer Geste abschließende Bilanz zu ziehen. Er bietet einen differenzierten, anregenden Werkzeugkasten, bei dem Eklektizismus v.a. im Hinblick auf die zeitdiagnostische Komponente ausdrücklich gestattet ist (28). Zugleich liefert er auch eine Matrize für diverse künftige Forschungen.
Kaja Kesselhut (Osnabrück)
Zur Zitierweise der Rezension:
Kaja Kesselhut: Rezension von: Jurczyk, Karin (Hg.): Doing und Undoing Family, Konzeptionelle und empirische Entwicklungen. Weinheim und Basel: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996291.html