Vorweg: Dieses Buch, wie die Formulierung des Titels vielleicht schon andeutet, bewegt sich an der Grenze zwischen wissenschaftlicher und belletristischer Literatur. Das macht es in vielerlei Hinsicht besonders.
Es ist sprachlich so geschrieben, dass man es eigentlich nicht mehr aus der Hand legen möchte und es verknüpft dabei eine soziohistorische, nationale Perspektive auf Deutschland im Zeitraum von etwa 100 Jahren mit einer parallelen individuellen Lebensgeschichte einer weitgehend hospitalisierten Frau. Dies führt z.T. auch zu etwas gröberen Darstellungen und zeithistorischen Einordnungen (z.T. auch ironischer Natur), wie z.B. „Der erste ARD-Tatort lief im Fernsehen und die arabischen Staaten entdeckten, dass sie mit ihrem Öl eine politische Waffe in der Hand hielten“ (S. 141). Andererseits ist diese Darstellung auch mit unzähligen Details gespickt: Aus der Wochenzeitschrift DIE ZEIT 1958 wird z.B. zitiert, dass man die Tanzwut angesichts eines Konzerts von Bill Haley mit „Prügel und Güsse mit kaltem Wasser“ zu behandeln habe (S. 118) oder mit Verweis auf die Gründer der Kommune 1 in Berlin erfährt man, dass es sich „um ein mediales Kaspertheater“ gehandelt habe, „deren damalige Protagonisten heute im Dschungelcamp ihren letzten Rest Würde verkaufen.“ (S. 131).
Darüber hinaus ist es aus einer persönlichen Perspektive eines Professionellen in der Behindertenhilfe geschrieben, in der Heinz Becker eingangs drastisch veranschaulichend deutlich macht, was den Enthospitalisierungsprozess im Bereich der Einrichtungen für behinderte Menschen und psychisch Kranke zwingend notwendig gemacht hat.
Und weiterhin ist das Buch gespickt mit lesenswerten Zitaten aus einer großen Anzahl zentraler soziologischer (Goffman, Kronauer), philosophischer (Adorno, Arendt), historischer (Sierck, Klee, Aly), psychologischer (Spitz, Bowlby, Trevarthen, Sacks) und psychiatriegeschichtlicher (Dörner) Arbeiten, die kenntnisreich die Position des Autors illustrieren und zum Weiterlesen anregen. Zudem verfügt der Autor über umfassende Kenntnisse über die Emanzipationsbewegung behinderter Menschen im Allgemeinen und die Theoriebildung des Bremer Instituts für Behindertenpädagogik unter der Leitung von Georg Feuser und Wolfgang Jantzen im Besonderen, was textlich immer wieder durchscheint.
Heinz Becker ordnet seinen Ansatz insgesamt als ‚Romantische Wissenschaft‘ ein, die „aus Krankengeschichten Lebensgeschichten“ macht (S. 15). Damit werde weder „Gefühlsduselei“ angestrebt, noch „rührende Geschichten über die Ausgeschlossenen“ erzählt, sondern: „Es ist eine Wissenschaft vom Konkreten, die nicht vergisst, dass Behinderung immer auch ein Prozess der Aussonderung und Stigmatisierung bedeutet.“ (Ebd.) Denn in der Regel werden Menschen mit Behinderungen oder chronischen psychischen Krankheiten nur noch als Symptomträger gesehen, v.a. wenn sie über lange Jahre durch Isolationserfahrungen geprägt sind. Diesen Zusammenhang möchte der Autor am Fall von Paula Kleine aufklären und bemüht sich hier, trotz knapper Quellenlage (wenige, kurze Interviews mit Frau Kleine und dem Fachpersonal aus dem Umkreis von ihr), um eine Verstehensperspektive, die Wolfgang Jantzen als „Rehistorisierung“ bezeichnet hat.
Zum Inhalt: Das Buch folgt der Chronologie des Lebensverlaufs von Paula Kleine (1928-2014) und beginnt mit der Epoche nach dem 1. Weltkrieg und dessen sozialen (Folge-)Problemen in der Weimarer Republik. Paula Kleine wird in prekäre Verhältnisse hineingeboren (Arbeitslosigkeit und Alkoholkrankheit des Vaters, Eltern offenbar später geschieden und kinderreich) – wer sich in der Geschichte der Hilfsschule auskennt weiß, dass es von hier bis zur Diagnose „Schwachsinn“ nicht weit ist. So auch bei Paula, die bereits im Alter von 2 Jahren in eine Bremer „Erziehungs- und Pflegeanstalt“ kommt. Diesen Lebensanfang bettet der Autor in die rassistischen und sozialdarwinistischen Prägungen der zeitgenössischen Wissenschaften und Institutionen ein. Für Paula beginnt hier eine Anstaltskarriere, die sie nur knapp überlebt und in der sie die sozialisatorische Erfahrung macht, dass ihre prägenden Mitmenschen machtvolle und vielfach auch gewaltbereite Ärzte, Psychiater und Pfleger:innen auf der einen sowie machtlose Patient:innen auf der anderen Seite sind, denen sie weitgehend ausgeliefert ist. Ihre erfolgreiche Überlebensstrategie, angesichts von drohenden Deportationen und Hungerkost, ist demgegenüber friedlich, hilfsbereit und arbeitsam zu sein, was ihr im NS-Staat nicht nur das Leben rettet, sondern sie bis zu ihrem Lebensende prägt. Sie gehört schließlich zu den nur 18 Überlebenden von 120 Personen ihrer Einrichtung, aus der sie später verlegt wird. Dazu tragen auch einige Anstaltspfleger:innen und ein -leiter bei, was Heinz Becker auch als eventuell resilienzfördernd einordnet. Paula Kleine überlebt und findet sich nach der Zeit des Nationalsozialismus im Anstaltsalltag der 1950er und 60er Jahre wieder, der sich kaum von den vorhergehenden Epochen unterscheidet: Unterbringung in Massenschlafsälen mit keinerlei Beschäftigungen, geringem, unqualifizierten Personal – umstandlos mit dem Goffmanschen Begriff der Totalen Institution beschreibbar. Paula Kleine wird weiterhin als „anstaltsbedürftig“ deklariert (S. 139). 1979 wird sie nach Bremen in das Kloster Blankenburg verlegt. Hier verbleibt sie bis 1988, bis zu ihrem 61. Lebensjahr. Kurz vor ihrem Auszug in eine betreute Wohngemeinschaft wohnt sie dort zum ersten Mal in ihrem Leben in einem eigenen Zimmer. Schließlich sorgten parallel die Studenten-, die Anti-Psychiatrie- und die Krüppelbewegung im Fahrwasser internationaler Aktivismen für eine Reform des Behindertenbetreuungswesens. Dies bringt für Paula Kleine ganz neue Lebenserfahrungen mit sich: Malerei, Schwimmen, Theater- und Filmschauspiel – größtenteils im Bremer Blaumeier-Atelier, das 1986 gegründet wurde. Damit erlangt sie auch eine gewisse Berühmtheit, u.a. durch die Fast-Faust-Produktion und den Film „Verrückt nach Paris“. Dies alles mündet schließlich auch in das Zeitalter der UN-Behindertenrechtskonvention ein, die v.a. auch auf die menschenrechtlichen Dimensionen eines „Sense of Dignity“ und eines „Sense of Belonging“ verwiesen habe (S. 284).
Trotz dieser umfangreichen Verflechtung einer Einzelbiographie mit den gesellschaftlichen Verwerfungen gegenüber Menschen mit Behinderungen in den vergangen 100 Jahren ist es zuletzt vielleicht dennoch unmöglich, nachzuvollziehen, wie es ist „ein solches Leben führen zu müssen“ (S. 293) – dies mag auch daran liegen, dass es von Paula Kleine nur wenige Einblicke in ihr eigenes Erleben gibt, aber es bleibt Heinz Beckers großes Verdienst, eine solche Perspektive versucht zu haben. Denn diese hervorragende Einordnung von Einzelbiographie in die historische Entwicklung des deutschen Behindertenbetreuungswesens ist durchweg gelungen, auch gerade, weil die vielen Details der Beschreibung historischer Ereignisse und Kontexte dieses unglaubliche (Über-)Leben anschaulich, verstehbar und lebendig machen. Und deutlich wird auch, dass Wissenschaftsentwicklung untrennbar mit gesellschaftlicher Entwicklung verbunden ist, wobei das sozialdarwinistische Denken gegenüber behinderten Menschen bis in die 1980er Jahre personell und ideologisch überdauern konnte. Dieses Buch ist allen als Pflichtlektüre zu empfehlen, die sich mit der Geschichte von Behinderungen, ihren ideologischen und institutionellen Verankerungen und deren Wirkungen auf das einzelne Leben befassen möchten. Dazu gehören alle Studierenden des Faches Behinderten-/Sonder-/Heil-/Rehabilitations-/Förder- und Inklusionspädagogik.
Kritisch ist lediglich der etwas pauschal geratene Blick auf die Sonderpädagogik zu beurteilen: Hier folgt der Autor der Propaganda Hänsels, dass die Sonderpädagogik der 1920er bis 50er Jahre v.a. durch den NS-Hilfsschulfunktionär Tornow umfassend vertreten sei (S. 74). Zudem ordnet er unrichtigerweise eine erste Internationalisierung des Faches erst nach dem 2. Weltkrieg ein, und vermutet, dass die Schriften der Schweizer Hanselmann und Moor hier zur Reform des Faches beigetragen hätten (S. 146) – ausgerechnet Hanselmann (dessen Professur sein Schüler Moor übernimmt) hatte sich während der NS-Zeit ausdrücklich für Sterilisationen behinderter Menschen ausgesprochen und sein terminologischer Vorschlag, Behinderung als Entwicklungshemmung zu beschreiben, taucht explizit im Reichschulpflichtgesetz von 1938 auf. – Auch die Bremer Legendenbildung, die Materialistische Behindertenpädagogik sei v.a. angefeindet worden, ist in der Sache falsch (S. 147). Diese Stellen sollten für eine Neuauflage dieses ansonsten sehr empfehlenswerten Buches korrigiert werden, denn eine Neuauflage wird hoffentlich bald erforderlich sein.
EWR 20 (2021), Nr. 4 (Juli/August)
Die große Welt und die kleine Paula
Eine Geschichte der Behinderung
Weinheim: Beltz Juventa 2020
(327 S.; ISBN 978-3-7799-6274-8; 29,95 EUR)
Vera Moser (Frankfurt)
Zur Zitierweise der Rezension:
Vera Moser: Rezension von: Becker, Heinz: Die große Welt und die kleine Paula, Eine Geschichte der Behinderung. Weinheim: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996274.html
Vera Moser: Rezension von: Becker, Heinz: Die große Welt und die kleine Paula, Eine Geschichte der Behinderung. Weinheim: Beltz Juventa 2020. In: EWR 20 (2021), Nr. 4 (Veröffentlicht am 01.09.2021), URL: http://klinkhardt.de/ewr/978377996274.html